Dienstag, 12. Juni 2012

Das Märchen vom alten Sack

Nachdem uns vorgestern die Gruppe C regelrecht verwöhnt hat, mussten wir gestern mit der Gruppe D wieder ins harte Brot der Wirklichkeit beißen: Fußball kann eben auch langweilig sein, und das nicht nur, wenn scheinbare Außenseiterteams spielen. Zu sagen, dass Frankreich und England über alle Maßen enttäuscht hätten, wäre vielleicht übertrieben. Immerhin war die erste Hälfte bisweilen recht ansehnlich und man konnte ungefähr erkennen, was beide Teams in diesem Turnier spielerisch noch vorhaben. Dazu muss man auch bedenken, dass die zwei Favoriten natürlich gut beraten waren, das Turnier vorsichtig anzugehen; und mit einem Unentschieden gegen den größten Konkurrenten in der eigenen Gruppe muss man eben zufrieden sein. Außerdem hatte es in Donezk gestern an die 35 Grad, das ist für Franzosen kein gütliches Fußballwetter und für Engländer schon gar nicht. Die beiden „Geheimfavoriten“ sind also entschuldigt. Gegen die Ukraine und Schweden wollen wir aber was Anständiges sehen, sonst gibt’s einen Nachzipf!

Wäre die unsägliche zweite Halbzeit nicht gewesen! Die zweiten 45 Minuten waren an Inferiorität kaum zu überbieten. Lust-, kraft- und ideenloses Getrete war das. Die französische Offensivabteilung verrannte sich in der englischen Abwehr, von der viel beschworenen Kreativität und Fluidität war da wenig zu erkennen. England war zunächst sehr spielfreudig unterwegs und viel besser als es im Vorhinein sämtliche schwachsinnigen Spatzen von den Dächern gepfiffen hatten. Dennoch erspielten sie viel zu wenige Chancen, da ist noch viel Luft nach oben. Vielleicht überlebt man Schweden noch und darf dann gegen die Ukraine wieder mit Rooney ran, der, mit neuem Haar auf der Tribüne sitzend, jetzt irgendwie aussieht wie ein irischer Gebrauchtwarenhändler auf Kontinentalurlaub. Eine gute Partie spielte der junge aber hässliche Joleon Lescott, und überhaupt scheint es, als müsse man sich um die englische Defensive weniger Sorgen machen als um das biedere Mittelfeld, das die Patenschaft für den Ausdruck „Verhaltenheit“ übernommen zu haben scheint: Oxlade-Chamberlain war engagiert, Milner auch stets bemüht, aber zusammengelaufen ist da trotzdem wenig.

Naja, die Partie kann man getrost vergessen, immerhin ist die Punkteteilung ein Resultat, das in Ordnung geht, und wir bekamen immer noch kein 0:0 zu sehen. Bemerkens- oder zumindest erwähnenswert ist es aber schon, dass die einzigen beiden Tore, die bis jetzt aus Freistoßsituationen erzielt wurden, den Engländern und Iren gehören. War im Inselfußball der Freistoß nicht immer schon eine Tugend, oder gehört das in den Fußballmärchenschrank zu Cordoba, Wembley und Rehakles? Überhaupt Inselfußball: Ist das nicht die Art Fußball, die wir uns jetzt wieder wünschen? Schneller, unkomplizierter Fußball, das Kick&Rush statt des ewigen Pass-Geschwurbles mit dem doofen Namen „Tikitaka“? Und wo sind die Weitschüsse, die altbackenen Lauf- und Steilpässe? Die finden wir noch bei Teams wie Schweden und der Ukraine. Nur, dass das auch nicht das Allheilmittel ist, zeigte die erste Hälfte dieser Begegnung.

Ukraine gegen Schweden, das war gestern der Abschluss der ersten Runde. Das zweite Gastgeberland spielte daheim in Kiew vor überwiegend eigenem Publikum. War aber auch egal, denn das Stadion war ob der schwedischen Nationalfarben sowieso ganz in blau und gelb. Die Erwartungen waren natürlich hoch – zumindest bei den Ukrainern selbst. Die Fußballexperten hätten wohl keine müde Mark auf diese Mannschaft gesetzt und im schlimmsten Fall, möglichst wenig auf die Schweden vertrauend, auf ein Unentschieden getippt.

So sah es in der ersten Hälfte auch aus, und zwar wirklich nach dem ersten drohenden 0:0. Beide Mannschaften spielten als setzten sie darauf, dass der Kollege Zufall ihnen zu Hilfe eilen würde. Der hatte aber offenbar keine Zeit oder schlicht kein Interesse an dem blau-gelben Geplänkel, das nun ohne seine Beteiligung aus wechselseitigen Fehlpässen und Foulchen bestand. Selten hatte ein Spieler länger als 5 Sekunden tatsächliche Kontrolle über den Ball. Es war grausam... bis zur Halbzeit.

Dann kam der unsympathische Ibrahimovic und traf für die Schweden zum 1:0 – man war ihm dankbar dafür und dachte, nun würde alles seinen Lauf nehmen, d.h. das Spiel würde vollends einschlafen und Schweden vielleicht noch ein Tor erzielen und sich somit das logische Endergebnis einstellen. Die Ukrainer wirkten bis zum Gegentreffer schlichtweg überfordert, vor allem, wenn es darum ging, ein eigenes Spiel aufzuziehen; gefährlich waren sie höchstens in Kontersituationen. Zu wenig Klasse im Kader, nur ein, zwei wirklich große Namen und halt der alte Sack Schewtschenko, der irgendwann mal gut war – aber wann das war, daran konnte man sich auch nicht wirlich erinnern. Ein Maskottchen halt für die Mannschaft bei der EM im eigenen Land. So wie bei uns Ivica Vastic, wollte auch Schewtschenko anfangs nur als Joker helfen, irgendwann in der zweiten Hälfte eingewechselt werden, damit er dann seinen alten Körper noch ein paar Minuten über den Rasen schleppen könnte und vielleicht, ganz vielleicht nur würde er zu ein oder zwei Möglichkeiten kommen. Geglaubt hat vermutlich nicht einmal mehr er selber daran.

Gestern aber spielte er von Beginn an. Vielleicht stellte ihn Trainer Oleg Blokhin nur deswegen rein, um den ukrainischen Fans zu geben, wonach sie sich sehnten: Noch einmal den großen Star der vergangenen Jahre auflaufen sehen, ihn noch einmal die Hymne singen zu hören (zumindest die Lippenbewegungen zu beobachten). Ein letztes Mal noch, Andrij! Ja, und dann schleppte er sich über den Platz, ein Schatten seiner selbst, aber auch nicht viel schlechter als seine Teamkollegen. Bis er dann sein Tor schoss, kurz nach dem Führungstreffer der Schweden. Und bis er dann sein zweites Tor schoss, nur sechs Minuten später.

Und dann wurde er ausgewechselt, um sich seinen Applaus abholen zu können. Das Stadion tobte, die Ukrainer hatten Tränen in den Augen. Ihr Andrij, der alte Andrij, schenkte ihnen zwei Tore und damit vielleicht den Sieg im Auftaktspiel der Heim-EM, vielleicht den ersten Sieg bei einer EM überhaupt. Und so blieb er an der Seitenlinie stehen und beobachtete das Geschehen gespannt. Musste mitansehen, wie die Schweden zum Schluss hin nochmal aufdrehten, wie zuerst Elmander und dann Mellberg die besten Chancen bis dato vergaben, wie die Nachspielzeit nicht enden wollte. Er und der von oben bis unten tätowierte Woronin, die wie aufgeregte Kinder vor der Trainerbank standen, sich gegenseitig hielten, bangten, hofften, immer wieder auf die Uhr blickten. Dann der Schlusspfiff, unendlicher Jubel, ein Volk so glücklich wie schon lange nicht mehr und der alte Sack umarmt von seinen Teamkollegen, der alte Sack, der seinem Team und seiner Nation zwei Tore zum Sieg geschenkt hat. Vielleicht war es sein letztes Geschenk, aber was macht das schon?

Das Spiel Ukraine gegen Schweden war vielleicht fußballerisch uninteressant (über weite Strecken). Wahrscheinlich war es auch nicht entscheidend für den Ausgang dieser EM – vielleicht nicht einmal für den Ausgang der Gruppe D. Aber es war womöglich das wichtigste Spiel der Gruppenphase bisher, weil es dem Fußballzwerg Ukraine (und eigentlich dem ganzen Turnier) einen Helden geschenkt hat und die Hoffnung gelassen hat, dass man doch mitspielen könnte, dass doch vielleicht was geht, dass man nicht gänzlich ohne Chance diese EM bestreiten muss. So hässlich das Spiel in der ersten Hälfte anzusehen war, so schön war es, Schewtschenko bei seiner ganz persönlichen Ehrenrunde zuzusehen. Wie er, der alte Sack, mit glänzenden Augen sich bei seinen Fans bedankte und wie sie ihn hochleben ließen. Eine Szene, die Andrij nie vergessen wird können, ein Abend, der in die ukrainische Fußballgeschichte eingehen wird, weil ein alter Sack zwei Tore in einem Vorrundenspiel geschossen hat. So etwas gibt es eben nur bei Weltmeisterschaften oder Europameisterschaften. Und jedem, der an solchen Veranstaltungen zweifelt (oder auch an der Begeisterung, die solche vermeintlich schwachen Partien auslösen können), dem solle das Märchen von Andrij Schewtschenko erzählt werden.



Mann des Tages: Natürlich der alte Sack, der Ivica Vastic der Ukraine, Andrij Schewtschenko. Vielleicht wird er jetzt der nächste ukrainische Präsident. Obwohl man ihm so ein Karriereende dann auch wieder nicht wünschen sollte.


Buhmann des Tages: Michel Platini, der beim zweiten Tor der Ukraine sichtlich verärgert agiert. Neben ihm der Präsident des ukrainischen Fußballbundes, der ein Freudentänzchen aufführt, und er, Platini, der richtig angepisst wirkt. Peinlich.


Wort des Tages: „Schmähbruder“, das Rhetorik-Kapazunder Frenkie Schinkels etwa 20 mal für jenen Ukrainer verwendet hat, der vor dem Tor der Schweden am Feld liegen geblieben ist und damit eine Spielunterbrechung erreichen wollte. „Na, des is eine Schmähbruada, die do liegen blaibt und do is goa nichts, so eine Schmähbruada, die Schmähbruada, also bai mia hätt die Schmähbruada keine Schongs mit so eine Schmähbruada...“ etc. Der größte Schmähbruder ist und bleibt sowieso Herbert Prohaska; aber Schinkels ist ihm dicht auf den Fersen!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen