Montag, 21. Oktober 2013

Der Geruch des Lebens

"So wie einer am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!", verkündete der Student und kicherte zufrieden in seinen Cappuccinoschaum hinein. Die Spitzenkandidatin ermahnte ihn sofort: "Oder wie EINE!" Sie häkelte an etwas, das wie eine tibetische Gebetsfahne aussah. Genau genommen konnte es aber alles mögliche sein. Dazu trank sie fair gehandelten Jojobaöltee aus Surinam, wie sie zuvor stolz verkündet hatte.
"Wie, was? Eine? Häh?" Der Student schien verwirrt zu sein.
"Naja, das Leben riecht doch auch wie EINE morgens aus dem Mund, oder?", fragte die Spitzenkandidatin streng, während sie im Häkeln kurz innehielt und über den Rand ihrer Brille lugte. Es sah aus, als wäre ihr die Brille zufällig auf die Nasenspitze gerutscht, doch in Wahrheit trug sie ihre Brille immer so.
"Tja, also, das weiß ich jetzt nicht. Vermutlich schon. Ja, da hast du wahrscheinlich Recht… hm…" macht der Student und sah tatsächlich so aus als würde er grübeln. Schließlich sagte er nur: "Aber das sagt man halt so. Man sagt halt 'So wie einer aus dem Mund' und meint dann halt alle. Also die Menschen, beziehungsweise den Menschen an sich!"
"Das ist ja genau das Problem!" Die Spitzenkandidatin ließ jetzt ihre Häkelarbeit in den Schoß sinken und der Student wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Eigentlich war er nur hier hergekommen, um den Wohnungskollegen der Spitzenkandidatin zum Fußball abzuholen. Der war aber gerade am Klo und so hatte der Student gedacht, es wäre eine gute Idee, mit der Spitzenkandidatin ein Gespräch zu führen. Er war der Meinung, dass sie eine Vorliebe für "schräge Sätze" hatte, und so hatte er sich schon vor Wochen diesen Satz zurechtgelegt und hatte nur auf die Gelegenheit gewartet, ihn "anbringen" zu können, wie er es ihrem Wohnungskollegen immer angekündigt hatte. "Irgendwann bring ich den an!", hatte er sich immer gefreut und gesagt: "Der ist gut, der Satz! Sehr gut sogar! Das haut die um, ganz sicher!"


Die Spitzenkandidatin elaborierte: "Dieses Mit-Meinen, das funktioniert nicht. Das ist immer die billige Ausrede. 'Frauen sind immer mitgemeint', wie oft habe ich den Schwachsinn schon gehört! Es ist doch so: Wenn wer mit-meint, dann kann er auch mit-sagen. Woher weiß man denn, dass frau wirklich mitgemeint ist? Ich kann ja nicht einfach davon ausgehen, dass sich wer mitgemeint fühlt, wenn ich den oder die dann nicht anspreche." Sie sagte wirklich "frau" statt "man", und das imponierte dem Studenten in gewisser Weise schon. Das war offenbar eine konsequente Frau, die redete nicht nur, die tat auch was! Eine Spitzenkandidatin, völlig zurecht!
"Naja", sagte der Student verlegen und nach kurzem Innehalten, "ich habe mir halt auch gedacht, dass das nicht sehr galant ist, wenn man sagt: 'So wie eine am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!'. Da hättest du dann wahrscheinlich auch protestiert und gesagt, was mir überhaupt einfallen würde, ob denn nur Frauen am Morgen aus dem Mund riechen würden und so weiter. Also hab ich mich für die männliche Variante entschieden." Das war natürlich gelogen, aber um Spontanausreden war der Student noch nie verlegen gewesen.
"Aso! Aha!", rief die Spitzenkandidatin aufgebracht, als hätte sie darauf nur gewartet. "Das ist ja da nächste chauvinistische Vorurteil, das Mann dauernd anbringt!" (Hier freute sich der Student kurz, dass sie auch das Wort "anbringen" verwendete.) "Wieder so quasi die Frauen, die sind ja von Natur aus rein und sauber und stinken nicht, die Männer aber schon, weil die das dürfen. Das ist ja wieder derselbe Quatsch, das geht ja alles in die gleiche Richtung." Obwohl sie gerade noch den Eindruck erweckt hatte, als wäre sie ehrlich erbost - sie hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet und den Studenten scharf über die Brille hinweg angesehen -, sackte ihre Aufgeregtheit nun schon etwas ab. Sie nahm einen Schluck vom Jojobaöltee und sank irgendwie zufrieden in ihren Sessel zurück, um sich wieder ihrer Gebetsfahne, oder was das auch immer war, zu widmen. "Eine müde, alte Dame, die so ein Gespräch schon hunderttausende Male geführt hat und eigentlich keine Lust mehr darauf hat, weil am Ende das Unverständnis steht", dachte der Student und die Erkenntnis machte ihn irgendwie traurig. Trotzdem bemühte er sich um eine Fortführung des Gesprächs.
"Ja, hm. Also irgendwie hast du da natürlich Recht. Aber der Satz verliert ja auch an Knackigkeit, wenn man sagt: 'So wie einer oder eine am Morgen aus dem Mund- so riecht das Leben!" Es war eine Verzagtheit in seinen Worten, die zu groß geraten war; so verzagt wollte er gar nicht klingen, nur ein bisschen unsicher, um sie wieder in Fahrt zu bekommen. Daher war er froh, als in diesem Moment der Mitbewohner der Spitzenkandidatin vom Klo zurück kam.


"Was? Wie riecht das Leben? Sag nochmal!", wurde der Student sofort aufgefordert, seine Weisheit zu wiederholen. Die Spitzenkandidatin blickte ihn prüfend an, was den Studenten natürlich nervös machte, obwohl er sich auch freute, dass sie jetzt wieder da war.
"So wie einer oder eine am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!" wiederholte er brav.
Der Mitbewohner blickte ihn ratlos an. "Was? Wie einer oder eine? Was meinst du da?"
"Na eben einer… oder halt eine! Mann oder Frau. Kann ja beides sein. Die Frau ist ja nicht automatisch mitgemeint, und Frauen können am Morgen auch aus dem Mund riechen. Also einer - oder eine!", erläuterte der Student umständlich. Die Spitzenkandidatin musste kurz grinsen, gab sich aber alle Mühe, dies zu verbergen. Also griff sie schnell zur Teetasse.
"Aha. Und so riecht das Leben? Wie einer aus dem Mund? Oder eine? Versteh ich nicht." Der Mitbewohner kannte sich noch immer nicht ganz aus.
"Nein. Also ja. Nein, der Satz geht nur so. Also wenn man ihn so sagt: 'Wie einer am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!'. Den kann man nicht umstellen. Sonst leidet die Knackigkeit darunter!"
"Ja, aber ich dachte einer oder eine?", stellte sich der Mitbewohner nun extra blöd, obwohl er den Satz ja schon lange kannte. Schließlich wusste er, dass der Student nur darauf gewartet hatte, ihn endlich "anbringen" zu können.
"Ja eh. Na, also der ursprüngliche Satz, so wie ich ihn gedacht hatte, war: 'So wie einer am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!' Aber dann hat sie gesagt, das geht nicht, weil die Frauen da nicht mitgemeint sein dürfen, sondern extra erwähnt werden müssen." Der Mitbewohner musste ein bisschen grinsen ob des Theaters, das der Student da jetzt aufführte, indem dieser vorgab, dem Mitbewohner noch nie zuvor von dem Satz erzählt zu haben.
"Das ist aber uncharmant!" rief der Mitbewohner deshalb vergnügt und sah die Spitzenkandidatin erwartungsvoll an.
"Ja, aber charmant darf man nicht mehr sein, weil das ist chauvinistisch. Oder so", wehrte sich der Student während die Spitzenkandidatin zufrieden lächelte.
"Aha. Weiß ich aber trotzdem nicht, was ich davon halten soll. 'Eine oder einer' hin oder her."
"Von was?", fragte der Student.
"Wovon!", rief die Spitzenkandidatin, "nicht von was. Wovon!"
"Ja, von wo äh wovon. Wie jetzt?" Das war dem Studenten jetzt zu viel.
"Na von dem Satz. Da weiß ich nicht, was ich von dem halten soll."
"Davon!", korrigierte die Spitzenkandidatin.
"Nein nein, von dem! Von dem Satz. Ich mein den Satz, den konkreten Satz. Da verwende ich 'dem', damit klar ist, dass ich den Satz gemeint habe und nicht irgendwas Allgemeines", wusste sich der Mitbewohner zu helfen. Er war ein ähnlicher Klugscheißer wie die Spitzenkandidatin eine Klugscheißerin war.
"Hm, ja. Hast Recht" sagte die Spitzenkandidatin nur schulterzuckend und widmete sich wieder der Häkelei. Der Student war verblüfft.
"Wie du weißt nicht, was du von dem halten sollst?" konzentrierte er sich wieder auf seinen Satz und den Mitbewohner.
"Ja, weiß nicht. Erstmal nichts. Ich halte lieber erstmal nichts davon."
"Von dem! Warum jetzt 'davon' und vorher hast du auf 'von dem' bestanden? Das ist doch inkonsequent!" erregte sich die Spitzenkandidatin wieder.
"Ja, von dem. Erstmal halt ich nichts von dem Satz. Erstmal nichts davon halten hat sich bewährt", meinte der Mitbewohner ruhig. "Übrigens auch ein guter Satz", schob er nach, "Erstmal nichts davon halten hat sich bewährt. Gut, oder?"
Der Student schien ein wenig beleidigt und wollte nicht auf den Satz des Mitbewohners eingehen: "Wieso hältst du nichts davon? Der ist doch gut! Also in seiner ursprünglichen Form, ohne die Gender-Problematik."
"Ts, Problematik!", sagte die Spitzenkandidatin leise und verdrehte dabei übertrieben die Augen.
"Sag doch 'jemand'! Dann sparst du dir das mit 'einer oder eine'", schlug der Mitbewohner vor.
"Ha!", machte die Spitzenkandidatin, "Jemand! Je-Mann-d! Da steckt überall der Mann drinnen!"


"Das ist jetzt nicht dein Ernst?" Der Student war ehrlich entsetzt. Die Spitzenkandidatin hingegen kicherte eigentümlich versöhnlich. Nahm sie ihn auf den Arm? Neckte sie ihn gar?
"Das klingt ja wie Kafka. Jemand…" Der Mitbewohner schien sich wirklich Gedanken zu machen. "'So wie jemand am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!'. Nein, das klingt zu mystery-mäßig, zu anonym. Das ist ja wer konkreter, der da aus dem Mund riecht."
"Jemand konkretes!" korrigierte die Spitzenkandidatin sofort.
"Nein, jemand konkreter!" behauptete der Mitbewohner fest.
"Da wären wir ja schon wieder beim er!" Und da hatte die Spitzenkandidatin Recht. Der Mitbewohner grübelte noch, da sagte der Student: "Aber ja, das stimmt schon, das geht nicht mit dem 'jemand'. Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte…" deklinierte er und der Mitbewohner ergänzte: "… roch er eines Morgens aus dem Mund!", und beide kicherten.
Die Studentin hingegen sagte nun, wie um der ganzen Diskussion ein Ende bereiten zu wollen: "Das ist überhaupt ein schwachsinniger Satz. Jetzt mal ehrlich! Was soll das bitte heißen? 'Das Leben riecht wie jemand aus dem Mund'. Totaler Unsinn ist das!"
"Am Morgen!" warf der Student ein.
"Am Morgen, am Abend… Ist doch egal. Das Leben riecht doch nicht wie jemand aus dem Mund riecht! Das Leben riecht überhaupt nicht. Und wenn, dann schon gar nicht wie jemand morgens aus dem Mund."
"Aber das ist doch auch das Leben, irgendwie", wusste der Mitbewohner anzuführen. "So schlecht ist der doch nicht, der Satz! Irgendwie poetisch. Wie jemand am Morgen aus dem Mund… klingt doch gut!"
"Sag ich ja! Aber ohne jemand!" freute sich der Student, dass wenigstens der Mitbewohner nun die Magie des Satzes erkannt zu haben schien.
"Schwachsinn ist das. Das ist doch keine Poesie, das ist Unfug." Die Spitzenkandidatin blieb hart.
"Ach was, Fug ist das! Da fügt sich was zusammen!", rief der Student erregt. Er wusste nicht, ob er ihre Wehrhaftigkeit gut finden sollte oder bloß stur. "Außerdem klingt das gut! Es klingt zusammen… symphonisch also - im wahrsten Sinne des Wortes!"
"Aber grausig ist das auch", gab der Mitbewohner zu bedenken, "muss man zugeben. Bei aller Liebe, schön ist das nicht, wie einer am Morgen aus dem Mund riecht!" - "Oder eine!" ergänzte die Spitzenkandidatin nun fast schon lethargisch.
"Das Leben ist doch auch grausig, manchmal. Das ist ja der Reiz der Aussage!", verteidigte der Student seinen Satz weiter.
"Dann darfst du das aber nicht generalisieren und sagen 'so riecht das Leben'. So und nicht anders. Das ist plump. Da fällt ja einiges unter den Tisch, was das Leben sonst noch sein kann." Die Spitzenkandidatin hatte anscheinend wieder zu ihrer markanten Sachlichkeit zurückgefunden.
Der Student konterte: "Freilich. Aber das ist halt der knackigen Aussage geschuldet. Da muss was unter den Tisch fallen, sonst gibt's keine Pointe und darunter würde die Knackigkeit leiden!"
"Knackigkeit… das ist auch so ein fragwürdiges Wort", gab der Mitbewohner zu bedenken; und die Mitbewohnerin darauf: "Direkt beknackt ist das!" Niemand kicherte.


"Also gut", versuchte sich der Student an einer Korrektur seines Satzes, 'Wie ein Mensch unbestimmten Geschlechts am Morgen aus dem Mund - so könnte ein Aspekt des Daseins riechen'. Das klingt doch scheiße!" Die Spitzenkandidatin lachte kurz auf, der Mitbewohner grinste und sagte ermutigend:
"Dasein ist gut! Besser als Leben! Und Mensch auch! Da sparst du dir 'jemand' und dieses umständliche 'einer oder eine'."
"Pff. Solche Sprücheklopfer… Das ist ja nicht auszuhalten. Diese pseudogescheiten Weisheiten. Das geht gar nicht!" Die Spitzenkandidatin das Interesse an der Konversation zu verlieren.
"'Geht gar nicht' sagen geht auch gar nicht!" ätzte der Student zurück.
"Lass Sie, die findet ja sogar Panoramafernsehen reaktionär!", versuchte der Mitbewohner unbeholfen die Wogen zu glätten.
"Ist es ja auch", sagte die Spitzenkandidatin beleidigt und schlürfte wieder am Jojobaöltee.
"Ist aber auch das Leben!", verkündete der Student stolz. "Wie Panoramafernsehen mit Hüttenmusik unterlegt - auch das ist ein Aspekt unseres Daseins!" Und der Mitbewohner lachte.
"Davon halte ich erstmal nichts", entgegnete die Spitzenkandidatin und schob ihre Brille hinauf, die sofort wieder zurück auf die Nasenspitze glitt.
"Das bewährt sich meistens!" Der Mitbewohner grinste und wandte sich an den Studenten: "Siehst du, so gehen gute Sätze. Die müssen sich bewähren. So wie mein Satz 'Ich halte erstmal nichts davon', der hat sich bewährt."
"Das hat sich bewährt!", rief der Student und hob den Zeigefinger wie der reinste Lehrer Lempel.
"Was?"
"Na du hast vorher gesagt: 'Ich halte erstmal nichts davon. Das hat sich bewährt' oder 'erstmal nichts davon halten hat sich bewährt'. Das war dein Satz - oder deine Sätze."
"Was? Ja, nein. Ich meinte doch den Satz jetzt. Also den ersten Teil. Der hat sich bewährt… im Gespräch, weil sie ihn verwendet hat."
"Also Bewährung zweiter Ebene meinst du?" feixte der Student und der Mitbewohner schien verzagt: "Ach, egal." Die Spitzenkandidatin grinste nur und fragte noch mal: "Und wie riecht es jetzt, das Leben?"
"Egal", sagte der Student und meinte es auch so.