Dienstag, 19. November 2013

Der Ribisel-Tarzan

Der Lackenbrunner Loisl war den meisten wegen seiner schmächtigen Statur nur als „Ribisel-Tarzan“ bekannt. Obschon ihn niemand so nannte. Alle sagten immer Loisl zu ihm, aber dass er mit Nachnamen Lackenbrunner hieß, wussten eigentlich nur die Allerwenigsten. Auch, ob er tatsächlich den Namen Alois trug, war den meisten nicht bekannt und auch ziemlich egal. Schließlich handelte es sich bei „Loisl“ um einen gebirglerischen Gebrauchsnamen, der mit dem eigentlichen Taufnamen nicht immer was zu tun haben musste. Sepp, Franz, Fritz, Gustl, Lois … Die meisten hatten die ursprüngliche Herkunft nicht im Sinn, wenn sie Menschen mit solchen Namen bedachten. Da konnte es durchaus passieren, dass ein Reinhard Matthias Fockinger zum „Hiasl“ verkam, weil just sein zweiter Vorname den gebräuchlichsten Gebrauchsnamen abgab. So kann also nicht mit Sicherheit bezeugt werden, dass der Lackenbrunner Loisl auch tatsächlich ein Alois war oder gar ein Blasius Aloisius, oder ob man einfach in Ermangelung eines realen Vornamens ihm irgendwann den „Loisl“ andichtete und Lackenbrunner selbst einfach lernte damit zu leben. Ein Bertram Ägidius etwa nahm oft gerne einen „Loisl“ an, zum Beispiel als Schulbub, wenn der „Bertl“ schon an einen waschechten Ro- oder Albert vergeben war. Ob es beim Lackenbrunner auch so war, das weiß wie gesagt niemand so genau. Aber in Wahrheit nannte ihn ja ohnedies jeder den „Ribisel-Tarzan“ oder einfach nur „Ribisel“ - und jeder wusste, wer gemeint war.


Der Ribisel-Tarzan bekleidete eine ungemein wichtige Stelle in der Gemeinde, obwohl niemand genau wusste, welchen Namen oder welche Funktion diese Stelle hatte. Was der eigentliche Aufgabenbereich des Loisls war, wusste ebenso keiner. Aber danach wurde ja ohnehin nie gefragt, wenn es um Gemeindeposten ging. Wichtig war nur, und das betonte der Ribisel immer und immer wieder, dass er kein, wie er sagte, „Stempelkarussellfahrer“ war. Damit meinte er, dass er keinen Amtsposten bekleidete, der mit Verwaltung oder Parteienverkehr zu tun hatte. Denn wer schon einmal auf einem Amt war, der weiß, was ihn erwartet, wenn neben dem Beamten, mit dem es zu verhandeln gilt, ein Stempelkarussell steht. Viele Stempel auf einem drehbaren Stempelhalter: Das bedeutet, dass es hier nichts umsonst gibt und man womöglich mehrmals aufkreuzen muss. Es bedeutet auch Unkenntnis der Sachverhalte, Desinteresse von Amts wegen und behördliche Ignoranz. Niemand möchte eigentlich mit solchen Leuten zu tun haben müssen, die neben einem Stempelkarussell sitzen. Und so betonte der Loisl immer wieder, dass er eben keiner von diesen war.


Arbeiten sah man den Loisl eigentlich auch nie. Meist befand er sich im „Außendienst“, wie er einem immer versicherte, sollte man sich getraut haben, nach seinem Aufgabenbereich zu fragen. „Außendienst. Gemeinde!“, sagte er dann nur und lächelte vielsagend. Fakt ist, dass man ihn öfter in der örtlichen Branntweinschenke antreffen konnte. (Was waren das für Zeiten, als es noch Branntweinschenken gab! - Ich weiß es nicht, ich hab sie nie erlebt…) Als diese einzige Branntweinschenke der Gemeinde Ende der 80er Jahre zusperrte, zogen sich Leute wie der Loisl in abgelegene Kaffeehäuser zurück, die den Leuten bald nur mehr als „Trinker-Cafés“ bekannt waren. Nun war der Ribisel bei Gott kein Trinker; doch liebte er die Geselligkeit. Und er hatte Zeit. Dass der Loisl mit seinem Gemeindeposten so viel Zeit hatte, störte viele rechtschaffende Bürger. Noch mehr giftete es sie, wenn der Loisl immer lachend verkündete „Ach, ich bin bei der Gemeinde. Ich habe ja Zeit!“


So brodelte natürlich die Gerüchteküche, was der Loisl denn bei der Gemeinde genau machte. Die Spekulationen reichten von „Promenadenpolizist“ bis zu „Fassadenkontrollor“ und waren wohl nie wirklich ernst gemeint. Das machte auch nichts, denn der Loisl engagierte sich in seiner Freizeit (sprachen die anderen Leute über Ribisels Freizeit, malten sie dabei stets Gänsefüßchen in die Luft) für den örtlichen Fußballverein. „Und zwar ehrenamtlich“, wie der Loisl bei jeder Gelegenheit stolz versicherte, obwohl niemand irgendetwas anderes von ihm erwartet hätte. „Der Ribisel“, sagten die Leute immer, „ist ein komischer Kauz. Aber im Verein tut er schon viel!“ Mit „Verein“ war stets der Sportverein, der Fußball, Tennis und Eishockey in sich vereinte (ha!), gemeint. Die übrigen Vereinigungen in der kleinen Gemeinde waren zwar rechtlich gesehen auch Vereine, nannten sich aber offiziell immer „Clubs“, weil dies in den Augen ihrer Mitglieder seriöser klang. Es gab den Schachclub, den Fischereiclub und den Akkordeonclub. Als dann der Schützenverein sich auch noch in „Club der Schützen“ umbenannte, entwertete das einerseits den Clubbegriff gewaltig, aber der Sportverein freute sich, denn nun hatte er als Verein natürlich ein Alleinstellungsmerkmal und es umgab ihn die „besondere Aura des Elitären“, wie der Landes-Sport-Rat einmal übertrieben feststellte, als die Eishockey-Sektion die Landesliga gewinnen konnte.


Was der Loisl im Verein alles tat, konnte man kaum an zwei Händen abzählen. Denn tatsächlich war er im Verein für fast alles zuständig. Er trainierte die Super-Minis im Fußball, war Platz- und stellvertretender Zeugwart, organisierte sämtliche Vereinsveranstaltungen, half wo immer es Ausbesserungsarbeiten an den Vereinsgebäuden zu erledigen gab und war auch der soziale Knotenpunkt des Vereinsgefüges. Wann immer jemand irgendwas vom Verein brauchte, ging er zuerst zum Ribisel-Tarzan und der machte das dann bzw. leitete er es in die Wege, denn der Ribisel sagte immer „wird in die Wege geleitet!“, um seinem Tun etwas Offizielles zu geben. Für all das nahm der Ribisel aber tatsächlich kein Geld, weil er, wie er behauptete, „bei der Gemeinde“ schon genug verdiente. Manche vermuteten gar, der Ribisel vertrat Gemeindeinteressen im Verein, war also quasi als Maulwurf von der Gemeinde in den Verein entsandt. Aber diese Leute überschätzten wohl einerseits das politische Interesse des Ribisels und andererseits auch das Interesse der Gemeindeführung, in die Machenschaften des Vereins hineinzupfuschen. Kurzum: Der Loisl war eigentlich der Verein - ohne ihn ging nichts.


So traf sein plötzliches Verschwinden vor allem den Sportverein hart. Niemand wusste, wo der Ribisel geblieben war, aber nachsehen konnte auch keiner, denn niemand kannte ihn persönlich. Die Vereinsleute kannten ihn vom Verein, die Trinker in den Trinker-Cafés vom Café, die Promenierenden von der Promenade usw. Doch niemand kannte des Ribisels Familie oder wusste, ob er überhaupt eine hatte. Niemand nannte sich einen engen Freund und so kannte auch niemand die Wohnung oder das Haus, in dem der Ribisel wohnte. Als man bei der Gemeinde nachfragte, ob die wüssten, wo der Ribisel geblieben sei und wo er wohnte, stellte sich heraus, dass tatsächlich alle Gemeindebediensteten dachten, der Ribisel-Tarzan würde bei ihnen arbeiten, aber keiner konnte sagen, in welcher Abteilung er war und was er dort machte. Alle Abteilungen wurden durchgefragt, niemand hat je mit ihm zusammengearbeitet, aber jeder hat ihn gekannt. Auch, dass niemand seine genaue Funktion kannte, störte keinen wirklich. „Das weiß man hier von vielen nicht, was die den ganzen Tag machen“, hat die Sekretärin des Bürgermeisters einmal gesagt und damit dem Rätsel um den Lackenbrunner Loisl ein Fundament verpasst. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass jemand Zeit seines Lebens als „Phantombeamter“ bei der Gemeinde tätig ist? Doch woher hatte der Loisl dann sein Geld bezogen? Und wohin war er verschwunden?


Gemutmaßt wurde noch lange, doch geklärt hat sich die Sache nie. Die meisten behaupteten, der Ribisel hätte sich „versoffen“, was in dieser Gemeinde komischerweise die allgemein akzeptierte Erklärung für ein plötzliches Verschwinden war. Andere behaupteten, der Loisl wäre wahnsinnig geworden und ihn habe der „Zeiseiwagen“ geholt, wie die Leute sagten. Die Wirtin des Trinker-Cafés meinte, der Loisl habe in der Lombardei eine Freundin gehabt, die mit einem Turiner Millionär verheiratet war, und zu der sei er wohl gegangen als ihr Mann gestorben war. Das glaubte ihr aber kaum jemand. Alles, was vom Loisl blieb, waren Rätsel und sein vortrefflicher Spitzname, der jedes Mal, wenn ihn jemand nannte, ein Feuerwerk an Anekdoten zu zünden vermochte. Wo immer der Ribisel-Tarzan auch war - er musste zufrieden sein mit dem Streich, den er allen anderen spielte, und den er sein Leben nannte.