Montag, 19. Dezember 2011

Zeller Weisheit


"Friara hod ma gsogg, dasam Montoug Gnedltoug is. Heitzatougs kimmb ma fieh, da Montoug is ehanta Kähwapptoug!"

Dienstag, 13. Dezember 2011

Kopernikanische Wende

Auf der anderen Straßenseite wartet ein Mann mittleren Alters und zweifelhafter Natur an der Ampel. Er sieht aus wie jemand, der älter aussieht, als er ist. Vielleicht aber täusche ich mich und es handelt sich um einen Mann höheren Alters. Jedenfalls macht er auf mich einen etwas verwirrten Eindruck. Sein ungekämmtes, nach allen Richtungen hin abstehendes Haar trägt nicht wirklich dazu bei, ihm irgendeine Art von Vertrauen entgegen zu bringen; noch weniger tut dies sein etwas entrückter Blick. Darüber hinaus brabbelt er vor sich hin, spricht, als ob er jemanden rügen würde. Ich beruhige mich, indem ich mir einrede, der Mann spräche mit jemandem am Telefon und hat, wie so viele Zeitgenossen es haben, irgendwo ein Headset, ein Mikrofon an einem Kopfhörerkabel oder sonst irgendeine andere technische Vorrichtung, die ihm das Telefonieren erlaubt, ohne dass er dazu seine Hand benutzen müsste.

Vor ein paar Jahren schossen nämlich diese Freisprechvorrichtungen wie die Schwammerln aus dem Boden. Plötzlich sah man überall Menschen herumspazieren, die scheinbar mit sich selbst die angeregtesten Unterhaltungen führten. Es dauerte eine Weile, bis man sich an die irr vor sich hin sprechenden Leute gewöhnt hatte, doch irgendwann hielt man das für ganz normal. Radfahrer fuhren schimpfend an einem vorbei, in Supermärkten diskutierten einkaufende Damen die letzten Entwicklungen in ihren Freundeskreisen, während sie im Kühlregal die Ablaufdaten der angebotenen Produkte prüften und an Verkehrsampeln saßen einsame Autofahrer in ihren Fahrzeugen und diskutierten, teilweise wild gestikulierend, geräuschlos mit einem unsichtbaren Gegenüber.

Dabei kamen sie sich alle wahnsinnig pragmatisch vor und hatten plötzlich Hände frei, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Wenn, dann drückten und wischten sie ohnehin auf ihren Mobiltelefonen herum - die Freisprecheinrichtung hatte also nur den Sinn, dass man während des Telefonierens das Handy für andere Zwecke verwenden konnte. Manche trugen auch das Handy wie eine milde Gabe vor sich her, als wären sie einer der heiligen drei Könige und wollten dem Jesuskindlein zur Geburt ein iPhone schenken, um es von der Langeweile im Stall zu Bethlehem zu erlösen. Andere hielten sich das am Kopfhörerkabel befestigte Mikrofon derart umständlich vor den Mund, dass man sich darüber wunderte, ob nicht das einfache Ans-Ohr-Halten die elegantere und praktischere Lösung gewesen wäre. Die ganz wichtigen hatten ein Bluetooth-Headset und also nur einen kleinen Bügel am Ohr befestigt und wirkten damit sehr wallstreetig. Da man sich damit aber lächerlich macht, wenn man einem Bekannten ein Keksrezept ansagt, anstatt wichtige geschäftliche Dinge zu besprechen, ist das Bluetooth-Headset bald wieder aus dem Alltag verschwunden.

Überhaupt scheint mir, dass nun wieder mehr Leute sich trauen, das Handy ans Ohr zu halten. Man wusste ja lange nicht, wie sich das mit der sogenannten "Handystrahlung" genau verhielt. Eigentlich weiß man das auch jetzt noch nicht. Aber man ist draufgekommen, dass man es vielleicht doch aushält, während eines Gesprächs mit einem Freund oder einer Freundin nicht mit dem Smartphone spielen zu können. Außerdem war das ganze Kabelzeugs dann halt doch nicht so der Bringer: Jahrzehntelang arbeitete man daran, antennenlose Schnurlostelefone zu entwickeln, um sich dann erst recht wieder Schnüre in die Telefone zu stecken. Und: Mit einem Handy am Ohr kann man glaubwürdiger so tun, als telefoniere man mit jemandem, wenn man in Wirklichkeit nur dem Gespräch mit einer unangenehmen Person in der Nähe entgehen will. Man stelle sich einmal vor, jemand stünde einfach so da und spräche in das Nichts hinein, um von einer anderen anwesenden Person nicht behelligt zu werden. Das wäre schon sehr sonderbar.

Der Mann am anderen Ende der Straße jedenfalls spricht immer noch vor sich hin. Ich habe mich dafür entschieden, dass er zu alt für ein Headset ist und also gerade nicht telefoniert. Es handelt sich um einen guten, alten Irren, einen vor sich hin brabbelnden Verrückten, einen Gestörten! Eh arm, aber ich freue mich gerade so, dass es noch tatsächlich Menschen gibt, die mit sich selbst sprechen und auch tatsächlich einen an der Waffel haben und nicht bloß irrtümlich für solche gehalten werden und man dann draufkommt, dass es sich eigentlich um Telefonierende handelt. Als die Ampel grün wird und wir beide die Straße überqueren, hat der verrückte seine zweifelhafte Natur gänzlich verloren. Ich würde ihn am liebsten in die Arme schließen und ihm danken, dass es noch solche wie ihn gibt.

In Zukunft aber werde ich wieder vor das Problem gestellt werden, mich für eine Interpretation entscheiden zu müssen, wenn ich vor sich hin sprechende Menschen sehe. Irre oder nicht? Telefonierer oder Wahnsinniger? Und ich werde mich wieder zu täuschen beginnen und Gesunde für Kranke halten oder umgekehrt. Denn schließlich, so sagte mal ein Königsberger Philosoph, richten sich die Objekte nach der Erkenntnis, und nicht die Erkenntnis nach den Objekten. Diese kopernikanische Wende habe ich nun auch für den Alltag geltend machen können. Darüber freue ich mich, denn von nun an wird meine Welt wieder von mehr Irren bevölkert werden. Und die sind so erfrischend anders!

Freitag, 9. Dezember 2011

Der Wichtigtuer - ein Niedergang


Laut Egon Friedell gibt es für jede Zeit einen „Repräsentativmenschen“, einen Menschen also, der für seine Zeit typisch ist, der ihre Ideen und Konzepte verkörpert. Dabei handelt es sich nie um individuelle Menschen, sondern um einen idealen, prototypischen Charakter, der alle Absonderlichkeiten seiner Zeitgenossen in sich vereint. Zwischen 1815 und 1848 etwa gab es den Beidermeier, in den 1980ern den Yuppie und hier zeigt sich schon, dass solche Charaktere nicht nur Kinder ihrer Zeit, sondern vor allem ihrer jeweiligen Sozietät sind. So fragwürdig das Postulat eines Repräsentativmenschen auch sein mag, ist es doch unbestreitbar, dass uns genau so einer vorschwebt, wenn wir über Zeiten, Völker oder Regionen sprechen.

Jede Zeit hat ihre Geister, und so müssen wir uns fragen, welche Geister „unsere“ Zeit hervorgebracht hat. Was ist der Repräsentativmensch unserer Gegenwart und wie zeigt er sich uns? Meiner Meinung nach ist es der Wichtigtuer. Ein Mensch, der sich selbst wichtiger nimmt als nötig und im gleichen Schritt allen anderen unterstellt, sie würden selbst nicht wichtig genug sein und ihn, den Wichtigtuer, nicht wichtig genug nehmen. Zudem zeichnet sich der Wichtigtuer dadurch aus, dass er einen unbedingten Drang zum Erfolg hat. Erfolg stellt sich bei ihm nicht ein, Erfolg ist der Zweck allen Handelns und um den Erfolg zu erlangen, ist ihm jedes Mittel recht. Den Erfolg, ist er ihm einmal beschieden, braucht er nicht unbedingt, um sich darin zu sonnen (dafür besucht der Wichtigtuer Solarien oder wählt wichtige, sonnige Urlaubsdestinationen), sondern vor allem, um ihn anderen unter die Nase zu reiben. Und: Einmal erreicht, dient ihm der Erfolg zur Rechtfertigung aller seiner Schandtaten (iustificatio a posteriori).

Dass dem Wichtigtuer der Schein heilig ist und sich das Sein erst über den Schein einstellt, erkennt man an dem Heiligenschein, den er stolz durch die Welt trägt. Schuld ist er an nichts, denn um schuldig zu sein, ist er viel zu wichtig – und außerdem: Sein Erfolg gibt ihm immer Recht. Es ist ein wasserdichtes Lügenkonstrukt, das er gesellschaftliches Leben nennt, gebaut auf dem Fundament maßloser Selbstüberschätzung und Standesdünkel (Stichwort „Klassenkampf von oben“). Sein Überleben garantiert die andauernde Auseinandersetzung mit ihm durch andere. Man muss sich für ihn interessieren, sonst verliert er seinen Zweck und seine Selbsterfindungsmaschine läuft leer. Um interessant zu bleiben, tut er so ziemlich alles. Sollte dabei etwas schief gehen, nennt er sein Unternehmen „vorerst gescheitert“.

Damit ist auch schon ein Exemplar dieses Typus benannt: Karl-Theodor zu (!) Guttenberg, und das am besten noch mit „Freiherr“ vorne dran, wenn ihm schon der Doktor abhanden gekommen ist. Seine mediale Selbstinszenierung bis zum Dissertations-Eklat war geprägt von ganz offen zur Schau getragenen Narzissmus und trotzdem gelang es ihm, die Mehrheit der Deutschen davon zu überzeugen, dass er anders wäre als die anderen Politiker. Jung und erfolgreich: Dieses Begriffspaar dient am besten zur Beschreibung der sozialen Wahrnehmung eines Wichtigtuers. Dass ein Teil dieses Erfolgs Guttenberg mit dem adeligen Erbe in die Wiege gelegt wurde, dafür kann er nichts. Dafür aber, dass ein anderer Teil seines Erfolgs (der Doktortitel) ihm zu unrecht zukam, kann er sehrwohl etwas. Doch das will er nicht einsehen. Der Rest seines Erfolgs bleibt ein scheinbarer, denn über seine Errungenschaften während seiner politischen Hochzeit, ist man sich nach wie vor im Unklaren.

Da hat es sein österreichisches Pendant schon etwas leichter. Denn er wird immer noch von vielen als der „beste Finanzminister der Zweiten Republik“ bezeichnet. Das muss Karl-Heinz Grasser jedoch damit büßen, dass er ein bisschen tiefer im Schlamassel steckt als Guttenberg. Seine ekelhafte Fönfrisur blieb bisher nur deshalb von dem Dreck, in dem er steckt, unbehelligt, weil er es nach wie vor ganz gut versteht, sich selbst am Schopfe wieder rauszuziehen. Ansonsten nimmt auch er sich wichtiger als er eigentlich ist. Peinliches Zeugnis war sein TV-Auftritt, in dem er, der Obernarziß, schamlos aus einem Fanbrief zitierte, wo doch tatsächlich sinngemäß drinnen stand, dass er zu schön, zu gut und zu erfolgreich für die österreichische Neidgesellschaft sei. Dass sich solche Gedanken in den Köpfen mancher Bürger finden lassen, überrascht nicht. Dass aber Grasser selbstverliebt genug ist, einen solchen Brief der Öffentlichkeit vorzulesen, macht fassungslos. Auch er eine Existenz ohne Essenz, ein Typus mehr als ein Charakter, eigentlich eine traurige Schaubudenfigur in einem Stück, das hoffentlich bald niemanden mehr interessiert...

Doch Wichtigtuer lassen sich nicht nur in der Politik finden (andere Beispiele sind natürlich Gadaffi, Berlusconi, Putin, Chavez, Castro, Ahmadinedschad). Auch gibt es volksnähere Wichtigtuer für die sogenannte Unterschicht, die im Populärkulturbetrieb. Dazu zählen nicht nur gefühlt alle deutschen Rapper, sondern vor allem auch Dieter Bohlen. Dem gibt der Erfolg nämlich auch überhaupt nicht recht. Er mag vielleicht etwas von Popmusik verstehen (tut er das wirklich?), aber rechtfertigt das sein Benehmen, seine Dauerpräsenz, seine Sendungen und das, was er darin macht? Überdies verkörpert Dieter Bohlen eine Seite des deutschen massentauglichen Wichtigtuertums, die sich mit den Requisiten La-Martina-Hemd, Dummchen mit Hündchen als Freundin, Lieblingsdomizil Mallorca und Jet-Set-Koketterie als redundant, fast schon gestrig wirkend ausnimmt. Womöglich handelt es sich bei Bohlen um einen der letzten seiner Art, um die Krone der Schöpfung im Reich der Bobo-Popstars.

Überhaupt scheint mir die Ära des Wichtigtuers bald zu Ende zu gehen. Mit dem Erwachen der Krisengesellschaft und dem allgemeinen und wiedererstarkten Misstrauen in die fachlichen Fähigkeiten von Politikern wird auch der Wichtigtuer zunehmend kritischer beäugt. Man nimmt ihm seinen Schmäh nicht mehr ab bzw. vermutet man hinter seiner lästigen Selbstdarstellung immer öfter einen psychischen Defekt (Kompensationsverhalten) und hält Leute wie ihn für die eigentliche Wurzel allen gesellschaftlichen Übels. Die verzweifelte Reaktion des Wichtigtuers ob dieser fortschreitenden gesellschaftlichen Marginalisierung, die sein Typus erfährt, ist das Burn-Out. Hier hängt er wie Jesus am Kreuz und schluchzt Mitleid heischend in die Welt hinaus, wie schlecht es ihm doch ginge, dass auch er Opfer des Systems sei und nun, unverdientermaßen krank geworden, sein Joch nicht mehr zu tragen fähig ist. Man möge ihn durch Beachtung erlösen oder ihm zumindest eine entsprechende Abfindung zahlen, damit er sich aus dem Staub machen und endlich in der Versenkung verschwinden kann, um dann ein paar Jahre später wieder in einer Fernsehsendung nach dem Motto „Was wurde eigentlich aus...“ wieder aufzutauchen und entschuldigend in die Kamera grinsen zu können – im Privatfernsehen versteht sich, denn das ist sein angestammtes Soziotop. Das Dschungelcamp gibt es ja leider nicht mehr, aber bis dahin wird sich schon etwas anderes (er)finden lassen.

Ein Licht am Ende des Tunnels möchte ich den gerade erst begonnenen Niedergang des Wichtigtuers nicht nennen. Aber dennoch bietet sich eine Chance für einen Neubeginn im Sinne einer Reinterpretation dieser Figur. Wichtigtuer hat es nämlich auch vorher schon gegeben. Da war zum Beispiel jene Generation, die den Krieg überlebt und aus seinen Folgen gelernt hat. Eine Generation, die sich in Demut geübt und, davon ausgehend, das Sich-wichtig-Machen als „rhetorischen Lebensentwurf“ dazu nützte, um tatsächlich auch wichtig zu sein. Der Unterschied zu der heutigen Generation von Wichtigtuern ist neben der erwähnten Gründung in Demut das intellektuelle Kapital, das diese Wichtigtuer hatten. Sie nahmen sich wichtig und die Leute waren dankbar dafür. Sie nahmen sich wichtig und durften es auch, weil sie das nötige Rüstzeug dafür mitbrachten: Intelligenz, Denkbereitschaft, Umsicht und Geschichtsbewusstsein. Außerdem waren sie nicht bildungsfern, ganz im Gegenteil möchte man sie fast gelehrt nennen (auch in dieser Hinsicht ist Guttenbergs Doktorarbeits-Skandal mehr als nur ein akademisches Sandkastengeplänkel). Wenn Hemlut Schmidt einmal das Zeitliche segnet, wird vielleicht der letzte dieser Generation gegangen sein.

Dass der Wichtigtuer Repräsentativmensch unserer Zeit ist, mag unserer Gesellschaft kein gutes Zeugnis ausstellen. Aber es lässt zumindest Raum für Ärger und Unmut über Inkompetenz an falschen Orten. (Damit meine ich jetzt nicht die occupy-Bewegung, deren Feindbild ein Konglomerat aus höchst diffusen und allgemeinen Konzepten ist.) Es lässt Zeit, wieder Demut zu lernen und dabei bleibt zu hoffen, dass es diesmal keinen Krieg dazu braucht - obwohl die Verliebtheit der westlichen Gesellschaft in apokalyptische Szenarien dies nahe leg:. Was früher die Angst vor einem Krieg war, ist heute die Angst vor Umweltkatastrophen und/oder Seuchen a la EHEC, Vogel-, Schweine- und sonstigen Grippen, HIV etc. oder die Angst vor dem „Umsturz der Verhältnisse“ (Kleist) in Form von irgendwelchen Systemkrisen. Vielleicht entdeckt die nächste Generation, dass Kompetenz nicht immer nur „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Odo Marquard) sein kann. Und vielleicht tun wir uns dann auch wieder leichter damit, Anerkennung denjenigen zukommen zu lassen, denen Anerkennung gebührt (was uns momentan ja noch durch die Mechanismen der sogenannten „Neidgesellschaft“ großteils verwehrt bleiben muss) und vor allem im Gegenzug jenen Anerkennung zu verwehren, denen sie nicht gebührt.

Das Beklatschen und Verhätscheln von nicht Beklatschens- und Verhätschelnswerten ist im übrigen nicht unwesentlich der political correctness geschuldet, von der sich zu verabschieden das Programm einer „neuen“ Aufklärung sein muss. Die denkbehindernde und denkverhindernde Wirkung der political correctness ist mit den repressiven Gedankenkonstrukten eines religiösen Fundamentalismus vergleichbar. Die Wichtigtuer haben die Spielregeln der PC gekonnt genutzt und ausgenutzt, und zwar solange, bis sie selbst zu politisch korrekten Heiligenfiguren wurden und sich damit jeglicher Kritik entzogen haben. Der langsame aber stetige Niedergang dieser Heiligenverehrung ist die Götzendämmerung unserer Zeit. Die Aufhebung von Denkverboten bedeutet jene Freiheit, die wir einmal gemeint haben, da wir das Wort „Freiheit“ zum ersten Mal in den Mund nahmen. Doch sie fiel dem Misstrauen gegenüber bzw. der Angst vor der selbstregulativen Funktion des Denkens, dass alles denkbar sein muss und sich das am besten Denkbare durchsetzen wird (= Rational-Darwinismus), zum Opfer.

Dem Wichtigtuer weinen wir keine Träne nach, denn wir erkennen, dass wir uns geirrt haben. Und Irren ist nicht nur menschlich, weil es der Mensch tut, sondern vor allem weil es die conditio humana selbst ist (Goethe). Erst aber das Erkennen des Irrtums ist das wahre Denken und erst das Eingestehen des Irrtums ist wahre Demut. Deswegen kann Karl-Theodor zu Guttenberg nicht eingestehen: weil ihm als Wichtigtuer die Demut fehlt.

Montag, 5. Dezember 2011

Vonn won

Wie halte ich das als Gebührenzahler aus? Nicht, dass ich jetzt der gefühlte millionste Kritiker des ORF-Sportprogramms sein muss oder gar will. Aber wenn man schon nicht darauf verzichten kann, nun auch Damenskispringen zusätzlich zum ohnehin unnötigen Herrenskispringen zu zeigen, und man auf ORF1 etwas anderes als Ski alpin, Formel 1 und langweiligen Bundesligafußballpartien eh nichts mehr zu sehen bekommt (dass sogar Wetten dass...? auf ORF2 verlegt wurde, ist ein Fanal!), dann müssen nicht auch noch die Kommentatoren durch Exklusivblödheit auffallen. Ich tu jetzt mal so, als würde ich viel und gerne fernsehen und mich das ernsthaft stören würde:

Ich verlange gar nicht, dass die alle Englisch können sollen. Fremdsprachenkenntnisse a la Pariasek sind ja ohnehin mehr drollig als peinlich. Aber wenn dann dauernd Lindsey Vonn, das US-Schatzerl unserer Nation (weil sie drüben leider keinen interessiert und weil sie unseren Damen meist davonfährt), zur "Lindsey Won" gemacht wird, frag ich mich schon, was da dahinter steckt. Will man so tun, als könnte man Englisch? Oder will man aus der Vonn eine amerikanische Asiatin machen? Wahrscheinlich soll wohl nur das Endresultat vorweg genommen werden und mit dem (paradoxen) Kommentar über das Auftauchen Vonns im Starthaus "Aber jetzt Lindsey Won" darauf aufmerksam machen, dass Lindsey schon gewonnen haben wird, sobald sie die Ziellinie überfährt.

Dabei machen es sich die Kommentatoren unnötig schwer. Das englische "w", das (hihi!) "Dabbel-Juh", gibt es im deutschen Lautbestand eh nicht. Gut also, dass das Englische "v" immer (immer!) genau so ausgesprochen wird wie unser deutsches "w". Also mit Zähnen auf den Unterlippen. Das bilabiale englische Dabbel-Juh hingegen schaut zuerst so aus, als wolle man jemandem ein Bussi geben, wonach sich die Lippen zu einem Ausdruck des Erstaunens öffnen; am besten zu beobachten in der amerikanischen Variante des "Wow!". Womöglich ist es das, was unsere Kommentatoren dazu verleitet, Laute zu produzieren, die sie gar nicht kennen sollten: Das Verlangen, der Lindsey ein Bussi mit auf den Weg zu geben, gepaart mit einem staunenden offenen Mund ob ihrer Bestzeit.

Ich will mich nicht über Leute aufregen, die irgendwas nicht richtig aussprechen können. Das ist kleinlich und gemein. Außerdem hat es schon auch Charme, wenn einer das nicht richtig kann; und was im Englischen noch relativ einfach ginge, wird bei slawischen oder gar arabischen Lautbeständen zu einer für den Laien schier unlösbaren Aufgabe. Was mich aber schon ein bisschen aufregt: Wenn man so tut, als spräche man etwas richtiger als andere aus und man es im selben Moment komplett falsch macht. In der Linguistik kann man so etwas Hyperkorrektur nennen. Das bedeutet im Grunde genommen, dass man sich so sehr bemüht, etwas richtig auszusprechen, dass es dann in vielen Fällen falsch wird: wie etwa, bei der Aussprache des Namens "Vonn" amerikanisch klingen zu wollen. Das erreicht man eher, indem man die Aussprache des "o" in Richtung "a" verschiebt. Mit dem "V" als Dabbel-Juh ist man jedoch auf dem ganz falschen Dampfer.

Vom debilen Gekichere manch anderer ORF-Kommentatoren und Co-Kommentatoren muss ich jetzt schweigen, denn darüber kann man nicht reden, sondern nur verständnislos den Kopf schütteln. Mir fiele auch noch ein gewisser Tennis-Kommentator ein, der ganz ohne Humor darauf hinweist, dass es "jetzt interessant ist, dass der Federer schon zum dritten Mal den Schläger gewechselt hat". Bald fällt einem Fußball-Kommentator vielleicht die besondere Trageweise der Stutzen eines Spielers auf, oder dass der Tormann sich öfter mal in die Hände spuckt. Mir hingegen fällt das ungeheure Talent der meisten ORF-Sportkommentatoren auf, am Geschehen, also am Sport, komplett vorbeizukommentieren. Angesichts der Begrenztheit des Gezeigten (damit meine ich das in Fernsehbilder übertragene Sportgeschehen, und zwar das und nur das!) ist das selbst schon eine fast sportliche Leistung.

Montag, 28. November 2011

"Bist du das?" (Verwechslungskomödie im Dritten Rang)

Wir stehen im Foyer des Schauspielhauses und ich halte nach dem mir sonst so verhassten Theaterpublikum Ausschau. Nur diesmal finde ich es nicht. Ein paar Schüler in Mittelschul-Abendgarderobe, das heißt zu große oder zu kleine Sakkos bei den Burschen, die ersten Stöckelschuhe bei den Mädchen, in denen sie zu gehen noch nicht ganz gelernt haben. Ein Mittdreißiger, der seine Freundin oder Frau ins Theater ausführt: Auch er hat, wie wir, die billigsten Karten gekauft (3. Rang!) und hofft auf einen unvergesslichen Theaterabend. Doch wenig überschminkte und überparfümierte ältere Damen in Pelzmänteln, auch höre ich wenig österreichisches Städter-Deutsch, jene Sprache, deren Sprecher meinen, sie klängen besonders elegant und gebildet, wobei sie doch eigentlich nur arrogant und kleingeistig klingen.

Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, dass nicht mehr typisches Theaterpublikum anwesend ist. Aber immerhin wird ja heute Thomas Glavinic gespielt und kein Thomas Bernhard oder – publikumstechnisch noch schlimmer – Schiller oder Shakespeare. Es wird ein – im Vergleich zum typischen Theaterpublikum - „junger“ Autor gespielt, der nicht unter den Verdacht der übermäßigen Intellektualität fällt, was vermutlich nicht nur ihm, sondern auch mir als Theaterbesucher ganz recht ist. Auch versucht er sich nicht als ein solcher zu inszenieren, was er vielen seiner Zeitgenossen voraus hat. Nach Lektüre seines Romans „Das bin doch ich“ erwartet man sich von der Bühnenversion etwas Frisches, Kabarettartiges, ein wenig Klamauk, vor allem aber Humor, damit den Schülern und auch uns, die wir allesamt schon lange nicht mehr im Schauspielhaus gewesen sind, das Theatergehen nicht ganz so schwer fällt.

Wer schon einmal im „3. Rang“ des Grazer Schauspielhauses gesessen ist, weiß, dass man dort oben erstens keine Höhenangst haben darf, zweitens gute Augen braucht und drittens auf Sitzkomfort keinerlei wert legen sollte. Aber zum Studentenpreis von 7 Euro wird man sich auch nicht beschweren dürfen. Wir sitzen in der ersten Reihe und wenn wir uns ein bisschen über die Brüstung schieben, sehen wir fast die ganze Bühne. Einzig jener Teil der Lichtanlage, der hier vom dritten Rang die Bühne erleuchtet, blockiert mir die Sicht auf den halbrechten Bühnenrand. Solchen Einschränkungen begegnet man am besten mit Arroganz („Brauch ich eh nicht“) oder altösterreichischem Alltagsfatalismus („Man kann eben nicht immer alles haben“). Ich tröste mich außerdem damit, dass ich auf meinem Sitzplatz die Arme auf die Brüstung legen und so in der Art eines Thomas Bernhard betont gelangweilt dem Geschehen auf der Bühne beiwohnen kann. Bernhard lümmelte bekanntlich gerne bei den Proben seiner Stücke im Burgtheater in der Loge. Dort ließ er sich zu bösen Texten über das Burgtheater im Allgemeinen, und die Burgtheaterschauspieler im Besonderen inspirieren. Die waren nämlich seiner Meinung nach alle schlecht. Außer die, die gut waren, und nur diese durften seine Stücke spielen.

Im Theater ostentativ lümmeln: Das wäre meine persönliche Rache am gespreizten Theaterpublikum. Dass davon heute zu wenig da sind, wurmt mich jetzt wieder ein bisschen. Dafür deutet der Mittdreißiger, den ich mit seiner Freundin zuvor im Foyer gesehen habe, auf mich. Leider kann ich seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob er seine Begleitung etwas entrüstet darauf aufmerksam macht, dass hier jemand lümmelt, oder ob er mir neidig ist, dass ich meinen Kopf auf ein sanftes Ruhekissen aus Ärmeln betten kann, welches, von der Brüstung gestützt, den komfortabelsten Theatergenuss verspricht, den der dritte Rang zu bieten hat. Gut, dass er nicht sieht, wie ich meine Beine zwischen Sitz und Brüstung quer legen muss, um meinen Oberkörper nahe genug an den Balkon zu bekommen. Mit Komfort hat das nämlich wenig zu tun. Aber man gewöhnt sich daran, so wie man sich im Flugzeug an die zu engen Sitze gewöhnt, schon allein deswegen, weil man keine andere Wahl hat.

Warum sind wir eigentlich hier? Weil Thomas Glavinic uns in seinen Roman hineingeschrieben hat und wir deswegen neugierig sind, wie die Szene auf der Bühne verarbeitet wird. Aitzerl, der Kellner aus jenem Grazer Lokal, das der Szene im Buch als Vorbild dient, hat gesagt, dass, wenn er sich selbst als Figur auf der Bühne entdeckt, er im Theatersaal aufspringen und „Das bin doch ich!“ schreien wolle. Was zunächst nach einer ganz witzigen Idee geklungen hat, wirft jetzt, da wir tatsächlich im Theater sitzen, doch einige praktische Fragen auf. Was, wenn ihn gar keiner hört, weil dieser Satz vom dritten Rang gerufen vermutlich akustisch gar nie seinen Weg ins Parterre findet? Und falls doch: Wie soll der Rest des Publikums den aufgesprungenen Aitzerl erkennen? Von unten sieht man doch über den Balkon des dritten Rangs gar nicht drüber. Vielleicht ließe sich noch ein empört erhobener Finger erkennen. Aitzerl müsste sich, um erkannt zu werden, den Oberkörper auf die Brüstung legen und nach unten schauen, dem Foyerpublikum geradewegs in die erstaunten Gesichter. Und dazu müsste er einen Finger fuchtig nach vorne strecken. Dann allerdings würden die Theaterbesucher im Parterre womöglich glauben, er versuche sich an einer Nachstellung dieser Türkenfigur, die sich aus einem Sims des Palais Saurau in der Sporgasse lehnt. Und wenn sie ihn dann sehen, was dann? Hören die Schauspieler zu spielen auf? Erwartet Aitzerl sich Zurufe wie „Was, echt?“, „Oag!“ oder „Geil!“? Über solche Dinge sollte man sich aber gar keine Gedanken machen. Das große „Was dann?“ hat ja schon zu viele gute Ideen im Keim erstickt.

Das Stück fängt an wie eine Lesung. Nach etwa zwei Minuten vergesse ich, dass es sich um ein Theaterstück handelt und folge gespannt dem Text, den der Schauspieler, der Thomas Glavinic darstellt, vorliest. Ein wenig enttäuscht bin ich dann, als das Stück dann tatsächlich los geht, als die Figur Thomas Glavinic die Lesung unterbrechen muss, weil ein Teil der Bühne auf einmal von selbst nach oben fährt. Schade, jetzt ist die Lesung vorbei... Und das mit der Bühne, naja. Aber irgendwie muss es doch „anfangen“. Recht schnell verwandelt sich das Stück in eine irre Achterbahnfahrt durch den Alltag eines allzu menschlichen Autors, der sich von Dusche zu Dusche und von einem alkoholischen Getränk zum nächsten hantelt, während er dazwischen von allerlei lästigen Mitmenschen belagert und genervt wird. Das ganze ist auf der Bühne höchst unterhaltsam umgesetzt: Das Leben als permanentes Kasperltheater der sozialen Unannehmlichkeiten. Die Verdichtung von Raum und Zeit und die Zusammenführung von realem Geschehen und Innenleben der Hauptfigur auf der Bühne lässt den Theaterbesucher die allgegenwärtige beklemmende Lästigkeit der Welt sehr gut nachempfinden. Wir werden gut unterhalten und freuen uns schon auf die Szene, die in dem Grazer Lokal spielen soll.

Dann ist es soweit. Thomas Glavinic (also die Figur) befindet sich in Graz und geht zu einer Ausstellung seines Freundes Erwin Michenthaler in dieses Grazer Lokal: Wir, die Theaterbesucher, die sich sonst aus eben jenem Lokal kennen, in welchem Thomas Glavinic vor Jahren gewesen sein soll, was wir damals nicht gewusst haben, was uns aber eben jener Erwin Michenthaler bestätigt hat, sitzen im dritten Rang des Grazer Schauspielhauses. Tumult auf der Bühne, Glavinic (die Figur!) ist im Lokal, er wird angetanzt und betatscht und eine Frau kreischt „Child in Time“ von Deep Purple. Die Frau, die hier dargestellt wird, kennen wir natürlich und sie hat jahrelang nicht gewusst, dass sie in einem Roman vorkommt. Heute ist sie im Theater nicht dabei (also als Figur schon, aber nicht als Zuseherin). Ich glaube, sie ist beleidigt. An dem Abend, an dem sie erfahren hat, dass sie eine Roman- und Theaterfigur geworden ist, war sie erstens böse auf Aitzerl, weil er ihr das nie gesagt hat. Der Roman ist immerhin bereits 2007 erschienen. Zweitens war sie böse auf Thomas Glavinic („Was glaubt denn der eigentlich? Darf denn der das? Dem werd ich was erzählen!“). Wir haben ihr gesagt, sie soll mit uns ins Theater gehen und dann bei der Lokal-Szene selbst aufstehen und zu schreien beginnen, damit die Leute wissen, wer das wirklich ist. Hat sie aber nicht gemacht. Deswegen haben wir heute nur einen dabei, der aufspringen und „Das bin doch ich!“ schreien kann – den Aitzerl.

Das soll bei der Armdrück-Szene passieren, in der Thomas Glavinic (die Figur) mit Tolya (die Figur von Aitzerl) Arme drückt. Gleich muss es soweit sein. Jemand schreit auf der Bühne „Armdrücken!“ und man sieht, wie die Figur des Thomas Glavinic mit zwei anderen Figuren gleichzeitig armdrückt. Was soll das? Das passt jetzt überhaupt nicht in die Szene! Der soll doch mit Tolya Arm drücken! Aitzerl sitzt aufrecht und unschlüssig in seinem Sitz am dritten Rang und starrt auf die Bühne hinab. „Jetzt!“, rufen wir ihm zu. Auf der Bühne rangeln die Figuren armdrückenderweise mit einander. Gleich wird das vorbei sein. Mir ist die Szene immer noch rätselhaft. Im Buch war das irgendwie einleuchtender. Das Gerangel auf der Bühne ist völlig deplatziert. Etwa so deplatziert wie jetzt ein Aufspringen und „Das bin doch ich!“-Rufen von Aitzerl wäre. Doppelt deplatziert nämlich. Erstens, weil es sich nicht gehört und zweitens, weil es gar nicht stimmt.

Die Figuren lösen sich von einander, der Glavinic-Schauspieler stolpert rückwärts. Wen die beiden anderen Schauspieler gerade dargestellt haben, lässt sich schwer sagen. Einer davon muss Tolya, also Aitzerl, gewesen sein. Vorbei, die Szene ist vorbei. Es ist zu spät. Eigentlich ist gar nichts passiert, wir sind immer noch völlig überrascht davon, dass die Armdrück-Szene so ganz anders dargestellt wurde. Und wir fragen uns, was sie in dieser Form auf der Bühne verloren hat. Etwas ratlos schaue ich zu Aitzerl rüber, der in diesem Moment aufspringt und schreit: „Aber das war doch gar nicht ich!“

Der Glavinic-Schauspieler richtet seinen Blick kurz in das Dunkel des Raums. Auf die Idee, dass der Satz vom dritten Rang gekommen sein könnte, kommt er gar nicht. Er hat sich nur leicht aus dem Konzept bringen lassen und setzt seinen Monolog gleich wieder fort. Ein paar ältere Damen (Theaterpublikum! Endlich!) im Parterre blicken sich suchend um, schauen in die Logen und wissen gar nicht, wie falsch sie da liegen. Der Mittdreißiger und seine Freundin lachen kurz, Aitzerl dreht sich entrüstet zu ihnen um und sagt aufgebracht: „Aber das hätt doch ich sein sollen!“ Ein paar andere Zuseher auf dem dritten Rang schütteln die Köpfe, eine Dame hinter Aitzerl sagt im reinsten Städter-Deutsch: „Geh, setzen’s Ihnen wieder hin!“ Aitzerl bemerkt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, die Nicht-Identität zwischen Figur und ihm festzustellen, und setzt sich wieder. Den Rest des Stückes verfolgt er Fingernägel kauend.

„Blöd war das“, sind wir uns dann im Foyer einig. Die Armdrück-Szene wurde nicht zu unserer Zufriedenheit dargestellt. „Ich hätt auch nicht aufspringen sollen“, sagt Aitzerl ein wenig geknickt. Wir sagen ihm, dass es gut und richtig gewesen wäre, aufzuspringen, wenn er, Aitzerl, in der Figur des Tolya tatsächlich auf der Bühne aufgetreten wäre. Aber so war es halt ein bisschen seltsam. Die Feststellung eines Zuschauers, so der Konsens, dass es sich bei der Figur auf der Bühne NICHT um ihn handelt, hat einfach keinen Exklusivitätsanspruch. Das könnte ja jeder von sich behaupten und zwar bei jedem Stück. Und das Stück heiße nunmal „Das bin doch ich!“ und nicht „Das bist doch du!“.

Auf dem Weg in das nächstgelegene Lokal, in das wir gehen, um den doch sehr gelungenen Theaterabend zu beschließen, denke ich mir, wie das für Thomas Glavinic gewesen sein muss, als er das Stück zum ersten Mal gesehen hat. Wer, wenn nicht er, hätte die Lizenz zum „Das bin doch ich!“-Schreien? Aber wenn dann ein Autor, der Thomas Glavinic heißt, in einem Stück sitzt, das auf einem Roman basiert, den er über einen Autor, der Thomas Glavinic heißt, geschrieben hat, und dann dem Schauspieler, der die Figur Thomas Glavinic spielt, zuruft, dass das doch er, nämlich Thomas Glavinic selbst, sei, dann hat mir das persönlich zu viele Ebenen, auf denen sich jeweils mindestens zwei Katzen gegenseitig in den Schwanz beißen. Und das wäre dann lächerlich und deswegen hat das Thomas Glavinic wohl auch nicht gemacht. Dann lieber ein Kellner, der sich selbst im Stück wider Erwarten NICHT wieder erkennt, und dann betroffen feststellt: „Aber das bin doch gar nicht ich!“

Montag, 21. November 2011

Der Schöpfer

Jemand schuf ziemlich am Anfang Himmel, Erde und alles, was es sonst noch so zu bestaunen gibt. Diesen jemand nennen wir den/die SchöpferIn. Nennen wir ihn doch einfachheitshalber den Schöpfer und denken uns die Schöpferin mit. Weil ohne das Wort „Schöpfer“ funktioniert dieser Text nicht so richtig.

Was mich zunächst ein wenig verwirrt, ist, dass der Schöpfer gar nicht schöpft, sondern vielmehr schafft. Es heißt ja, dass er „schuf“, und nicht, dass er „schöpfte“. Trotzdem sprechen wir von einem Schöpfer und nicht von einem Schaffer. Vielleicht, um nicht unabsichtlich von einem „Schaffner“ sprechen zu müssen; vielleicht aber auch deswegen, weil, wer viel schafft, irgendwann erschöpft ist und am siebenten Tage ruhen muss. Der Schöpfer ist demnach der Erschöpfte und viel weniger der Erschaffene, denn dann hätte er sich ja selbst erschaffen und eine solche Vorstellung bringt uns ganz schnell in die größten ontologischen Schwierigkeiten. Ja hat denn den Schöpfer wer erschaffen? Das sind Fragen, die man nicht fragen darf. So wie die Physiker das nicht mögen, wenn man fragt, was vor dem Urknall war. Dann sagen sie entweder „nichts“ oder „alles“ oder „etwas“, aber erklären können und wollen sie es einem nicht. Und könnten sie es, so würde man es eh gar nicht wissen wollen.

„Hol mir doch mal den Schöpfer aus der Lade“ ist ein Satz, den man in einer Küche zu hören bekommt. Der Schöpfer also ruht seit seinem Schaffen erschöpft in einer Schublade und wartet darauf, herausgeholt zu werden – und zwar zum Zwecke des Schöpfens und nicht des Schaffens. Denn mit dem Schöpfer in der Küche schöpft man Essen aus Pfannen auf Teller. Zum Beispiel Schupfnudeln. Da wird der Schöpfer zum Haushaltsgehilfen, zum einfachen, aber praktischen Küchenwerkzeug. Soviel also zur Frage, was der Schöpfer nach der Schöpfung gemacht hat. Er ruhte sich in einer Küchenlade aus.

Aber auch wir werden manchmal zu wahren Schöpfern und Schöpferinnen. Entweder, wenn wir fleißig sind und viel arbeiten und uns noch dazu in gewissen Regionen Österreichs befinden. Dann wird nämlich von uns behauptet werden, dass wir „urdentlich schepfn“. In Deutschland heißt das in gewissen Regionen „malochen“. Wir kennen, dem Schöpfer sei Dank, auch noch das Wort „hackeln“, weswegen es bei uns zur Hacklerregelung kam und nicht zur „Schepferregelung“. Dieses Wort ist allein deswegen schon hässlich, weil man es so lesen kann, dass „Schepf-erreglung“ daraus entsteht. Und „erregelung“ klingt furchtbar; das „Schepf“ davor, macht es nicht besser. Dann lieber Hackl.

„Schnee schepfn“ als österreichisches Pendant zum piefkenesischen „Schnee schippen“ (was wissen die schon davon?) begegnet uns in der Winterzeit sehr häufig. Witzigerweise klingt, transkribiert man die dialektale Wendung ins Hochdeutsche, die damit beschriebene Tätigkeit höchst unglaubwürdig. Vgl. die Wendungen „ich schöpfe Schnee“ oder „sie schöpft Schnee“. Denn auch die „Schneeschöpfung“ ist ein Vorgang, der schon lange vor unserer Zeit vom Schöpfer erledigt wurde und um die wir uns keine Sorgen mehr machen müssen. Trotzdem sind wir vom vielen Schöpfen des Schnees bald erschöpft bzw. vollkommen geschafft.

Der Schaffende schöpft, der Schöpfer schafft. Oder auch: Der Schaffner schafft, die Schnepfe schöpft; doch was schuf eigentlich der Schuft? Irgendwie werden wir aus diesem ganzen Wortwirrwarr nicht schlau. Wer sich allerdings mit dem Gedanken des Schöpfers in der Küchenlade so gar nicht anfreunden mag, dem sei angeraten, zum Schöpfer in Zukunft „Kelle“ zu sagen. Und mit der kann er oder sie dann sogleich Schnee schippen gehen. Nach Hamburg, auf die Autobahn. Mit Kalle.

Sonntag, 20. November 2011

Dienstag, 15. November 2011

Herbstobst und Heine

Im traurigen Monat November war’s
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber. 

Das schrieb Heinrich Heine irgendwann einmal in Paris. Es ist der Beginn zu seinem sehr langen Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen. Warum Heine ausgerechnet im November nach Deutschland reisen wollte bzw. wie er darauf kam, dass irgendwer im November größere Reiselust verspüren und sich dann als Destination ausgerechnet Deutschland aussuchen würde, bleibt rätselhaft. Im November reist man nicht, und wenn, dann in wärmere Gefilde, wo auch die Tage nicht so trübe sind und es Bäume gibt, von denen höchstens Pinienzapfen oder Kokosnüsse fallen.

Wir machen es uns im traurigen Monat gerne daheim gemütlich. Besser gesagt: Wir versuchen es uns so gemütlich wie möglich zu machen, und das im Drinnen, weil das Draußen uns von Tag zu Tag unwirtlicher wird. Obwohl das heuer auch nicht ganz richtig ist. Der diesjährige November verhöhnt uns mit Sonnenschein bis zu den Mittagsstunden, um dann schon am frühen Nachmittag dämmrig zu werden. Wir flüchten alsdann in schummrig beleuchtete Kaffeehäuser, in die bereits geöffneten Glühweinschenken oder bleiben zu Hause und blicken traurig aus unseren Fenstern, in die wir verzweifelt Aromakerzen stellen oder depressives Herbstobst legen.

Zu Mittag aber sieht man noch viele Menschen im Stadtpark mehr oder weniger fröhlich ihre Herbstspaziergänge erledigen. Studenten machen Fotos von den am Boden liegenden Blättern des Ginkgo-Baums, weil die so schön gelb sind. Andere stellen sich in einen Laubhaufen, werfen Blätter in die Höhe und lachen, wenn ihnen das Laub auf Kopf und Mantel fällt. Sie hoffen, dasselbe in zwei Monaten mit Schnee machen zu können. Auch davon wird es wieder Fotos geben. Es werden die selben wie letztes Jahr sein. Herbst 2010, Herbst 2011, Herbst 2012...

Der Rest ist Traurigkeit. Schon zu Beginn des Novembers gedenkt man der Verstorbenen, steht andächtig und ob der manchmal noch warmen Temperaturen schwitzend am Friedhof. Es will doch der neue Herbstmantel ausgeführt werden, auch wenn es tagsüber noch 20 Grad hat. Die Tage aber werden trüber, die Gedanken auch. Also stürzt man sich in die Arbeit oder liest die erbaulichen Werke des diesjährigen Bücherherbstes.

Bald schon, wenn die Adventszeit beginnt, werden die düsteren Gedanken aber von den vielen Lichtern und der Weihnachtsmusik verscheucht. Da beginnt wieder unser aller liebster „Stress“ im Jahr und wir haben ohnehin keine Zeit mehr, um Trübsal zu blasen. Ich frage mich, was die Menschen früher gemacht haben. Es muss eine furchtbare Zeit gewesen sein, die Monate zwischen November und Februar. Deswegen hat man wohl auch alles mit religiösen Ritualen voll gestopft – einerseits aus Angst, den Winter nicht zu überleben, andererseits, um die bösen Geister zu vertreiben.

Heutzutage rettet man sich mit Glühwein- und Kaufrausch sowie mit allerlei Absonderlichkeiten wie Kekse backen oder Betriebs-Weihnachtsfeiern ins neue Jahr. Jeder, der diese Zeit noch „besinnlich“ nennt, ist sich der Ironie seiner Rede bewusst. Manch einer nennt es auch „berinnlich“ und kichert dabei blöde, obwohl die Wahrheit, die in diesem Kalauer steckt, die bitterste ist. Die Weihnachtszeit ist überhaupt nicht besinnlich; auch nicht die Vorweihnachtszeit. Wenn, dann ist es die Zeit vor der Vorweihnachtszeit: der traurige Monat November nämlich. In dem ist der Mensch ganz auf sich selbst „zurückgeworfen“, wie es dem größten Existenzialisten das reinste Vergnügen wäre.

Die Verzweiflung darüber, mit sich selbst nichts anfangen zu können bzw. die Ratslosigkeit dem eigenen Dasein gegenüber ist der Nullpunkt der menschlichen Erfahrung. Und diesen Nullpunkt erreichen wir immer so in der Mitte des Novembers, weswegen uns der Vorweihnachtsfirlefanz sehr gelegen kommt. Auch, wenn wir es nicht gerne zugeben. Also können die Glühweinstände gar nicht früh genug aufsperren, die Nikoläuse am besten schon ab Oktober wie die reinsten Ölgötzen in den Lebensmittelgeschäften stehen und die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen ist uns zwar energieökonomisch verdächtig, kommt uns aber gerade recht, wenn wir bereits um drei Uhr Nachmittag auf ansonsten dunklen Straßen herumschlurfen müssen.

Sollten wir in diesen Tagen auf die Idee kommen, eine Reise zu machen, wir würden bestimmt nicht nach Deutschland fahren wollen, wie es dieser Heine anscheinend einst getan hat. Und wenn, dann besuchen wir den Nürnberger oder den Augsburger Christkindlmarkt. Auf jeden Fall einen Christkindlmarkt in einer mittelalterlichen Stadt, wo es guten Lebkuchen und ansonsten die gleichen Punschstände und ein ähnliches Weihnachtsbrimborium wie auch bei uns gibt. Obwohl wir dann eigentlich auch gleich daheim bleiben könnten... Am Fenster. Mit Duftkerze und Herbstobst.

Dienstag, 8. November 2011

Zeller Weisheit

"Wonnst da bam Trinkn bam auffizöhn schwaa tuast, muasst hoit vuahea scho wissn, wüvü dassd saufst, nocha kohst vo do weg ochazöhn!"

Sonntag, 6. November 2011

Wenn es "wildelt"

Am Abend gab es Hirsch. Der Koch wurde gelobt, weil der Hirsch nicht "gewildelt" hat. Das habe nichts mit dem Kochen zu tun, so der bescheidene Koch abwehrend, sondern damit, wann der Hirsch geschossen wurde. Brünftige Hirschen "wildeln" mehr. "Aha, jaja", machen die Gäste. Von wem er den Hirsch habe, und ob der gewildert wäre, fragt man den Koch scherzhaft. Ich sage, dass es gewildert wohl besser schmecke als gejagt. Der Koch und die Gäste lachen. Das müsse ich als Schmittinger wohl am besten wissen, sagt mir mein Gegenüber augenzwinkernd.

Der Dessertwein ist gut. Ein Kracher, sagt man mir. Ich finde, das ist übertrieben. Dann eröffnet sich mir, dass damit das Weingut gemeint ist. Weingut Kracher, Illmitz, Burgenland. "Achso!", mache ich in mich selbst hinein und amüsiere mich über meine diesbezügliche Ahnungslosigkeit. Der Kracher sei schon gestorben, heißt es - leider. Aber der Wein schmeckt immer noch ausgezeichnet. Weltruhm habe er mit dem Süßwein erlangt.

Den Grappa lassen wir Jungen aus. Stattdessen trinken wir Vodka lemon. So jung, so dynamisch. Mit Red Bull könne ich es nicht mehr trinken, meine ich. Da schlafe ich schlecht. Mein Gegenüber überrascht mich mit der Aussage, dass er gern Red Bull trinke. Er sagt "ein Red Bull" und das, obwohl er damit nicht aufgewachsen ist, so wie ich. Ältere Leute sagen ja oft "einen Red Bull", weil der Bulle ja männlich ist. Dieser ältere Herr überrascht mich also doppelt. Ich sage, ich würde das "nicht mehr" erleiden und trinke es eigentlich nur noch beim Autofahren. Das lange Ennstal, jaja. Schrecklich alt komme ich mir jetzt vor, weil ich kein Red Bull mehr erleide, - mein Gegenüber aber sehrwohl und auch seine Frau trinke es gern, wie sie mir versichert.

Die Gastgeberin erzählt, wie sie den Koch kennengelernt hat. Also eigentlich ihren Mann, der für diesen Abend der Koch ist. Beide waren sie Schilehrer damals. Sie eine Anwärterin, er schon ein gestandener Schilehrer. Eingestaubt habe er sie alle und lässig dagestanden sei er. Seinen Kollegen, der die Ausbildung geleitet hat, habe er gefragt, was für Hasen dieser heute parat hätte. Unsympathisch sei das gewesen. Aber später habe er ihr einmal geholfen, als sie mit den Kindern beim Schlepplift war und alle Hände voll zu tun hatte. Das habe der Kollege nicht gemacht, der sei nur dagestanden und habe gegrinst. Es zahlt sich also doch aus, wenn man einmal nett auch ist und nicht nur lässig dasteht. Später haben sie sich dann auf einer Schihütte wieder getroffen. Beim gemeinsamen Runterfahren, sagt der Koch, habe er dann gewusst, dass er sie jetzt habe. "Die hab ich", hat er sich gedacht. Alle lachen, weil es eine schöne Geschichte ist und sie so schön erzählt wurde.

Beim Dessert habe ich dann Dessertwein, Kaffe und Vodka lemon vor mir stehen. Aber auch diese Kombination schmeckt gut. Man muss es ja im Mund nicht mischen. Und im Magen kommt ja bekanntlich eh alles zusammen. Die Jugend meint, dass früher alles besser gewesen sei. Wir (also die Vodka-lemon trinkende Jugend) klingen neidig, weil die Älteren so tolle Geschichten erzählen. Es klingt alles so heimelig und spannend zugleich. Ganze Gruppen von Schihaserln seien da immer gekommen, aus Schweden, Holland und Dänemark. Fesch! Heute kommen ja nur mehr die dicken Engländerinnen - was haben wir es schlecht! Nein nein, früher sei auch nicht alles so rosig gewesen, versichert man uns. Man erinnere sich halt nur an die schönen und lustigen Sachen. Dass aber früher alle rauschig Auto gefahren sind, das stimme schon. Und beim Schifahren habe keiner einen Helm getragen. Heutzutage geht das ja nicht mehr. Die Technologie! Alles schneller, viel mehr Leute. Und rücksichtslos sind die! Deswegen gehe ich immer nur in der Früh, sage ich. Ja, da sei es auch am schönsten, bestätigt man mich.

Diese Gegend ist voller unhingehbarer Wahrheiten, denke ich mir. Das ist gut, aber auch schlecht. Einerseits ist das irrsinnig konservativ. Wobei, wenn hier etwas konserviert wird, kann das ja so schlecht auch nicht sein. Andererseits nimmt auch keiner die Wahrheiten so wahnsinnig ernst. Der Witz stirbt zuletzt und wer zuletzt lacht, der muss ein Schnapserl mehr trinken.

Dumm ist auch, wenn man sagt, etwas sei gut, aber auch schlecht. Mein Vater erzählt mir öfter, dass ich als kleiner Bub beim Spazierengehen einmal einen Kuhfladen nachdenklich betrachtet habe. Anscheinend habe ich dann gesagt, dass es schon interessant sei, dass überall, wo etwas Schlechtes ist, auch etwas Gutes sei. Mein Vater hat sich über mich gewundert. Ich habe mich über die Fliegen gewundert, die die Kuhscheiße so interessant fanden. Gut, aber auch schlecht. Was denn nun? Ich weiß es bis heute nicht. Und will mich auch nicht entscheiden. Wie sagt man hier? Es hilft eh nix. Oder: wenn's nicht hilft, schadet es auch nix. So wie Topfenwickel oder Essigpatscherl.

Montag, 31. Oktober 2011

Der Berg als Stein des Anstoßes

Letztens wurde in einem Seminar diskutiert, warum Menschen auf Berge steigen. Mit allen möglichen Antworten kamen da die Seminaristen daher, die einen mehr, die anderen weniger überzeugend. Gewiss kann man hier viele Motive geltend machen, mir aber schien just Francesco Petrarcas (1304-1374) "Brief an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro in Paris" den treffendsten Beweggrund zu nennen. Er sei, so schreibt Petrarca, den Mont Ventoux hinaufgestiegen, nicht nur um die "ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen", sondern vor allem weil der Berg ihm "fast immer vor Augen" steht. Seit seiner Kindheit sei er ihm im Weg gewesen...

An Österreich und der Schweiz merkt man, wie Bewohner eines gebirgigen Landes mit jenen Erhebungen umgehen, die sie von jeher eingrenzen: Sie steigen drüber hinweg oder graben durch sie hindurch. Das reine Hinaufsteigen des Schnapserls wegen, das man beim Gipfelkreuz trinkt, ist eine Nebenerscheinung, die freilich heutzutage als das populärere Motiv gelten mag. Aber im Grunde will man die "Scheißberg" aus dem Weg haben. Zumindest kurzfristig. Nach dem Be- und Übersteigen kann man ja ohnehin wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren und sich wohlig eingesperrt fühlen. Das Bewusstsein aber, dass man schon oben und drüber hinweg war, das bleibt und beruhigt ein wenig.

Etwas wenigstens einmal getan zu haben, damit das Gewissen eine Ruh' gibt: Das ist der Keim des menschlichen Fortschritts. 90% der Menschen machen 90% der Sachen, die sie einmal ausprobieren, sowieso nie wieder. Andere verlieren sich hoffnungslos in der Sucht nach der Tätigkeit, die sie für sich entdeckt haben und gehen vielleicht sogar daran zu Grunde. Nicht selten ist der Stein des Anstoßes eine simple Störung bzw. ein Gestört-Sein-von-etwas, das zu einer Ausgleichshandlung führt, die dem Handelnden nicht selten einige Mühe kostet. Irgendwo mischt sich da noch Ehrgeiz dazu, irgendwo ein sportlicher Gedanke (was ist das überhaupt?) und schon hat man ein Projekt, das es zu bearbeiten und abzuschließen gilt. Und bevor man das nicht gemacht hat - oder gründlich daran gescheitert ist - gibt es nichts Anderes oder Wichtigeres.

Petrarca hat mit Mühen den Gipfel erklommen und hat sich dann selbst daran erinnert, dass er lieber wieder heimgehen und den Augustinus lesen sollte, er sich nicht mit den rein äußerlichen Dingen beschäftigen, sondern das Auge lieber auf die geistigen Gebirge richten sollte. Dass ihm aber der Ausblick gefallen hat, muss er dennoch - fast schon beschämt - zugeben. So erinnert mich der italienische Literat irgendwie an meinen letzten Berggang, und dass ich, nachdem ich endlich oben war, es doch ein bisschen genießen konnte, obwohl ich zuerst nur hinaufsteigen wollte, um zu erkennen, dass sie nicht alle gänzlich unüberwindbar sind, die Berge.

Ich frage mich nur, wie oft die Bergmenschen auf die Berge hinaufrennen mussten, bis sie kapiert haben, dass das, was man da oben sieht, nicht nur betrachtenswert, sondern eben auch bestaunenswert ist. Denn die Anschauungsweise eines Georg Simmel war wohl nicht von Anfang an kulturelles Gemeingut (nicht nur, weil sie sich aus der Differenz zwischen alpinen und nicht-alpinen Raum-Erleben speist).
Jedenfalls sollte man beim nächsten Berggang auch einmal versuchen, das Gefühl einzufangen, das man abseits des Wohlgefallens an der Gegend und dem befriedigten Ehrgeiz verspürt: Jenes nämlich, dass man den "Scheißberg" endlich aus dem Weg hat.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Wenn das die Alten wüssten!

"Goethe! Schiller!", schreit der Bollwerk-Bub unermüdlich. Er habe sie gelesen, sagt er. Zum Beweis zitiert er den Anfang von Faust "Habe nun ach! Philosophie...", dabei reißt er seine Augen samt erweiterten Pupillen weit auf. So hat sich das der Goethe nicht vorgestellt, denke ich mir. Dass da einer mit blondierten Haaren, Ohrringen, tätowiert und mit New-Yorker-Klamotten in einem Lokal steht und ihn zitiert. Oder vielleicht schon - vielleicht würd ihn ein moderner (noch lebender) Goethe als eine zeitgenössische Werther-Figur akzeptieren. Ich habe da aber so meine Zweifel.

"Faust - der Tragödie erster Teil!", verkündet der Bub. Ich frage ihn, ob er auch noch was anderes könne, weil sowohl "Faust - der Tragödie erster Teil" als auch der Beginn von Fausts erstem Monolog, das sei beides vorne und hinten auf dem Reclam-Hefterl zu finden. Um das zitieren zu können, sage ich ihm, reiche es, wenn man das Bücherl nur lange genug unaufgeschlagen vor sich liegen hat und einfach nur draufstarrt - am Klo zum Beispiel. Natürlich bin ich ihm nicht böse und tatsächlich sage ich "Hefterl" und "Bücherl", benutze also ganz bewusst Diminutive, die man Kindern zumuten kann. Das klingt lieb und verständnisvoll, verfehlt aber seine Wirkung, denn der Bub ist irgendwie ganz erbost über meine Anschuldigungen.

"Auerbachs Keller!", sagt er und weiter nichts. Ich fasse zusammen: Bis jetzt hat der Bub die Namen von Goethe und Schiller zitiert, behauptet, er habe beide gelesen (meint er - in metonymischer Wendung - beider Gesamtwerk?), dann hat er die Vorder- und Rückseite des Reclam-Hefterls zitiert. Auerbachs Keller kennt er auch. Man hat es also anscheinend mit einem Experten zu tun! Leider stellt sich bei genauerer Nachfrage heraus, dass sich das Expertentum des Buben auf das Sozialgefüge im Bollwerk beschränkt. Goethe und Schiller habe er in der Schule (sic!) gelesen. Es habe ihm aber gefallen.

Jemand sagt ihm, dass ich Germanist sei, also bittet er mich, ihm weitere Lektüreempfehlungen zu geben. Ich zähle ihm widerwillig alles auf, den ganzen Kanon, rate ihm davon ab, irgendwas zu lesen, was früher als im 18. Jahrhundert geschrieben wurde, sage ihm, dass die Traditionslinien des Realismus im 20. Jahrhundert interessanter sind als der bürgerliche Realismus, dass er sich selbigen also sparen könne, außer er erhebe Anspruch auf Vollständigkeit. Besonders empfohlen habe ich ihm natürlich Büchner, Kleist, Kafka und Musil - sie alle kennt er nur vom Hörensagen, seine Augen leuchten. Lyrik wolle er auch lesen, ich warne ihn also vor Hölderlin, spreche von einem "Wagnis", gleichzeitig auch von einer "lohnenden Herausforderung" - ich komme mir ganz deppert vor.

Abschließend sage ich ihm, dass es aber auch Leute gebe, die behaupten, dass, wenn man nur Goethe und Schiller gelesen habe, es eigentlich reichen würde. "Goethe! Schiller!", könne er dann den Rest seines Lebens brüllen und mit der entsprechenden Lektüreerfahrung würde er sich damit auch nicht gänzlich lächerlich machen. "Man kann ja nicht alles wissen wollen", sage ich ihm noch aufmunternd. Der Bub scheint mir das nicht ganz glauben zu wollen und das, obwohl er den Faust gelesen hat...
Ich bin froh, das leidige Gespräch zu einem versöhnlichen Abschluss gebracht zu haben und der Bub erzählt mir, wie er am Jakominiplatz von drei Bollwerk-Typen verprügelt worden ist. Dass er weggerannt sei, nachdem er zwei davon KO geschlagen hat, dass er aber selber eine gefangen habe und ich damit rechnen müsse, dass jeden Moment ein Dübel aus seiner Stirn wachse.

Zwei Stunden später, bevor der Bub das Lokal verlässt, überprüfe ich seine Stirn - kein Dübel weit und breit, nicht einmal rot ist es irgendwo. Ein bisschen enttäuscht bin ich schon. Gleichzeitig aber empfinde ich aufgrund des Gedankens, dass da draußen ein Goethe lesender vorgeblicher Bollwerk-Prügler seine Kreise zieht, dankbare Behaglichkeit.

Daheim muss ich auf facebook lesen, wie sich jemand über den Satz "Das Nichts nichtet" amüsiert (*lol* ;-) *gg*). Den Satz habe man damals einmal bei "Echt fett" gehört.
Wenn Goethe schon nicht wegen des Bollwerk-Werthers im Grabe rotiert, so würde zumindest der Heidegger ein griesgrämiges Gesicht ziehen, wenn er erführe, dass die Jugend seine Sätze aus einem situationskomödiantischen Fernsehprogramm mit dem Namen "Echt fett" kennt und sie mit Emoticons und äußerste Heiterkeit anzeigenden Internet-Akronymen versieht. Wenn die das alles wüssten...

Dienstag, 11. Oktober 2011

Über das Wetter

"Komisch warm" sei es heute gewesen, so die Leute. Ich kann da nur zustimmen, wenn mir auch im Bezug auf das Wetter der Humor immer ein wenig unterbeleuchtet vorkommt. Überhaupt kennen die Leute beim Wetter wenig Spaß. Wollte einer einmal das allgemeine Phänomen der Unzufriedenheit erklären, er müsste untersuchen, ob sein Ursprung nicht im Wetter - besser gesagt im Reden über das Wetter - zu finden ist.

Freud und Leid hängen ja immer sehr eng mit dem zusammen, was eintrifft, vor der Folie dessen, was man sich erwartet hat. Bei meteorologischen Phänomenen kommt hinzu, dass die bescheidene Prognostizierbarkeit uns das Gefühl gibt, das Wetter missverhalte sich, wenn es nicht so wird wie vorhergesagt. Das ist dann ein "blödes Wetter", eines nämlich, das man nicht einschätzen kann. Über ein solches regt man sich auf, denn es macht einem die Kleidungswahl oder die Entscheidung, ob man einen Schirm mitnehmen soll oder nicht, schwer - im extremen Fall unmöglich. (Dass es kein schlechtes Wetter gebe, sondern nur schlechte Kleidung, das ist eine allzu deutsche Weisheit, deren praktische Unbrauchbarkeit bei aller schlaumeierischer, nach außen getragener Breitbrüstigkeit wir in solchen Situationen gleich erkennen.)

Wir mögen es auch nicht sonderlich, wenn sich das Wetter nicht entscheiden kann. Wenn es uns früh morgens noch Sonnenschein verspricht, es sich dann zu Mittag anders überlegt und uns einen fröhlichen Platzregen beschert, nur um danach wieder Hoffnungen zu wecken, dass es "doch noch besser" werde. Dann aber keimt Wind auf und es bleibt bedeckt, vielleicht regnet es noch ein, zwei Mal. Hach, das regt einen auf!

Gerne machen wir uns die Vorstellung von einem saisonalen Wetterverlauf, demgemäß es im Winter kalt und im Sommer gefälligst warm zu sein hat. Die Übergangsperioden dazwischen nehmen wir einfach so hin, manchen Phänomenen geben wir eigene Namen. "Aprilwetter" zum Beispiel (aber wehe, wenn das schon im März eintritt oder gar erst im Mai!) oder "Altweibersommer". Gibt es dann Schnee im Juli oder fängt selbiger im Februar schon an zu schmelzen, dann "spielt das Wetter verrückt". Gott sei Dank gibt es jetzt den Klimawandel, der uns einander apokalyptisch zunickend sagen lässt "Jaja, die Zeiten ändern sich!"

Warum aber war es heute "komisch warm"? Es hatte doch vor etwas weniger als einer Woche noch ein äußerst warmes Herbstwetter, mit welchem verglichen es heute wahrscheinlich "etwas kühler" gewesen wäre. Nur war da der Kälteeinbruch, ein Temperatursturz von mehreren Graden Celsius, der uns hoffen machte, dass nun der Herbst richtig beginne. Dass die "kalte Jahreszeit" anbrechen würde - mit Wind, Regen und herumwirbelnden Blättern. Jetzt hat es sich das Wetter also doch wieder anders überlegt? Oder war das nur ein kurzer Jux, ein schlechter Schmäh, eine Finte, die uns auf die falsche meteorologische Fährte führen sollte?

Um diese Frage zu beantworten, muss man ironischerweise wieder einmal den Wetterbericht konsultieren. Jene allgemeine Dienstvorschrift für das Wetter also, der wir prinzipiell nicht trauen, von der aber immer alles abhängt: Entweder das Wetter verhält sich nicht entsprechend (es ist wärmer/schöner als gedacht), oder die Meteorologen sind Lügner (es ist kälter/schlechter als gedacht). Weil sich also hier die Katze wieder in den Schwanz und der Wetterfühlige in den Arsch beißt, möchte ich hier die Empfehlung abgeben, sich mit dem Wetter im Diskurs gar nicht mehr auseinanderzusetzen. Dabei üben wir nämlich bloß das Belegen von uns unerklärlichen Situationen mit unpassenden Adjektiven und grämen uns über Dinge, die keinen Gram - ein edles, allzu menschliches und deshalb schützenswertes Gefühl - wert sind. Kant hat nämlich, so viel ich weiß, nicht viel über das Wetter zu sagen. Das allein soll uns schon ein gewisser Hinweis sein...

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Freuen würde ich mich, fände irgendwer ein Kant-Zitat zum Thema Wetter!

Freitag, 7. Oktober 2011

Keine Zeit für Lyrik?

Da stellt man sich hin und wieder die Frage, was eigentlich mit der Lyrik los ist, ob das noch jemanden interessiert, ob es da noch Leute gibt, die sinnvolle Lyrik produzieren und überhaupt... Und dann bekommt ein unbekannter schwedischer Lyriker, dessen Werk aus 11 schmalen Gedichtbänden besteht, den Literaturnobelpreis zugesprochen. Ich finde das toll und irgendwie auch schade. Toll, weil es zeigt, dass Lyrik also doch noch da ist und es anscheinend noch beachtenswerte Lyrik gibt. Schade, weil das Lesen gerade von Lyrik-Übersetzungen ein zweifelhaftes Vergnügen mit fragwürdigem Wert ist.

Das Schöne an Lyrik ist ja, dass sie uns mit relativ wenigen Worten viel sagen kann. In einer Welt, in der uns andauernd mit möglichst vielen Worten im Grunde überhaupt nichts gesagt wird, ist das Gedichte-Schreiben zu einer Tugend verkommen, der höchstens noch idealistische Jungschriftsteller die Stange halten. Oder aber ältere Schriftsteller, die es sich leisten können bzw. die ihr Werk sowieso nicht allzu ernst nehmen. Freilich ist dieser Umstand auch der grundsätzlichen Frage nach den Konsumenten von Lyrik geschuldet: Wer liest denn noch Gedichte?

Vielfach wurde Poplyrik als die moderne Form des Gedichts ausgemacht. Vor allem mit dem Hinweis auf die liedhaften Ursprünge der Lyrik schien es, als wären die Texte zeitgenössischer Popsongs die verdienten Nachfolger der letzten großen lyrischen Bemühungen, die sich irgendwann in die 70er, vielleicht auch noch in die 80er Jahre datieren lassen. Nicht-Germanisten sind aus dieser Zeit höchstens noch Erich Fried oder Hans Magnus Enzensberger ein Begriff. Beides Dichter, die zu diesem Zeitpunkt den Zenit ihres lyrischen Schaffens schon mehr oder weniger überschritten hatten.

Was leisten aber Popsongs nun wirklich auf lyrischem Gebiet? Freilich gibt es da oder dort die eine oder andere knackige Zeile, einen Vers, der einen Gedanken ziemlich auf den Punkt bringt. Das taugt dann für ein Facebook-Statusupdate oder als Sinnspruch, den sich Studenten gegenseitig auf Mappen oder Taschen kritzeln. Auch wenn es die bekannten Ausnahmen gibt (ich erinnere an den jedes Jahr aufs neue als Favorit auf den Nobelpreis geltende Bob Dylan), das gros der Liedertexter versteht sich in erster Linie als Musiker. Und jenen Musikern, die ihr lyrisches Handwerk tatsächlich zu verstehen scheinen, die also eigentlich in erster Linie Dichter sind, ist nur bescheidener kommerzieller Erfolg vergönnt. So viel zum Thema Breitenwirksamkeit von moderner Poplyrik.

Ich möchte so weit gehen und dem großen Pumuckl widersprechen, der gemeint hat, dass alles, was sich reime, gut sei. So bewies eine Wochenendausgabe des Standard vor ein paar Jahren, wie platt (wie unlyrisch) die Songtexte der damaligen Sommerhits eigentlich sind: Ein paar angesehene Germanisten (allen voran der mittlerweile verstorbene Obergermanist Wendelin Schmidt-Dengler) analysierten – freilich mehr oder weniger ironisch – für den Standard besagte Texte. Das Ergebnis war weder für die Lyriker (Christina Stürmer et.al.) noch für die österreichische Germanistik besonders schmeichelhaft. Für geschätzte 90% der zeitgenössischen Songtexte gilt leider – auch wenn sich alles schön reimt und das Versmaß stimmig ist –: Es ist zu wenig da. Liedertexter sind keine Dichter, weil sie selten etwas verdichten. Meistens ziehen sie einen einzelnen Gedanken unnötig in die Länge und bedienen sich dabei des einfachsten und unaufregendsten sprachlichen Materials.

Dabei ist Lyrik das genaue Gegenteil: Sie ist das Vermitteln von Etwas über Sprache, ohne dabei besonders kommunikativ sein zu müssen. Das ist oft mühsam, weil schwer bis gar nicht verständlich (Hölderlin!). In den meisten Fällen aber lohnt sich der Aufwand für den Leser. Lesen wir Lyrik, so lernen wir am meisten über Sprache und wie sie funktionieren kann (oder auch nicht funktioniert). Das bewusst gesetzte Wort, die bis zur Unkenntlichkeit verschobene Metapher, die einen einzelnen Gedanken zu packen und nie mehr loszulassen vermag, ein Rhythmus, der den Leser stolpern lässt, um ihn gleichzeitig unaufhaltsam weiterzuschleifen; und all das auf kleinstem Raum mühevoll und sorgfältig hingeschrieben: das ist Lyrik – kleine Sprachkunstwerke, die wir immer und immer wieder lesen können, ohne dass uns dabei langweilig würde.

Das Lesen von Büchern ist noch lange keine ausgestorbene kulturelle Praxis. Im Gegenteil scheint es mir oft, als würden die Leute immer mehr und immer dickere Bücher lesen. Kindle und Co. verbinden das Mühsal mit dem Vergnüglichen und bringen Menschen dazu, wieder Texte zu lesen, die länger sind als ein Scrollen mit der Maus nach unten. Aber doch schwappt es von allen Seiten auf Leser wie Nichtleser ein. Textlawinen überrollen uns täglich – so genau wollen wir das, was uns da aufgetischt wird, gar nicht wissen. Wir picken das heraus, was unseren bescheidenen Hunger nach Information still. Platz für eine achtsame Auseinandersetzung mit Sprache bleibt da nicht. Lyrik ist irgendwie unmodern, obwohl sie knapp und kurz – also tweetig – ist.

Freilich gibt es zeitgenössische Lyriker, die zeitgenössische (oft sogar relevante) Gedichte schreiben. Aber gibt es auch den zeitgenössischen Leser, der sich Zeit für Lyrik (es muss ja gar nicht die moderne sein) nimmt? Sich mit einem Text auseinanderzusetzen, über die Erfassung, der vom Text angebotenen basalen Information, hinaus, ist unpopulär, schwierig, langweilig. Mag sein, dass das Lesen von Gedichten unzeitgemäß ist. Aber die bewusste Auseinandersetzung mit Sprache, ihren Mitteln und Wirkweisen schult nicht nur das Denken, sondern auch den eigenen Sprachgebrauch und die Sprachkritik. Das kann uns nicht nur helfen, im gegenwärtigen Informationsdschungel den Überblick zu bewahren, sondern auch das Wahre, Schöne, Gute vom restlichen Datenmüll zu unterscheiden.

Das Schreiben und Lesen von Gedichten ist eine intellektuelle wie auch eine ästhetische Schule. Daher kommt auch die damit verbundene Mühseligkeit. Aber es handelt sich um eine Mühseligkeit, die sich bezahlt macht. Dass ein Lyriker den Nobelpreis erhalten hat (ob gerechtfertigt oder nicht, spielt keine Rolle), soll uns daran erinnern, dass Literatur auch (oder vor allem) im Stillen, Kleinen und Sorgfältigen stattfindet, und nicht nur im ewig gleichförmigen Plätschern der Wörter und Floskeln.

facebook

 Manchmal blättert
– eigentlich scrollt - man
durch die Liste von
Freundschaftsvorschlägen.

Sei es, weil man sich,
gepiesakt von echten Menschen,
einsam und ungeliebt fühlt.
Oder sei es, weil man sich einfach gerne
durch fremde Gesichter und Namen wühlt.

„Ach, wie nett“,
denkt man sich dann,
und klickt die bekannteren
Köpfe an.

Doch meistens
erspäht man die miesen Visagen
von Quälgeistern, Deppen
und völlig nutzlosen
Loiseln und Seppen:

Den einen gemieden,
vom ander'n geschieden,
die eine vermisst,
die and're geküsst...

So viele andere, fremdere Leben,
die mit dem eig'nen facebook-Profil
nichts mehr zu tun haben mögen!

Die Freundschaftsvorschläge also bleiben
- bei aller künstlicher Netz-Hawarie -
eine äußerst traurige Galerie!

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Bescheidener Beginn eines Semesters


Als angehender Doktorand meint man ja manchmal, arrogant sein zu können. Deswegen ist man ein wenig enttäuscht, wenn man die Studien- und Prüfungsabteilung betritt und sich dort anscheinend alles um die blutigen Anfänger dreht. Um die 11er-Matrikelnummern nämlich. "Erstinskription" steht über fast jedem Schalter. Nirgendwo steht "Nur für Doktoranden" oder "Mag. only". Für's Anstellen ist man sich zu schade, daher verlässt man den Raum wieder und geht lieber einen Kaffee trinken. Da man mit der Inskription noch bis 20. Oktober oder gar länger Zeit hat, beschließt man, erst übermorgen wieder hinzugehen. Dann allerdings früher, und nicht erst um halb elf, wenn die Primetime für studentische Langschläfer, die sich fälschlicherweise als Frühaufsteher begreifen, beginnt.

Über den Campus schreitend - mit Magistertitel schreitet man vermeintlich, vorher schlurfte man - betrachtet man abschätzig das so genannte Studentenpack, vor allem jene Exemplare, welche die Individualität zu Ungunsten der Ästhetik ausleben und also besonders studentisch aussehen (wollen). Dann ärgert man sich über sich selbst und seine falsche und völlig unbegründete, noch wichtiger aber: vollkommen unlegitimierte Arroganz, und fragt sich, was aus einem geworden ist.

Wenig später sitzt man in kurzen Hosen und ohne T-Shirt an einem unaufgeräumten Schreibtisch und isst halb verbrannte Fertigpizza. Dann die große Epiphanie: So kann es nicht weiter gehen, es muss sich etwas ändern, etc. (Kennt man ja aus den vorigen Semestern!)
Man erinnert sich an das halbfertige Bachelorstudium und sucht im Online-Katalog der Lehrveranstaltungen nach dieser Einführungsvorlesung, die man seit neuestem machen muss und die man selbst noch nicht gemacht hat. Die Lehrveranstaltungsinformation macht darauf aufmerksam, dass die mitzubringenden Voraussetzungen "Maturaniveau und gesunder Hausverstand" sind. Man weiß nicht, ob man sich über diese Mitteilung wundert, oder eher darüber, dass eine solche nicht überhaupt in jeder Lehrveranstaltungsbeschreibung zu finden ist. "Schlecht wäre es sicher nicht", denkt man schon wieder mit der Arroganz eines Magisters, der sich obendrein noch zu Schade ist, diesen peinlichen Titel im Namen zu führen.

Man informiert sich noch, was es sonst neues an der Fakultät gibt (man denkt ja jetzt transinstitutionell) und fragt sich, ob man für einen "einmaligen finanziellen Zuschuss für StudentInnen in aktuellen psychosozialen Notlagen" infrage kommen könnte. "Was es heutzutage alles gibt!", sagt man sich altklug, so als hätte man selbst noch die Zeiten erlebt, in denen man in Hörsälen rauchen durfte und es im Winter durch die geschlossenen Fenster schneite. Da das Chaos auf dem Schreibtisch aber nicht Ausdruck einer psychosozialen Notlage ist, sondern noch von den schwierigen Zeiten des ausgehenden Magisterstudiums zeugt, beruhigt man sich bald und sieht ein, dass sowohl die Arroganz des Magisters wie auch die Zukunftsangst des Doktoranden vorerst unbegründet sind.
Dann fällt einem noch der Anfang der DDR-Hymne ein: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt..." So sammelt man sich und macht reinen (Schreib)tisch. Möge das Semester beginnen!

Dienstag, 4. Oktober 2011

Heimkehr: Ein Berggang

Den unendlichen Weiten des amerikanischen Landesinneren entrissen, sitze ich im schönen Schmittental nahe des Zeller Sees am Balkon und starre auf die Berge. Unüberwindbar kommen sie mir vor, unglaublich grün, fast schon pervers bewaldet und irgendwie hinterlistig. Der Volksmund sagt ja, Bergmenschen würden sich oft eingesperrt fühlen und deshalb besonders gerne auf die Berge hinaufwandern, um diesen Gefühl wenigstens kurzfristig zu entfliehen; oder sie würden sich des Einsperrt-Seins wegen „wegtun“. Letzteres soll heißen: Aufgrund der wenigen Sonnenstunden in manchen Innergebirgstälern und des psychologischen Gefühls der Bedrängnis würde in den Bergmenschen oft ein suizidaler Drang entstehen. Selbst wenn das so wäre: Heutzutage fahren solariumgebräunte Menschen aus sogenannten Selbstmördertälern in schnellen Sportwagen hinaus ins Salzburgische oder Münchnerische und zelebrieren dort das heitere Leben. Umbringen tun sie sich dabei höchstens beim Zu-schnell-um-die-Kurve-Fahren: zu viel Schampus, zu viel Koks. Aber herrje, das soll sogar höchstrangigen Politikern passieren, und das alles hat mit Trübsinn und hohen Bergen nur ganz wenig zu tun...

Je länger ich auf die Berge schaue und je länger ich über die Bergmenschen nachdenke, desto mehr möchte ich auf einen dieser Berge wenigstens ein bisschen hinaufwandern. Es ist einen ja doch ins Blut „geschrieben“, dass ein Berg zum Hinaufgehen da ist und zum Von-oben-Herunterschauen. Flink habe ich meine Turnschuhe angezogen, die mir schon bei meiner Wanderung im Metnitztal gute Dienste erwiesen haben, und wähle eine unpopuläre Route auf die Sonnenalm, einem Forstweg im entlegensten Graben folgend, wo es abwechselnd nach Schnittholz und Forstmaschinen riecht.

Ich quäle mich durch den Wald den Berg hinauf, bleibe stehen, schaue auf die Uhr, blicke Hilfe suchend rings umher, überlege gar auf halbem Wege umzukehren. Aber starrköpfig sind sie ja auch, die Bergmenschen, also schleppe ich mich weiter. Letztes Jahr, so erinnere ich mich zurück, bin ich diesen Weg noch hinaufgeschritten, im reinsten Jägerschritt. Heute torkle ich halb bewusstlos vor Erschöpfung von Kehre zu Kehre und richte mein Wort an den Herrn, er möge den Weg bald flacher werden lassen.

So schäme ich mich vor mir selbst, als ich plötzlich ein Knacksen höre und weiter oben zwei Wanderer erblicke, die mir flotten Schrittes entgegen kommen. Da ich mit einem Blick erkennen kann, dass es sich bei den beiden um Deutsche handelt, reiße ich mich zusammen, wische mir den Schweiß aus dem vermutlich hochroten Gesicht und eile den steilen Forstweg hinauf, so als ob ich immer schon so gegangen wäre und auch vorhätte, den Rest des Berges sehr eilig bezwingen zu wollen (zu können). Da Deutsche es immer sehr gern haben, wenn man sie mit einem herzig herzhaften „Grüß Gott“ begrüßt (sie meinen nämlich, man würde sie als ebenbürtig akzeptieren, wenn man das tut), mache ich selbiges, um von meiner offensichtlichen Erschöpfung abzulenken.

Es stellt sich heraus, dass es sich um Sachsen handelt. Das beruhigt mich insofern, als mir die Sachsen als ein kerniges und tüchtiges Volk bekannt sind, die das Wandern noch als eine Tugend begreifen und nicht als ein leidiges Mühsal. „Kommen wir hier zur Jaga-Alm?“, fragt mich der Sachse freundlich. Wie immer amüsiert mich die bundesdeutsche Aussprache des Wortes „Jaga“, diesmal um eine sächsische Intonation bereichert. In solchen Situationen ist der Bergmensch bemüht, allen Klischees gerecht zu werden, und also lache ich kurz auf, bevor ich antworte. Dieses Lachen ist eine Mischung aus verwunderter Erheiterung und milder Nachsicht und will geübt sein – ich beherrsche es (so unbescheiden darf ich sein) perfekt. Daraufhin erkläre ich ihm in grober, aber für das Deutsche Ohr gerade noch verständlicher Mundart, dass er sich „ganz auf der falschen Seite“ des Berges befinde. Er sei wohl von oben her kommend rechts abgebogen? Das bestätigt der Sachse mit einem überaus sächsischem „Jawoll!“. Die Jaga-Alm befinde sich aber auf linken Seite, erkläre ich ihm. „Aha!“, sagt der Sachse ein wenig enttäuscht. Ich tue so als ob ich ihn und seine Frau begutachten würde und sage ihnen aufmunternd, dass mir scheine, dass sie beide gut „beinander“ seien und, unten angekommen, den Weg zur Jaga-Alm vom Tal aus angehen könnten – es seien von unten ja nur 20 Minuten. Der Sachse verzieht etwas den Mund. „Für Sie 15!“, füge ich noch hinzu, um sein Misstrauen ein wenig zu zerstreuen. Da grinst er, bedankt sich und wünscht mir noch einen guten Tag.

Ich eile weiter, bleibe aber, sobald ich die Sachsen aus meinem Blickfeld verloren habe, sofort stehen um Luft zu holen. Dabei verfluche ich den amerikanischen Lebensstil, der mir jegliche Kondition verkümmern ließ, und den versuche, das Brennen in meinen Beinen als wohliges Gefühl zu interpretieren. Dann erinnere ich mich aber daran, dass ein Amerikaner nie aufgeben würde und ich jetzt hier nicht als Österreicher auf den amerikanischen Lebensstil schimpfen und gleichzeitig auf gut österreichisch aufgeben kann. Deshalb quäle ich mich weiter.

Oben dann die gewohnt schöne Aussicht. Ja, toll ist es hier und staunen muss man schon, dass es einen solchen Flecken Erde usw... Ein wenig versöhnt mich der Blick ins Tal wieder mit meiner Heimat. Noch einmal kommt mir der Sachse in den Sinn, der die Jaga-Alm nur deshalb verfehlt hat, weil er den unwahrscheinlicheren Abstieg gewählt hat. Weil er eine Route gewählt hat, die sonst niemand wählt, ja, die die wenigsten überhaupt finden. Und Sachsen, die in unseren Wäldern unwahrscheinliche Wege beschreiten, gehören zu der Heimat genauso dazu wie der schöne Blick ins Tal und die geheimnisvollen Gerüche des Waldes. Dass das Fremde zur Heimat gehört, das wissen nur die Bergmenschen in den Tourismusgebieten. Und mag auch der eine oder andere darüber schimpfen, bestreiten kann es keiner, denke ich mir und beginne meinen knieweichen Abstieg.

Wieder unten angekommen, sitze ich erneut am Balkon und starre auf die Berge. „Das Erhabene!“, denke ich mir und muss lachen, weil ich immer an Immanuel Kant denken muss, wenn ich an „das Erhabene“ denke (was bei Gott nicht oft der Fall ist!). Und dann fällt mir ein, wie dieser Kant einmal behauptet hat, dass es überhaupt nur zwei Dinge gebe, die sein Herz berühren oder was auch immer: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, so er. Ich lache über die pathetische Übertriebenheit seines Satzes, obwohl mir klar ist, dass ich gerade auf die Berge schaue wie der Kant damals auf die Sterne und irgendetwas fühle. Auch, wenn es nicht das „moralische Gesetz in mir“ ist, ist es irgendetwas Wichtiges, etwas Beruhigendes. „Der Kant, der alte Depp“, sage ich mir. „Wenn der je aus Königsberg hinaus gekommen wäre und die Berge gesehen hätte, dann wäre ihm das moralische Gesetz auch wurscht gewesen.“

Und weil ich mich selbst dabei ertappe, wie ich in Gedanken Berge und Heimat mit dem Kant vermische, habe ich das Gefühl, wieder zu Hause und irgendwie bei mir selbst angekommen zu sein. Und das erheitert mich genauso wie es mich be(un)ruhigt.

Donnerstag, 29. September 2011

Der Streber

Seine Familie kann man sich genauso wenig aussuchen wie seine Sitznachbarn im Flugzeug. Mit ersterem habe ich, so ist mir spätestens nach diesem Amerika-Aufenthalt gewiss, großes Glück gehabt. Mit den Sitznachbarn schaut es weniger gut aus. Dabei bleibt freilich offen, ob es sich bei diesen Menschen wirklich um Ungustln bzw. unangenehme Personen per se handelt, oder ob sie für mich nur durch den Umstand, neben mir zu sitzen, dazu werden.

Gut, ich habe wenigstens einen Sitz am Gang erwischt, habe also quasi nur einen Sitznachbar, als ich mich in die Delta-Maschine zurück nach München setze. Das Flugzeug ist halbvoll mit Amerikanern, einige davon auf dem Weg zum unvermeidbaren Oktoberfest. Die andere Hälfte sind Deutsche auf dem Weg in die Heimat, wo sie sicherlich besser hinpassen, als nach Amerika. Behaupte noch einer, Amerikaner würden sich oft unästhetisch kleiden und schnuddelig daherkommen, dem seien diese deutschen Touristen gezeigt mit ihren allzu deutschen, vom Urlaub gepeinigten Gesichtern und ihrer Sprache, die niemals jener der ARD-Nachrichtensprecher ähnelt, sondern immer sächsischer, niederbayerischer, schwäbischer oder irgendein anderer, nur schwer zu ertragender Dialekt ist. Sie schlurfen ungekämmt und ungewaschen in Trainingsanzügen durch die Flughafenhallen und jammern über alles, als hätten sie selbst – und nicht etwa die Österreicher – das Jammern erfunden.

Ich sitze neben einem Amerikaner. Sollte er sich auf dem Weg zum Oktoberfest befinden, wird es sicherlich kein allzu lustiges. Es handelt sich um eine vollkommen humorlose Person. Eigentlich handelt es sich um einen Streber. Er gibt sich Mühe, besonders aufrecht zu sitzen, hat eine Brille, die ihm zwar nicht passt, aber wahrscheinlich unheimlich „praktisch“ ist, seine Frisur ist, wenn schon nicht schön, dann jedenfalls „pflegeleicht“. Er hat Finger mit sehr kurzen Nägeln, sie sehen irgendwie aus wie Ingenieursfinger. Mit solchen Fingern tippt man auf Taschenrechnern herum oder hält Lineale, keinesfalls verwendet man sie zum Gitarre Spielen oder für obszöne Gesten.

Der Streber hält einen Kindle in der Hand. Ja, auch irgendwie vernünftig, denke ich mir, der hat sich den sicherlich aus Gründen der Umweltfreundlichkeit gekauft. iPad ist ihm unvernünftig zu teuer und andere Tablets sind ihm suspekt; daher Kindle: die vielen Bäume, die nicht gefällt werden! Gänzlich unsympathisch ist mir die Kunstlederhülle seines Kindles. Er klappt sie auf und hält sie so, als würde er ein tatsächliches Buch in der Hand halten. An der Seite seiner Kindle-Hülle ist eine Leselampe befestigt, die er eifrig über den Bildschirm biegt und einschaltet, als das Licht in der Kabine gedimmt wird. Die Leselampe sieht aus wie ein Fühler eines Glühwürmchens und irgendwie finde ich es drollig, wie stolz der Streber auf dieses Lämpchen offensichtlich ist.

Bei der Stewardess bestellt er überraschenderweise Wein. Was mich zuerst ein wenig stutzig macht, offenbart sich bald als eine Geste des eingebildeten Geschmacks. Tatsächlich trinkt er den Wein so, als handelte es sich dabei um etwas ganz Besonderes. Als hätte er keinen viel zu vollen Plastikbecher in der Hand, sondern ein Kristallglas. Als wäre es kein Tetra-Pak-Wein, sondern ein ganz besonders feinen Tropfen. Wieder finde ich das irgendwie lieb und überlege mir, was ich bestellen könnte, um ihn sich noch feiner fühlen lassen zu können. Bier möchte ich keines, sonst fällt mir nichts ein, also bestelle ich nichts. Das scheint den Streber ein wenig zu verunsichern. Asketismus, so kommt mir vor, dass er mich spüren lassen will, ist doch eigentlich seine Domäne!

So setzt sich der Streber noch ein wenig aufrechter hin und beschließt insgeheim, die ganze Flugzeit von 9 Stunden nicht aufzustehen. Das sollte ihm tatsächlich gelingen, denn sein nun praktizierter Asketismus lässt anscheinend sogar seinen Harndrang verstummen. Ich muss zugeben, dass ich am Ende des Fluges ein klein wenig beeindruckt war.

Die meiste Zeit liest der Streber, nur selten unterhält er sich mit seinem Begleiter, der links neben ihm sitzt. Mit mir unterhält er sich gar nicht und ich bin eigentlich sehr froh darüber. Ein gelegentliches Schielen auf seinen Kindle verrät mir, dass er einen Krimi liest. Ja vielleicht sogar eher einen Agenten-Roman, jedenfalls etwas furchtbar Geschmackloses. Meine neugierigen Ausflüge auf sein Display zeigen mir einen Dialog, in dem jemand aufgefordert wird, irgendwelche „Dokumente“ zu beschaffen. Ich erfahre außerdem, dass jemand für den KGB arbeitet, dass es einen Romanov gibt und dass jemand von Solothurn (gute Agentengeschichten müssen irgendwann immer auch in der Schweiz spielen) nach Frankfurt fahren muss und das in einem schwarzen Jaguar tut.

Ich glaube gar nicht, dass der Streber seinen Roman sonderlich gut findet. Vielmehr hat er ihn sich auf seinen Kindle geladen, weil er erstens so enthusiastisch seines vermutlich neuen E-Readers wegen war, und weil er zweitens der Meinung ist, dass man sich für einen langen Flug ein Buch kaufen sollte. Weil er sonst nichts liest, und sich von einem Spionage-Thriller (?) garantierte Unterhaltung erwartet hat, hat er sich dieses Buch gekauft. Und was er sich gekauft hat, das liest er auch. Denn das gehört sich so.

Was sich allerdings nicht gehört, ist, dass der Streber etwa alle 40 Minuten einen Puh lässt. Ich möchte mich gerne bei ihm beschweren, aber was ist leichter, als die Urheberschaft eines Flatus abzustreiten, noch dazu eines leisen? So begnüge ich mich damit, jedes mal, wenn mir eine seiner Entweichungen zur Nase steigt, wiederholt den Kopf zu schütteln. Mir ist bewusst, dass es sich hierbei um ein lächerliches Verhalten handelt, und ich weiß auch gar nicht, ob der Streber meinen Ausdruck verständnislosen Widerwillens zur Kenntnis nimmt. Aber wie soll ich mir sonst behelfen? Aha, denke ich mir, vorgeben, ein Asket zu sein und dann die ganze Zeit einen Puh lassen müssen! Eine solche Hybris lässt mich dann einfach ganz automatisch den Kopf schütteln...

Der falsche Asket verzichtet auch auf sein Frühstück. Vermutlich möchte er durch diesen Stop der Nahrungsaufnahme seinen Flatulenzen Einhalt gebieten. Oder er möchte wirklich beweisen, dass er einen 9 Stunden langen Flug ohne Frühstück und ohne aufs Klo zu gehen aushält. Ich merke, er will es mir beweisen. Und ich wünschte, er würde doch endlich aufstehen und auf die Toilette gehen, damit wenigstens mit dem unsäglichen Puh-Lassen Schluss ist. Doch er verweigert und liest sichtlich gelangweilt weiter seinen Agenten-Roman auf seinem Kindle mit dem lieben Leselicht, das er mit seinen Ingenieursfingern so ausrichtet, dass es möglichst effizient das Display ausleuchtet. In mir steigt eine kleine Wut hoch. Ich versuche, mir die Zeit mit Mahjongg-Spielen zu vertreiben, spiele hektisch ungefähr 50 Partien – irgendwie muss die Zeit doch totgeschlagen werden.

Als sich am Ende des Fluges der Streber erhebt und das Flugzeug verlässt, bin ich erleichtert. Ich bleibe sogar noch ein wenig sitzen, um sein Verschwunden-Sein noch etwas genießen zu können. Während sich bei mir ein paar Oktoberfest-Bayern vorbeischieben und mir wieder die anderen widerlichen Fluggäste einfallen, wird mir plötzlich klar, warum mir der Streber als Sitznachbar sozusagen gesandt wurde: Er sollte mir den Abschied von Amerika besonders leicht machen! Mission erfüllt, Ingenieur Puh!

Dienstag, 20. September 2011

Drehtüren

Wie abstrus schon allein der Grundgedanke der Drehtür an sich ist: Es handelt sich um eine Tür, die immer geschlossen ist. Die Drehtür sollte eine Tür ohne Luftzug sein und ist zu einer Tür ohne Charakter geworden. Drehtüren sind Undinge, Kommoditäten, die einem das Leben schwer machen und obendrein gefährlich sind (man denke nur daran, was alles in Drehtüren stecken bleiben kann!). Man sollte sie alle abschaffen, ausbauen, aus allen Bankfilialen, Mittelklassehotels und Museen dieser Welt entfernen und sie auf dem Friedhof jener Dinge, die sich zwar schick und praktisch anhören, aber eigentlich und im Grunde ihres Wesens nichts als ein großes Ärgernis sind, begraben. Gleich neben Plastikbesteck und solchen Sachen.

Zunächst irritiert an Drehtüren ihre Größe; besonders die Größe der „Zellen“ (jener Drehtürabteile, in die sich Menschen quetschen müssen, wollen sie die Drehtüre erfolgreich passieren) ist oft problematisch: Man nähert sich einer Drehtüre und die erste Aufgabe besteht darin, abzuschätzen, wie viele Leute denn in so ein Kompartment passen. Oft findet nur eine Person darin Platz, manchmal sind die Drehtüren aber auch groß genug, um mehrere Personen gleichzeitig passieren lassen zu können. Das Fassungsvermögen zu schätzen, ist aber in vielen Fällen gar nicht so einfach und nicht selten habe ich es erlebt, dass jemand dachte, er (meistens handelte es sich dabei um einen Mann) habe noch Platz, und sich geschwind in die sich gerade schließende Falte der Drehtür zwang, nur um dann feststellen zu müssen, dass er einer galanten Dame gerade viel zu nahe gekommen ist. Denn – auch dies beachte man! - die Drehtüre ist wie eine Kammer, die die Zeit verlangsamt: Leute springen hurtig in und aus Drehtüren heraus, befinden sie sich aber gerade mitten in der Tür, sind sie in Raum und Zeit gefangen - sie werden gebremst.

Das Studieren der Drehgeschwindigkeit ist nämlich das nächste Problem. Wie oft sieht man hoffnungsvolle Drehtürbenutzer vor der Türe lauern! Sie warten auf den richtigen Zeitpunkt – soll man noch warten, oder sich noch schnell in die sich gerade schließende Zelle zwängen? Zögernd und konzentriert wird auf die sich ständig öffnende und gleichzeitig schließende Türe gestarrt. Wie verwirrte Hunde stehen sie da und warten angestrengt – ja bemerkt denn keiner den Umstand, dass Drehtüren nur zu Verzweiflung führen? (Rolltreppen haben übrigens einen ähnlichen Effekt auf ihre Benutzer – besonders älteren Menschen fällt es oft schwer, sich für die richtige Stufe zu entscheiden, schießt doch ständig eine neue wie aus dem Nichts aus dem Boden hervor!)

Hat man sich nun für ein noch leeres Kompartment entschieden und es erfolgreich betreten, entsteht die nächste Verwirrung: Funktioniert diese Drehtüre automatisch oder manuell? Muss man selber schieben und drücken, oder dreht sich die Türe von allein? Bis man das herausgefunden hat, ist die Türe schon drei mal stehen geblieben. Entweder, weil sich alle der sich gerade in ihr befindlichen Personen darauf verlassen haben, dass sie automatisch funktioniert, sie aber in Wahrheit auf die Kraft der Passanten angewiesen ist. Oder aber es handelt sich um eine automatische Drehtüre, die ihre Funktion aus Sicherheitsgründen immer dann einstellt, wenn sie sich gedrängt fühlt; weil also alle Drehtürpassanten schneller durch sie hindurch wollen und deshalb allesamt drücken, was der Automatik der Türe gar nicht behagt und sie trotzig stillstehen lässt. Was dann passiert ist ein interessantes Beispiel dafür, wie die Gehirne mehrerer Menschen sich bei einer gemeinsamen Problemlösung gegenseitig kurzschließen können.

Kleine Versuchsanordnung: Automatische Drehtüre mit drei Personen (A, B und C)
  • Während C sich gerade in der Türe befindet, wollen sie A und B betreten. Beide drücken. Die Türautomatik wittert Gefahr und bleibt stehen. A und B schauen verdutzt, während sie beide unschuldig ihre Hände erheben, als ob sie sich vor der Türe ergeben wollten.
  • C indessen hat schon einen halb offenen Spalt vor sich, wittert also Freiheit, und will sich durch die Türe drücken, gerade als die Automatik der Drehtüre sich wieder dazu entschließt, das Karussell weiterfahren zu lassen. Aufgrund Cs unwirschen Vorgehens bleibt die Türe wieder stehen. Der Spalt ist aber gerade groß genug geworden und C kann, indem er sich noch unwirscher durch die Türe drückt, entweichen. C verliert dabei einen Sakko-Knopf.
  • A und B sind derweil gefangen und schauen einander fragend an. Da sich die Türe nicht bewegen will, versucht B es wieder mit ein wenig Druck. In diesem Moment setzt sich die Drehtüre ganz langsam in Bewegung. Bs Handeln hat mit der Funktion der Türe gar nichts zu tun, jedoch meint A in B den Verursacher der Bewegung zu erkennen und glaubt nun fälschlicherweise, dass die Drehtüre vermutlich doch auf mechanische Kräfte reagiert. Also drückt A, um die Bewegung der Türfalten zu beschleunigen, was wiederum die Türautomatik beleidigt. Sie bleibt erneut stehen.
  • Plötzlich ertönt ein Alarmgeläut – das sichere Zeichen dafür, dass hier irgendwas nicht in Ordnung ist. Man sieht wie A und B, gefangen in ihren jeweiligen Kompartments, die Köpfe hängen lassen, während dutzende Menschen auf beiden Seiten der Tür auf sie einschimpfen.

Um in Zukunft solche Situationen zu vermeiden, sei hier gesagt: Meistens haben nicht-automatische Drehtüren irgendwo Griffe oder für das Schieben und Drücken vorgesehene Flächen, damit man nicht mit den Händen am Glas herumtappen muss. Das ist aber auch nur eine Daumenregel. Und: In Ländern mit Linksverkehr passiert man Drehtüren im Uhrzeigersinn!

Habe ich vorhin darauf hingewiesen, dass Drehtüren Zeitkammern sind, in denen sich alles verlangsamt, so ist dies vor allem für die Fortbewegung innerhalb der Türe von Bedeutung. In Drehtüren wird nicht gegangen und schon gar nicht geschritten. Hier wird getrippelt und auf der Stelle getreten – möglichst kleine Schritte sind angesagt. Vor allem, wenn es sich um eine große Türe handelt und man sich hinter jemandem befindet, wünschte man sich oft, man könnte rückwärts gehen. Von hinten aber schiebt sich einem bedrohlich der nächste Flügel der Türe gegen die Fersen. Hier heißt es Ruhe bewahren und sich langsam und geduldig – tapp tapp tapp – nach vorne bewegen. Beobachten Sie Leute in solchen Drehtüren! Sie haben den Blick meist auf den Boden gerichtet.

Auch vor oder nach der Drehtüre ist Umsicht gefragt. Bei Hochbetrieb bilden sich nämlich schnell kleine Schlangen hektischer Menschen. Hier gilt gleiches wie beim Schilift: Dem Vordermann so nahe wie nötig, aber so entfernt wie möglich zu sein. Nicht auf die Schuhe treten und sich nicht auf die Schuhe treten lassen! In besseren Etablissements finden sich gleich nach den Drehtüren Schuhputzmaschinen – man weiß hier warum!

Das alles ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Ich möchte gar nicht genauer über die Gefahren und Ärgerlichkeiten von Drehtüren nachdenken – es würde mein Vertrauen in den menschlichen Erfindergeist erschüttern. Gott sei Dank hat sich in den letzten Jahrzehnten vieles zum Besseren gewandelt. Drehtüren sind seltener geworden, und dort, wo man sie noch findet, gibt es meistens rollstuhlfreundliche Seiteneingänge, die daueroffen sind, weil Ungeduldige keine Drehtüren benützen wollen und sich also durch diese, gar nicht für sie bestimmten Eingänge zwängen. So hat auch die „Tür ohne Luftzug“ ihren Sinn eingebüßt. Man kann nur hoffen, dass dieses Ärgernis keine weiteren Früchte trägt als jene der großen, zweizelligen Drehtüren, die man an den Eingängen von Möbelhäusern oder Baumärkten findet und die gar nicht so schlecht funktionieren, wenn man sich ein wenig geduldig zeigt.

Eine Tür, die immer geschlossen ist: Dass das ein Blödsinn sein muss, hätte man sich auch gleich denken können.

Sonntag, 18. September 2011

9 Gründe, warum ich noch kein Amerikaner bin

Kulturelle Assimilation - eine interessante Sache. Das ist, wenn man sich anpasst. Passiert umso häufiger und heftiger, je größer die Unterschiede zur eigenen Kultur sind. Und natürlich je abhängiger man von diesem Umfeld ist. Lebt man über zwei Monate mit einer amerikanischen Familie zusammen, wird man notgedrungenerweise einiges von deren Lebensstil übernehmen. Nicht wegen übermäßiger Begeisterung über den amerikanischen Lebenswandel, sondern einfach nur, weil es vieles im Alltag einfacher macht. "When in Rome do as the Romans do", sagen die Amerikaner gern, halten sich aber selber kaum daran. Ich versuche, diesem Motto getreu zu handeln und habe es bisher großteils genossen. Ein paar Sachen gibt es aber schon, an die ich mich nicht gewöhnen kann - und die mich daran erinnern, dass ich noch kein richtiger Amerikaner bin.

  1. Meine Konfektionsgröße ist noch nicht groß genug. So musste ich gestern entsetzt feststellen, dass mein übliches Large nicht immer jenes Large ist, das ich von daheim gewohnt bin. Ich bin hier nicht large, zumindest nicht immer. Manchmal bin ich nur medium. Auch gut, denn als ich mich im amerikanischen large-Hemd verschwinden sah, erkannte ich die Eleganz amerikanischer Mittelmäßigkeit. Schockiert musste ich feststellen, dass es hier auch XXL-Pullover gibt. Das sind dann mittlere Pferdedecken für Menschen, dessen Dimensionen mich schon in der bloßen Vorstellung gleichermaßen einschüchtern wie erschrecken.
  2. Ich dachte, ich hätte mich an die ubiquitäre Vollklimatisierung gewöhnt. Doch gerade in den letzten Tagen, da der September seine herbstlichen Züge in Form von tieferen Temperaturen offenbarte, fand ich immer wieder Orte vor, an denen vergleichsweise arktische Gegebenheiten herrschten. Es mag vielleicht herrlich sein, sich in ein Auto setzen zu können, in dem es 18 Grad hat, während es draußen 40 Grad hat. An einem Septembermorgen bei erfrischenden 21 Grad aber in eine Kirche zu spazieren (die übrigens ein ausgemustertes altes Kino ist), wo man dann bei gefühlten 14 Grad einer Predigt lauschen darf - das erinnert dann zu sehr an die katholischen Verhältnisse daheim. Zumindest klimatisch gesehen. Ich mag also nach wie vor keine Klimaanlagen.
  3. Weil wir gerade beim Thema sind: An die Allgegenwart Gottes kann ich mich auch nur schwer gewöhnen. Es ist gut zu wissen, dass man nicht allein ist auf der Welt, aber hier findet man Gott auf Münzen, auf Nummerntafeln, im Fernsehen, in den Facebook-Statusmeldungen neu gewonnener Bekannter und vor allem in den alltäglichsten Gesprächen - zum Beispiel im Supermarkt zwischen Tür und Angel oder an der Verkaufstheke. "Garst du mir die Shrimps, während ich noch Brot und Gemüse kaufe?" - "Ja, gerne!" - "God bless you!" Was ich aber zugeben muss: Die Gottesdienste hier sind ziemlich lässig und gar nicht so blöd. Wer weiß, was mit mir passiert wäre, wäre ich hier noch länger geblieben und jeden Sonntag in die Kirche gegangen...
  4. Ich esse immer noch zu gerne mit Messer und Gabel. Amerikaner haben das nicht so gern und daran ist gar nicht die Fastfood-Kultur (was immer das auch auch sein soll) schuld. Denn auch extrem slow Gekochtes nimmt der Amerikaner gern in die Hand. Man schneidet mit dem Messer, aber sobald sich eine Möglichkeit bietet, das Besteck zur Seite zu legen, wird das auch getan. So ergibt sich auch die Eigenartigkeit, manche Speisen mit Messer und Gabel in kleine Stücke zu schneiden, sodann das Messer zur Seite zu legen, bevor die Gabel von der linken in die rechte Hand wandert, welche dann das Essen zum Mund führt. Weil das so kompliziert ist, lässt man das Besteck so oft es geht lieber gleich ganz weg.
  5. Mülltrennung halte ich für eine gute Sache. Deswegen graut es mir immer noch davor, Bananenschalen in einen Mülleimer zu werfen, wo schon Plastikverpackungen, Aludosen, Papier und Glas zusammen mit verschiedensten Essensresten sich ein munteres Stelldichein geben. Oft mache ich daher die Augen zu, wenn ich etwas wegwerfe. Ja, ich gestehe: Ich verschließe die Augen vor dem Grauen der Welt, vor der gesellschaftlichen Unverantwortlichkeit usw. Aber es geht nicht anders. Zudem wird mir immer wieder versichert, es gebe "Mexikaner", die für das Sortieren unseres Hausmülls bezahlt würden. Na dann...
  6. Gewehre und Pistolen sind für Soldaten, Polizisten und Jäger. Es sind keine Sammel- und Fetischobjekte, mit denen man mal eben schnell hinters Haus geht und die Nachbarn erschreckt. Selbstverteidigung? Von mir aus, aber dafür reicht doch auch eine Pistole - dafür braucht man keinen Schrank voll.
  7. Nicht jedes Getränk muss so gekühlt sein, dass es beim Trinken weh tut. Amerikaner sind Eiswürfelfanatiker. Ohne Eis ist ein Getränk kein Getränk. Egal, ob es sich bis unmittelbar vor dem Konsum im Kühlschrank befunden hat oder nicht. Du trinkst Wasser (das aus dem Kühlschrank kommt) ohne Eis? Gibt's nicht. Tu doch Eiswürfel rein! Warum? Weil es dann kälter ist! Wie, du willst es nicht kälter? Schön kalt muss es sein, sonst kann man das ja überhaupt nicht trinken. - Was, du meinst, das viele Eis nimmt deinem Getränk den Geschmack? Das Getränk muss doch nicht schmecken, es muss kalt sein! Tut mir leid, ich verstehe das bis heute nicht. Ich verwende Eiswürfel nur dann, wenn ich ein Getränk gekühlt haben will, das vorher ungekühlt war. Kälte ist keine Geschmacksrichtung, der ich etwas abgewinnen könnte. So zweifle ich bis jetzt auch an der Geschäftsidee meines Onkels, in Österreich Eiswürfel zu verkaufen. "Believe me, they would love it!", sagt er. Dass wir Eiswürfel haben, sie nur nicht überall hineingeben, versteht er gar nicht.
  8. Ich glaube nicht, dass Zu-Fuß-Gehen eine niedere Form der Fortbewegung ist. In den USA - zumindest in den ländlicheren Gegenden, werden Leute, die zu Fuß gehen, belächelt. Wer zu Fuß geht, muss wohl irgendwas falsch gemacht haben - er kann es sich wohl nicht leisten, zu fahren. Jeder Meter zu Fuß ist einer zu viel, denn Gehen ist anstrengend. Warum sollte man also gehen wollen? Das Konzept des Spazierens würde ich hier gerne mal vor einem größeren Publikum erläutern und dann in der Empörung, die mir förmlich entgegenströmen würde, baden.
  9. Kartoffelchips sind keine Beilagen für Sandwiches, Hotdogs oder andere "Hauptspeisen". Es sind ungemein ungesunde Knabbereien, von denen man möglichst wenig essen sollte. Hier wird man ernsthaft gefragt, ob man Kartoffeln oder Chips als Beilage für sein Abendessen haben möchte. Chips sind hier Grundnahrungsmittel. Müsste man das Notwendigste einkaufen, das eine amerikanische Familie an einem typischen Tag braucht - Kartoffelchips dürften auf keinen Fall fehlen. Milch, Brot (haha), Fleisch, Käse (haha) Chips, Kekse/Cracker. Speck und Eier vielleicht noch, dann hat man alles. Das Gute daran: Amerika ist ein Paradies für Kartoffelchips-Connaisseure - keine Sorte, die es hier nicht gibt. Das Schlechte daran: Man sieht es den Menschen an.
Man sieht: am schwierigsten gestaltet sich die kulturelle Assimilation beim Essen. Das Essen ist auch das, was ich am wenigsten vermissen werde. Nicht, dass es schlecht wäre. Es gibt hier natürlich auch viele interessante kulinarische Sachen zu entdecken. Aber irgendwie lässt dann die Bandbreite an tatsächlich gegessenen Nahrungsmitteln (Steak, Hühnchen, Speck, Bohnen, Kartoffeln) und deren Zubereitungsarten (frittiert, gekocht, gegrillt) doch zu wünschen übrig.