Montag, 25. Juni 2012

Ein Kinderspiel

Die Grandezza des Elfmeterschießens besteht darin, den spielerischen Vorteil, den man vielleicht über 120 Minuten lang gehabt hat, mit in diese Zitterpartie zu nehmen und mit Mut und Anstand den Fußballgott milde zu stimmen. Italien hat das gestern in einem packenden Viertelfinale gegen England geschafft. So eine italienische Mannschaft habe ich überhaupt noch nie gesehen, denn sie war über weite Strecken offensivbegeistert, spielerisch einfallsreich und es gab kein ständiges Fallenlassen und Diskutieren. Irgendetwas stimmt da nicht – das sind nicht die Italiener, die ich in den letzten Jahren so verschmähen gelernt habe, jene Italiener, die dem unattraktiven Defensivfußball mit dem Weltmeistertitel 2006 die Krone aufgesetzt haben, und die letztlich dafür verantwortlich waren, dass Spaniens bzw. Barcelonas Offensivspiel von Fußballfans als Erlösung von allem Bösen gefeiert wurde. Griechenland 2004 und Italien 2006: Das waren ganz düstere Gespenster der jüngeren internationalen Fußballvergangenheit. Was machten wir Augen, als wir die Teams von Spanien, Holland und Russland 2008 bewundern durften, und wie sich das deutsche Team konsequent von einer Klotztruppe zu einer technisch wie taktisch höchst attraktiv aufspielenden Mannschaft entwickelt hat!

Und jetzt, sechs Jahre nach Italiens WM-Titel, sind wir des Tikitakas müde geworden, wurden von Holländern enttäuscht und warten noch immer auf den großen Titel für Deutschland; und plötzlich kommen da gänzlich erneute Italiener daher, die zwar immer noch über den einen oder anderen Unsympathler verfügen, die aber insgesamt gemäßigter, erträglicher, man möchte fast sagen: ein bisschen professioneller geworden sind. Italien bewegt sich zwischen der Ruhe eines Pirlos und dem Ungehorsam eines Balotelli – so waren auch beide gestern in der Partie gegen England vielleicht die besten Männer auf dem Platz. Der eine verteilte Zuckerpässe, der andere vergab spektakuläre Chancen – insgesamt wahrscheinlich alleine mehr als das ganze englische Team. Das war nicht nur spannend, sondern eben auch über weite Strecken schön anzusehen (trotz des ersten 0:0). Man möchte meinen, dass es sich dabei um eine selten gewordene Kombination handelt. Dass Italien daran den Hauptanteil hatte, das kann ich 24 Stunden danach noch immer nicht wirklich glauben!

Englands Team hat sich nach ca. einer halben Stunde aus dem Spiel zurückgezogen und spielte fortan so, wie Italien es immer getan hatte: extrem passiv, klug aber langweilig, destruktiv und eigentlich unsympathisch. Ironischerweise hatte man spätestens gegen Ende der zweiten Halbzeit das Gefühl, dass diese Engländer auf ein Elfmeterschießen aus waren – als hätte es all die Elfmeterschießen der jüngeren und älteren Vergangenheit nicht gegeben! Vielleicht war die englische Fußballseele von dem Vertrauen besetzt, dass man es diesmal schaffen, dass man irgendwann den Bann brechen würde und dass das ausgerechnet an diesem Tag passieren müsste. Darin haben sich die Engländer aber gründlich getäuscht.

Vielleicht täuschen sich auch die Deutschen, denn die argumentieren und rationalisieren momentan ganz ähnlich. Natürlich stehe man dem Angstgegner Italien gegenüber, aber diesmal werde man die Italiener besiegen, denn jede Negativserie müsse ein Ende haben und wann, wenn nicht jetzt, wenn nicht mit dieser Mannschaft, mit welcher dann? So klingt es aus bundesdeutschen Radiostationen voller Zuversicht. Und man freut sich auf dieses Spiel – ganz ehrlich! Ich glaube es den Deutschen auch. Es hätte im Halbfinale kein unangenehmerer, aber auch kein attraktiverer Gegner als Italien warten können. Dass aber Italien so unangenehm und so attraktiv gleichzeitig sein kann, das hat sich erst im gestrigen Spiel offenbart – auch, wenn man es vorher schon vermuten konnte. Das Spiel am Donnerstag hat bestes Potenzial, das spannendste und emotionalste internationale Bewerbsspiel seit langem zu werden. Oder aber es wird hässlich und eines von beiden Teams (im schlimmsten Fall alle beide) zeigt seine grausigste Fratze – dann wissen wir wenigstens, zu wem wir im Finale halten sollen!

Das schönste Gesicht hat aber momentan Italien und der Geist des italienischen Fußballs kulminiert in Andrea Pirlos Elfmeter: Der im Stil von Antonin Panenka in die Mitte geschupfte Ball steht für Wagemut, Lässigkeit, Intelligenz und das nötige Maß an Arroganz, das ein guter Fußballer einfach braucht. In gewisser Weise hat so ein Schuss natürlich auch viel mit Humor zu tun (weil hier einer, auf gut österreichisch gesagt, mit jemandem Schmäh führt) und ein Treffer wie dieser ist der beste Beweis dafür, dass Elfmeter immer nur im Kopf geschossen werden. Da passte es gut, dass Pirlos Lässigkeit auf Joe Harts gespielte Vergnügtheit traf. Dieser hatte noch vor dem Spiel verlautbart, dass er sich auf ein Elfmeterschießen freue. Dementsprechend blöd grinsend stand er dann auch im Tor, streckte den Schützen die Zunge entgegen. Montolivo ließ sich davon veräppeln, die anderen ignorierten es. Aber nur Pirlo antwortete ihm.

Den allerhaltbarsten Elfmeter so zu versenken, dass er praktisch unhaltbar ist: Da kann man sich sämtliche Statistiken und Berechnungen in die Haare schmieren – hier scheint der Geist des Fußballspiels voll durch; denn letztlich handelt es sich um ein Spiel, das Kinder irgendwann einmal spielen und lieben gelernt haben. Und genau so ein Spiel bleibt es im Kern seines Wesens auch dann, wenn es um Ruhm, Geld und Ehre geht. Die Italiener haben das schon während des Spiels immer wieder gezeigt (so wie Spanien und Holland vor vier Jahren), aber Andrea Pirlo gab uns mit seinem Elfmeter die kondensierte Variante: Es muss wie ein Kinderspiel aussehen und trotzdem für Normalsterbliche unmöglich scheinen.

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