Mittwoch, 13. Juni 2012

Der Unaussprechliche und der Teufelskerl

Manchmal glaubt man, aus einer ungerechtfertigten Arroganz heraus, irgendein Spiel nicht anschauen zu müssen. Man meint etwa, bei den Begegnungen zwischen Tschechien und Griechenland oder Russland gegen Polen nicht viel zu versäumen. Freilich vermutet man, dass man sich da auch täuschen könnte, denn die Gruppe A hat sich doch weniger als das Kondensat des Bösen gezeigt, denn als wirklich interessante Ansammlung scheinbar kleinerer Fußballnationen, die bei jedem Spiel um ihr Leben spielen zu scheinen. Das ist durchaus vergleichbar mit den Nordkoreanern bei der WM vor zwei Jahren, nur mit zwei Unterschieden: 1. Die Nordkoreaner konnten überhaupt nicht kicken und 2. ging es bei denen wirklich um's nackte Überleben.

Gestern also nahm ich das mit dem Fußball-Schauen nicht gar so ernst, schaltete erst 20 Minuten nach Spielbeginn zu und wurde prompt dafür bestraft, denn da stand es schon 2:0 für Tschechien. Jetzt ist es natürlich nicht so, dass Fußballspiele nur aus Toren bestehen, und sie allein des Netzens wegen anschaubar sind, aber der Moment des Tores ist halt schon ein Höhepunkt in einem Spiel, an den man sich erinnern kann und letztlich der einzige Höhepunkt, der am Ende zählt. Nun hatte ich also schon zwei Tore versäumt und dachte, dass es schon eine gewisse Komik hätte, würde die restlichen 70 Minuten nichts mehr passieren.

Als ich dann aber die hochmotivierten Griechen sah, wie sie voller Mut, ohne falsche Bescheidenheit und vor allem ohne Unterlass auf das tschechische Tor stürmten, merkte ich, dass ich belohnt werden würde. Seit acht Jahren ist mir der griechische Fußball ein Dorn in Auge, doch das gestrige Spiel hat, wenn nicht alles, so doch einiges meiner Reserviertheit aufgeweicht. Natürlich spielt es sich mit dem Rücken zur Wand ganz anders, aber ich glaube mich auch an Spiele erinnern zu können, in denen die Griechen offenbar versuchten, einen Rückstand zu verteidigen (1. Spiel bei der WM vor zwei Jahren gegen Südkorea). Der Fortschritt ist spürbar, auch wenn es erst ein 0:2 braucht, um den Willen zu mobilisieren.

Letztlich wurden die Griechen dann auch mit einem Tor belohnt, das heißt, der gütige Petr Cech hat ihnen eines geschenkt: In der Manier eines englischen Torhüters lässt er in der 53. Minute den Ball durch seine Finger gleiten, der springt Gekas vor die Füße und es steht 1:2. Kein schönes Tor, aber eben ein gütiges, das wieder an sowas wie einen Fußballgott glauben lässt. Letztlich reicht es aber dann doch nicht, Tschechien hat sich „zurück ins Turnier geschossen“ (eine Phrase, die ganz exklusiv für die zweite Runde der Gruppenphase reserviert ist) und Griechenland müsste jetzt schon mindestens gegen Russland gewinnen, um sich „ins Viertelfinale zu schießen“ (diese Phrase wird in der nächsten Runde aktuell).

Die Russen und die Polen lieferten sich im und vor dem Warschauer Stadion einen erbitterten Kampf. Was vor dem Stadion passiert ist, hat aber wenig mit Fußball zu tun, denn da ging es mehr „um die Weltgeschichte“, wie ein kundiger Besucher des EM-Beisls in der Grazer Franziskanergasse bemerkte. Dort habe ich mir nämlich dann das zweite Spiel angeschaut – in gewohnt traurig angestaubter Atmosphäre, die, so kam mir vor, ganz gut zur Ostblock-Begegnung passte. Was aber auf dem Platz passierte, war ganz und gar nicht angestaubt, sondern viel eher wie Hälfte zwei von Schweden gegen Ukraine: emotional und aufregend.

Für Russland traf wieder der kleine Dsagojew, der jetzt schon drei Turniertreffer verzeichnen kann. Ein Teufelskerl, so hätte man ihn früher genannt. „Dieser Teufelskerl Dsagojev“, hätte man gesagt, oder auch „das Schlitzohr“, obwohl er vielleicht gar nichts Schlitzohriges getan hat. Heute sagt man ja solche Sachen nicht mehr. Dass ausgerechnet der kleinste Russe ein Kopfballtor macht, ist vielleicht ein bisschen schlitzohrig, dann aber wieder nur der polnischen Verteidigung anzulasten, die ihn „sträflich alleingelassen“ hat. Also trifft der Teufelskerl, nachdem Kerschakow wieder durch Wirkungslosigkeit im Abschluss glänzte. Vielleicht bekommt Dsagojev am Ende einen goldenen Schuh für die meisten Tore. Dann aber hätte sich Kerschakow einen hölzernen Schuh als wirkungsloseste Spitze verdient. Kein Teufelskerl, der Kerschakow. Kerschakow... das klingt wie ein Gewehr; wie eine Damenvariante der Kalaschnikow. Ein Sturmgewehr für die Handtasche: ja, so spielt er auch, der Kerschakow.

Nachdem ich an diesem Tag schon zwei Tore versäumt hatte, muss ich den ambitionierten Polen für deren Ausgleichstreffer danken. Gestern habe ich nämlich noch bemängelt, dass es ein bisschen an den schönen Toren fehlt. Und dann kommt der unaussprechliche (Moment, hier google ich jetzt …) Blaszczykowski (copy&paste!) und macht ein ganz wunderbares Tor. Über die rechte Seite aus dem Lauf heraus nimmt er den Ball an, nur eine kurze Berührung, weiterlaufen, Schuss ins lange Eck, passt genau. So elegant, so einfach war das, so lässig: Ein Tor wie im Vorbeigehen. En passant nennt sich das im Schach, wenn ein Bauer einen anderen Bauern quasi im Vorüberschreiten schlägt. Oder auch so, wie wenn man im Supermarkt auf dem Weg in die Gewürzabteilung bei den Süßwaren vorbeikommt und eine Tafel Nussschokolade lässig in den Einkaufswagen gleiten lässt, und das dann auch noch gut aussieht. Kann nicht jeder – der Unaussprechliche aber kann es.

Unaussprechlich ist er ja gar nicht, der Blaszczykowski; so annähernd bekommt es der österreichische Mund schon hin. Aber schreiben Sie den mal richtig! Zehn Mal hintereinander ohne Fehler, da kommt man sich vor wie in der Volksschule... Ich bin ja gestern schon an Schewtschenko gescheitert, er wurde bei mir zunächst zum Schwetschenko. Aber klar, wann hat man sonst schon mal ein Wort mit „Schew“, viel mehr Wörter gibt es bei uns mit „schwe“. Schwierig ist das, vor allem, wenn Schewtschenko gegen Schweden spielt. Das ist die digitale Analogie zum Zungenbrecher: die fractura digitalis, ein Fingerbrecher also. Da schmeißt es den geübtesten Tipper! Und wir Österreicher kapitulieren ja eh schon, wenn ein Name komplizierter ist als Sedlacek oder Jukic. Also üben: Blaszczykowski, Blaszczykowski, Blaszczykowski, Blaszczykowski....

So, das war alles gestern. Die Gruppe A ist rehabilitiert, man kann jetzt schon sagen, dass sich die Mannschaften hier ganz gut verkauft haben. Erwartet stark natürlich die Sbornaja (mein Lieblingswort, noch vor Squadra Azzurra), ein bisschen schwach aber abgebrüht die Tschechen, bemüht und begeisternd die Polen, die Griechen zumindest auf dem richtigen Weg zurück in den Fußball. Wunschaufsteiger sind nach dem gestrigen Spiel aber eindeutig Russland und Polen – mit denen kann man im restlichen Turnier durchaus noch was anfangen. Das Kondensat des Bösen ist zur diabolischen Reha-Klinik geworden, und das ist besser als es klingt.

Heute geht es allerdings schon um die sprichwörtliche Wurst, denn für die Niederlande heißt es „verlieren verboten“ (auch ein Zweitrunden-Jargon) und die Deutschen werden einen Teufel tun und es ihnen leicht machen. Von beiden Mannschaften erwartet man sich eine Steigerung und wenn das beide hinbekommen, dürfte das ein richtig gutes Spiel werden. Zwar wird van Marwijk gerade gegen Deutschland auf die zwei 6er van Bommel und de Jong nicht verzichten können, aber vielleicht lässt er sich sonst etwas Schlaues einfallen, um 16 Millionen arme Menschen vor einer Depression zu bewahren. Ich würde es ihm danken, indem ich nicht mehr über Robben schimpfe. Arjen Robben meine ich, Robben beschimpft man weder, noch knüppelt man sie. Robben besprüht man mit bunten Farben, damit die Grönländer sie nicht knüppeln (sind Grönländer nicht eigentlich Dänen?). Aber den Arjen Robben, der darf man nur knüppeln, wenn er wieder so spielt wie beim letzten Mal. Knüppeln und besprühen. Alle zusammen auf Niederländisch: „Knuppelen en besproeien!“ Süß klingt das... Wie süßer Wahnsinn. Wahnsinn heißt auf Niederländisch „gekte“. Und van Gogh soll gesagt haben: „Oranje is de kleur van gekte“ (Orange ist die Farbe des Wahnsinns). Na also!




Mann des Tages: Jakub Blaszczykowski für ein anständiges Tor und die Tippübungen.


Buhmann des Tages: Petr Cech. Als einer der (nominell) drei besten Torhüter dieses Turniers darf einem einfach kein Engländer passieren. Auch, wenn es nichts am Spielausgang geändert hat: das war richtig schwach.


Kuriosum des Tages: Konstantinos Chalkias, der griechische Torhüter, der sich in der 23. Minute selbst austauschte. Natürlich war es nicht, wie der ORF-Kommentator vermutete, sein verpatzter Ausschuss und die beiden frühen Gegentreffer, die uns „einen Einblick in die Seele eines griechischen Fußballspielers“ boten, sondern einfach eine Oberschenkelverletzung. Seltsam war es trotzdem.

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