Donnerstag, 18. September 2014

Das Point - ein Abschied

Es gab da ein Lokal in Zell, das hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen. Ein Lokal wie eine Überraschung, eine klitzekleine Offenbarung, ein alltägliches Kleinod. Dementsprechend bescheiden nannte man es auch das "Point". Einfach ein Punkt - nicht mehr, aber gottlob auch nicht weniger!

In der Schule hatte ich einen fleißigen Mathematik-Professor. Er war für die Mittelschule vielleicht ein wenig überqualifiziert; jedenfalls versuchte er uns nicht bloß Mathematik beizubringen, sondern Denken im Allgemeinen. Das ist schwierig für Kinder. Denken ist nämlich überhaupt das Schwierigste, was ein Mensch lernen kann. Und doch tut es jeder tagtäglich - und oft auch allzu selbstverständlich.
Dieser Professor jedenfalls führte uns in die hohe Kunst der Geometrie ein, indem er mit uns eine Schulstunde lang darüber diskutierte, was denn eigentlich ein Punkt sei. Nach vielem hin und her durften wir uns einen der wichtigsten Merksätze unserer Schulkarriere in das Schulübungsheft schreiben. Freilich war uns das damals überhaupt nicht bewusst und wir hielten den Satz für hochgradig lächerlich. Er lautete: "Ein Punkt ist das, was sich jeder halbwegs intelligente Schüler darunter vorstellt."

So gilt auch für dieses Lokal, das sich nach dem abstrakten Begriff des Punkts benannt hat, ähnliches: Das Point war all das, was sich seine Gäste darunter vorstellten. Daher kam es, dass es zu einem Lokal wurde, in dem man an einem Abend die gescheitesten Leute traf, und an einem anderen Abend die wahnsinnigsten. Und oft genug war man einfach nicht in der Lage, den Unterschied zwischen den beiden festzustellen. So war das Point ein Kulminationspunkt von Genie und Wahnsinn, von Herzlichkeit und Eigensinn, von Gastlichkeit und saurer Thekenfeindschaft. Einfach hatte man es in dem Lokal weder als Gast noch als Gastgeber- aber angenehm, das war es doch immer!

Es war so angenehm, dass sogar der größte Menschenfeind, den das Zeller Nachtleben zu bieten hatte, regelmäßig dorthin flüchtete. Der Puffer Willi schimpfte dort über die sogenannte Partygesellschaft in den Zeller Mainstream-Lokalen, wünschte sich allerlei wilde Musik oder ging ganz einfach nur aufs Klo. Ja, das Point war auch ein Fluchtpunkt. Nicht selten fand ich mich dort ein, um dem Trubel, der sonstwo herrschte, entfliehen zu können. In Ruhe ein Bierchen trinken, tatsächlich mal mit Menschen reden, und sich nicht bloß unterhalten, wozu es ja in vielen Fällen gar keiner Worte bedurfte.

Es war das Point überhaupt ein Lokal der Worte und nicht der Wörter. Selbstverständlich haben wir auch im Point viel Blödsinn geredet. Aber nirgendwo sonst musste man so auf seine Worte achten. Da war es zum Beispiel nicht egal, ob man Respekt oder Ehrfurcht vor etwas hatte; nichts konnte einfach so dahin gesagt werden. Da mussten erst einmal die Begriffe geklärt werden, bevor man über irgendetwas überhaupt eine Aussage machen konnte. Das schöne daran war, dass untypischerweise gar nicht immer ich an solchen Diskussionen "Schuld" war, sondern sich das ganz natürlich ergab.

Bierernst ging es dabei nie zu. Das war überhaupt das Wichtigste am Point: Jeder wurde ernst genommen - aber nicht um jeden Preis. Über allem hing der Zweifel im Gewand des Schmähs, und doch regierte nie Zynismus, sondern immer das freundschaftliche Augenzwinkern. So konnte man an nur einem Abend einmal darüber diskutieren, ob sich die Kunst nun nach dem Leben zu richten hatte, oder es nicht vielmehr umgekehrt war; und nur eine Stunde später führte man eine leidenschaftliche Diskussion darüber, ob Daniel Craig überhaupt ein legitimer Bond-Darsteller sein könne. So kurios das jetzt für manche klingen mag: Man fühlte sich dabei nicht auch nur eine Sekunde lächerlich.

Nein, wir hatten es hier nicht mit einem elitären Separee für Schöngeister zu tun. Ich möchte behaupten: Ganz im Gegenteil! Aber nur weil man in einem Lokal steht und ein Bier in der Hand hält, muss ja der Geist nicht ruhen. Er kann - aber er muss eben nicht! Und nur, weil er nicht ruht, muss das wiederum nicht heißen, dass es kompliziert und ungemütlich zu werden hat. Es hat schon immer wieder jemand zur rechten Zeit eine "zwickspähe" Bemerkung gemacht, die uns nicht vergessen ließ, dass wir hier eigentlich in einer Bar sind und ruhig auch einmal ein bisschen deppert sein können.

Weil es wirklich anders war, als alles andere: Deswegen sind wir hier reingekommen. Dass es nun nicht mehr da ist, ist schade. Aber wie sehr es uns abgeht, das werden wir erst in ein paar Monaten merken, wenn irgendetwas in uns sich rührt und uns Lust macht auf einen Abend im Point. Auf einen Abend, an dem man nicht weiß, was passieren wird oder ob überhaupt etwas passieren wird. Auf einen Abend, von dem man sich nichts erwartet, den man hinterher in keiner Weise bereut und von dem man froh ist, dass es ihn gegeben hat.

Danke Jana und danke Anselm für die letzten Jahre. Danke, dass ihr euer Lokal für uns geöffnet habt, auf dass wir hinein gingen und uns erfreuten. Danke für die persönliche Betreuung, die uns nie das Gefühl gegeben hat, dass wir hier "nur" zu Gast waren. Danke, dass wir von einander als Freunde denken dürfen. Denn wir vermissen vielleicht dieses Lokal, das es eigentlich nie geben hätte sollen, weil Zell oft kein Platz für solche liebenswürdigen Absonderlichkeiten zu sein scheint. Aber ihr bleibt uns ja hoffentlich erhalten!

Unter das Lokal allerdings müssen wir dieses Wochenende den allerletzten Punkt setzen

oder das, was sich jeder halbwegs intelligente Mensch darunter vorstellt

Samstag, 13. September 2014

Der David

"Was der David immer mit der Prostata zu tun hat, musst du mir jetzt mal erklären", sagt der Langmayr Hansl und schüttelt den über sein iPad gebeugten Kopf.
"Wie meinst?", frage ich ihn geistesabwesend, weil ich selber gerade etwas überaus Interessantes im Internet entdeckt habe: Hunde, die aussehen wie ihre Besitzer - oder umgekehrt. Ich habe solche Fotos schon geschätzte 400 Mal gesehen, aber es fasziniert mich immer wieder. Vor allem der Umstand, dass immer und immer wieder solche Fotos auftauchen; und ich wage zu behaupten, dass es nie dieselben sind. Oder sind sie es doch? Ist die unermessliche Fülle an Information im Internet nur scheinbar? Kommt uns das Internet nur deswegen unendlich vor, weil wir ständig alles vergessen, was wir darin sehen, lesen und hören? Die Information ist ja zu 90 oder mehr Prozent vollkommen irrelevant. Und alles, was wir an Relevantem im Web finden, geht sowieso irgendwann verloren. Weil wir vergessen, ein Lesezeichen zu setzen; weil die Seite irgendwann offline geht und wir natürlich keine Offline-Kopie erstellt haben, und falls wir das doch gemacht haben, dann nicht auf diesem Gerät oder eben vor der letzten Formatierung...

Aber diese Hunde und ihre Besitzer... das ist schon faszinierend, dass zwei verschiedene Spezies sich so gleichen können. Aber woher weiß ich eigentlich, dass es sich bei diesen Menschen tatsächlich um die Besitzer der Hunde handelt? Vielleicht gehen da Leute mit Hunden spazieren und fragen wildfremde Passanten, ob sie sich nicht kurz mit dem Hund ablichten lassen würden; schließlich würden sie dem Köter ja so ähnlich schauen. Macht man das? In Amerika vielleicht. Oder nein, in England - da machen die das! "Excuse me, you look just like this dog. Do you mind if I take a picture of you with the dog? It's for a funny web page!". Nein, das macht doch keiner!
Oder ist es so, dass sich die Menschen gezielt Hunde zulegen, die ihnen ähnlich sehen? Also ganz absichtlich, meine ich. Nicht, dass sie durch das Tierheim marschieren und vor einem Zwinger stehen bleiben, wo sie dann ganz eitel mit einem Blick auf den Hund sagen: "Der sieht aber hübsch aus!", und eigentlich sich selber meinen.
Nein, ich meine, die Menschen gehen von Hund zu Hund und sagen irgendwo einfach: "Ja, der passt zu mir". So kommt ein dicker Mensch eher zu einem dicken Hund, weil er vielleicht Angst davor hat, sich auf einen Zwergpinscher draufzusetzen. Der Dicke denkt sich vielleicht auch: "Ich neben so einem kleinen Hund - das sieht doch lächerlich aus!" Also nimmt er einen Hund, der ihm in der Erscheinung ähnlich ist. Nach einigen Jahren des Zusammenlebens haben sich schließlich auch die Gesichtszüge einander angepasst. Der Hund ist ja ein gutmütiges Wesen und passt sich gern seinem Herrchen an. Wenn dieses ihn mit teigigem Gesicht und traurigen Augen tagein, tagaus anschaut, wird der Hund irgendwann auch ein trauriges, teigiges Gesicht bekommen. Nicht, weil er emotional verwahrlost, sondern weil der Hund das aus reiner Sympathie macht. Irgendwann sehen sich Herrchen und Hund so ähnlich, dass nicht der krasse Unterschied, den es bei der Beschaffung des Tieres noch strikt zu meiden galt, das Lächerliche ist, sondern die auffallende Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch.

"Was hat also jetzt der David mit der Prostata zu tun?", fragt der Hansl noch einmal, und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. - "Was? Wie meinst?", sage ich noch einmal. Der Hansl seufzt und tippt auf seinem iPad herum, während ich die Seite mit den Fotos von Hunden und ihren Besitzern schließe.
"Jedes Mal, wenn ich irgendwo über einen Artikel über die Prostata stolpere, ist da ein Bild vom David. Was hat der also damit zu tun?", fragt der Hansl. Er klingt jetzt dringlicher als zuvor. Es beschäftigt ihn also wirklich.
"Welcher David?", frage ich, lege das iPad weg und versuche mich nach meinem geistigen Ausflug in die physiogonomischen Ähnlichkeiten zwischen Tier und Mensch, jetzt ganz Hansls Problem zu widmen.
"Na die Statue. Die Davidstatue. Der Nackerte!", sagt der Hansl und hält mir das iPad hin. Es zeigt Michelangelos David neben der Überschrift "Prostatakrebs: Lang ignoriertes Leiden".
"Aso, der David", zeige ich mich verständig, habe aber schon vergessen, was der Hansl jetzt eigentlich wissen wollte. Also schaue ich ihn fragend an.
"Mir kommt vor, dass die jedes Mal den David zeigen, wenn es um die Prostata geht. Wieso machen die das?" Der Hansl scheint wirklich ein bisschen aufgebracht zu sein, aber seine Frage ist eine durchaus berechtigte.
"Die machen das wegen des Visual Contents" ist mein erster, zugegeben etwas halbherziger Versuch. "Die brauchen ja für jeden Online-Artikel ein Bild. Bei solchen Themen gehen ihnen halt oft die Bilder aus. Was sollen sie auch zeigen? Eine sezierte Prostata? Das ist ja grauslich."
"Jaja", macht der Hansl, "das ist schon klar, dass die Visual Content brauchen. Aber wieso immer der David?"
"Wegen dem Zumpferl!", sage ich. "Da weiß dann jeder 'Oha, jetzt geht es um was Intimes'. Und dann zeigt man eben das Zumpferl vom David. Also in erster Linie den David, der als nackter Mann anzeigt, dass das jetzt ein Männerthema ist. Und sein Zipfel zeigt an, dass es um was Intimes geht."
"Ja, aber das ist doch behämmert!", protestiert der Hansl sogleich. "Was hat denn der David mit der Prostata zu tun?"
"Ja eh nix... direkt halt. Eher indirekt. Also der David hatte ja auch eine Prostata. Also quasi eine Prostata."
"Der David ist eine Statue, der hat überhaupt keine Prostata!", wirft der Hansl ganz richtig ein.
"Ja, aber der David steht ja für etwas. Also die Statue, die steht für den Menschen, aber eben auch für den männlichen Körper, und also auch indirekt für die Prostata." Ich merke, dass ich mich auf dünnem Eis bewege.
"Dann steht der David aber auch für den Zehennagel des Mannes. Und für den Herzinfarkt und die Fettleber!" Der Hansl versucht jetzt also, meine eh schon schwache Argumentation mit Sarkasmus zu zerfleddern.

Ich beschließe, auch ein bisschen albern zu werden und sage: "Schau her, der David steht für den Mann. Aber eigentlich steht der David nur da, damit jeder sein Zipfel sehen kann. Darum ist es ja dem Michelangelo in erster Linie gegangen: Er macht den perfekten Körper, lässt ihn lässig dastehen mit Stand- und Spielbein und allem. Aber eigentlich will er nur das Zipfel zeigen. Und die meisten hat auch immer nur das Zipfel interessiert. Und deswegen kann eine Zeitung hergehen und das Bild vom David in einen Artikel über Prostatakrebs setzen. So funktioniert das einfach. Für 90% der Menschen ist der David einfach ein Nackerter - nicht mehr und nicht weniger."
"Hmm", macht der Hansl und lächelt ein bisschen. "Trotzdem kapier ich nicht, was das mit der Prostata jetzt genau zu tun hat."
"Eh nix,", sag ich, "aber was sollen's denn wirklich stattdessen hernehmen? Du kannst ja schlecht das Foto von einer Prostatauntersuchung zeigen. Oder gar einen behandschuhten Arztfinger! Das ist ja alles zu alarmierend. Der David ist schön und tut keinem was. Und jeder weiß, dass es jetzt um was männliches Intimes geht."
"... Kürbiskerne!", wirft der Hansl ein, "sie könnten doch auch Kürbiskerne nehmen. Da weiß auch jeder, dass die gut für die Prostata sind. Sie könnten ein Foto von Kürbiskernen nehmen, und jeder weiß: Aha, da geht es jetzt wieder um die Prostata."
"Ich weiß nicht. Das funktioniert wahrscheinlich nur bei Menschen, die viele Artikel über die Prostata lesen. Jetzt ist Herbst, und wenn du da ein Foto von Kürbiskernen hineingibst, dann denkt jeder in erster Linie an - Kürbiskerne! Da schlägt keiner die Brücke zur Prostata. Außer du vielleicht."
"Hmm", macht der Hansl erneut und schaut wieder auf das iPad.

Es gibt im Internet überhaupt viele Seiten, deren Idee darin besteht, dass sie Tiere zeigen, die irgendwie menschlich wirken. Das taugt den Menschen bzw. den Usern anscheinend am meisten: Wenn das Tier möglichst menschlich daherkommt. Der Hund trägt einen Hut, der Kater scheint zu schimpfen, das Eichhörnchen macht ein böses Gesicht: Das ist alles ganz köstlich, weil die Tiere dabei wie Personen wirken. Anthropomorphismus sagt man da auf gescheit. Das macht den Menschen lachen, weil er am liebsten eh über sich selbst lacht - auch wenn er das nicht gern zugibt. Das Tier kann ja gar nichts dafür, weil es nicht verstehen kann, worüber wir lachen. Manchmal habe ich Gefühle des Mitleids, wenn ich Menschen über Tiere lachen sehe. Im gleichen Moment erkenne ich, dass solche Gefühle ja eigentlich lächerlich sind. Das Tier trägt ja keinen emotionalen Schaden davon, wenn es verlacht wird. Im Gegenteil kann ich mir sogar vorstellen, dass ein Hund, der von seinem Herrchen ausgelacht wird, eine große Freude daran hat, dass er sein Herrchen zum Lachen bringt.
Das ist freilich irgendwie ein Missverhältnis, wenn auch kein besonders dramatisches. Es zeigt nur wieder die absonderliche Einrichtung der Welt, zumindest einen Aspekt davon: Wir sehen uns Videos an, in denen Tiere sich wie Menschen verhalten, und wir lachen darüber - und wissen eigentlich nicht warum. Das einzig Beruhigende daran ist wirklich, dass niemand Schaden daran nimmt. Dann wiederum gibt es Videos von Menschen, die sich wie Tiere aufführen, was wiederum viele Leute geil finden. Muss - ja, kann man das überhaupt verstehen?

"Was ist eigentlich die Mehrzahl von Prostata?", fragt mich der Hansl plötzlich.
"Prostatae wahrscheinlich", rate ich, während mir einfällt, dass dies bisher der einzige Nutzen des Lateinunterrichts gewesen ist: dass ich mit hoher Trefferquote den richtigen Plural von Fremdwörtern bilden kann; und, dass ich mir deren Herkunft ein bisschen erklären kann. Dafür machte man ein mehrjähriges Martyrium mit, in dem man Sätze von Autoren übersetzte, deren Leistung darin bestand, alles, was die Griechen schon erdacht hatten, noch einmal zu denken und auf Latein aufzuschreiben. Meistens übersetzte man falsch - und das Beunruhigende war, dass es einem nicht einmal auffiel, weil die falsche Übersetzung in vielen Fällen sinnreicher war als die richtige Version.

"Braucht man eh nicht", sagt der Hansl.
"Was?", frage ich, meinen Gedanken über das Lateinische entrissen.
"Die Mehrzahl von Prostata braucht man im Normalfall nicht. Man hat ja eh nur eine!"
"Stimmt. Außer du arbeitest beruflich mit Prostatae. Als Prostatologe. Die wären wahrscheinlich auch die einzigen, die dir einen falschen Plural übel nehmen würden."
"Wie meinst du?"
"Naja, einem Normalsterblichen ist es wohl egal, ob du von 'Prostatas' oder 'Prostatae' sprichst. Der Prostatologe würde wohl protestieren!"
"Prostatieren!", sagt der Hansl und lacht.
"Protestierende Prostatologen - das fehlt uns noch", sage ich und überlege, ob das Wort "Protest" irgendwas mit dem Testikel zu tun haben könnte.
"Pro testis", sagt in dem Moment der Hansl, der offenbar einen ähnlichen Gedanken hat, "für die Eier! Haha!"
"Für die Eier protestieren?"
"Genau! Die Prostatologen protastieren für die Prostata, während die Testologen für die Eier protestieren.", gluckst der Hansl.
"Oder muss es pro testes heißen? Pro verlangt ja den Ablativ? Oder pro testem? Was ist denn testis für eine Deklination?"
"Weiß ich doch nicht!", sagt der Hansl vorwurfsvoll. Und eigentlich möchte ich es selbst auch gar nicht wissen, weil ich mit der Information nur vor die weitere Frage gestellt wäre, wie denn jetzt korrekt zu deklinieren wäre. testis, testis, testi, testem, teste? Ich nehme das iPad wieder zur Hand und überlege, was denn nun der Plural von Testis ist.
"Was ist denn die Mehrzahl von Testis?", frage ich den Hansl, der reflexartig mit den Schultern zuckt.
"Ist das nicht schon Mehrzahl? Es sind ja zwei! Im Gegensatz zur Prostata", sagt er und lacht wieder.
"Na, es ist ja 'der Hoden'". werfe ich ein.
"Testis klingt aber eh schon nach Plural", bemerkt der Hansl und fährt seine volks-grammatischen Betrachtungen so fort: "Da hast du ein i und ein s. Das riecht zehn Meter gegen den Wind nach Mehrzahl!"
Tatsächlich google ich das Wort und sage nur: "Testes!"
"Testes?"
"Ja, das ist die Mehrzahl von Testis: Testes!"
"Das ergibt ja überhaupt keinen Sinn!", sagt der Hansl und ich gebe ihm Recht.
In einem Tab ist noch die Tierseite geöffnet und also schaue ich mir lieber das Video von einer Ratte an, die mit einer Spielzeugeisenbahn fährt und dazu pfeift.

"Da zeigen's übrigens auch immer den David", sagt der Hansl wieder.
"Wo?"
"Bei den Hoden-Artikeln im Gesundheitsteil in der Zeitung! Da sieht man auch oft den David!"
"Na also", sage ich und lache über die Ratte als Lokführer.


Samstag, 9. August 2014

Die Lederhose

Leider taugt die Lederhose nicht mehr als Signum des stolzen Alpenbürgertums. Auch hat sie ihre Bedeutung als traditionalistisches Element im innergebirglerischen Selbstverständnis verloren. Denn entweder dient sie als folkloristisches Requisit (zum Beispiel an den Beinen eines Wirts) oder aber als Verkleidung für diverse "Brauchstumsveranstaltungen". Das sind - ins heutige Deutsch übersetzt - Retro-Events, bei denen eine alte Zeit so inszeniert wird, dass die einen sie beweinen können, und die anderen sich gerne vorstellen, dass es genau so einmal war; obwohl alle Beteiligten (Darstellende wie auch das Publikum) genau wissen, dass es genau so niemals war. So ist die Lederhose ein Utensil zur Täuschung geworden: Man täuscht als Träger anderen etwas vor und wird als jemand, der sie wahrnimmt, von ihr getäuscht, bisweilen sogar enttäuscht.

Dafür kann natürlich weder die Lederhose etwas, noch der Kulturraum, in dem sie zu dem geworden ist, was sie einmal war. Dass heute Lederhosen in sämtlichen geschmacklosen Variationen von der Münchner und Wiener Möchtegern-Schickeria zur Instant-Wiesn ausgetragen werden, beweist nur, wie wertlos die Lederhose an sich, die richtige, echte, ursprüngliche, traditionelle geworden ist. Denn es wird immer wichtiger, als Lederhosenträger darauf hinzuweisen, dass man selbst über eine "echte" Lederhose verfügt, in der am besten noch der Großpapa auf Bierbänken gesessen hat. Beflissen nennt der moderne Lederhosen-Traditionalist die jeweils regionalen Erkennungsmerkmale seiner "echten Lederhose" und versucht so, darüber hinwegzutäuschen, dass er selbst sie auch nur deshalb trägt, weil er irgendetwas darstellen will oder muss. Ein gesundes Verhältnis zur Lederhose gibt es nicht mehr. Für die einen hat das Kleidungsstück einen volkstümlich reaktionär-dümmlichen Nazi-Mief, für die anderen ist es eine zum Kitsch verkommene Schale ohne Kern (was natürlich beides Mumpitz ist). Sie steht damit aber sinnbildlich für die ganze alpenländische Kultur, die sich in den letzten Jahren schwer damit getan hat, ihren Platz in einer globalisierten Moderne zu finden. Sie pendelt in ihrer Bedeutung stets zwischen den beiden Polen, deren erster sie als eine Art Refugium als Paradiesersatz inszeniert, und deren zweiter sie als eine zu touristischen Marketingszwecken entseelte Kulisse einer scheinbar ursprünglichen Welt errichtet, in der quickfidele Menschen in bunten Kostümen musizieren und schuhplatteln.

Sepp Forcher und Harry Prünster haben schon längst ausgedient. Andreas Gabalier benutzt die Chiffre nur noch zur Ausleuchtung seiner sinnentleerten Darbietung bescheidenster Kunst, die höchstens dort Zuspruch findet, wo auch Apres-Ski-Halligalli mit österreichischer Gemütlichkeit verwechselt wird. Indessen hat sich just ein Konzern der Bewahrung und der modernen Aufbereitung des alpenländischen Volkskultur verschrieben, der damit eigentlich gar nichts am Hut hätte: Red Bull nämlich. In diversen Fernseh-Formaten auf dem hauseigenen Servus-TV-Sender und im zeitgemäßen und sehr beliebten Servus-Magazin wird die alpenländische Ursprünglichkeit im neuen Gewand präsentiert. Und dabei macht das Red Bull Media House einiges richtig, weil es am richtigen Ende ansetzt - nämlich bei der Natur und nicht bei der Kultur: Nicht die Lederhose ist schick, sondern die Blumenwiese; nicht die Ziehharmonika, sondern der Gebirgsbach, der sich trällernd und pritschelnd durch die Wälder ins Tal hinab schlängelt. Da spielt die Musik!



Wo also Andreas Gabalier das "schöne Rehlein" besingt und eigentlich eine junge Frau meint, die dumm genug ist, auf seine primitive Balz hereinzufallen, zeigt Servus-TV uns nur das Rehlein im Wald. Da bedarf es keiner Erinnerung im Stile von "uh lalala so a schena Toug!", damit der Rezipient erkennt, dass es da etwas zu beobachten gibt, das schön ist. Sowieso arbeitet Servus, sowohl im Magazin als auch in den TV-Sendungen mehr mit showing als mit telling. Im Heft wird das an den vielen stimmungsvollen Fotos erkennbar, im TV an den unkommentierten und ohne Hintergrundmusik auskommenden stillen Naturszenen. Freilich bleibt es nicht dabei. Denn erst wenn der Rezipient sich auf die Stimmung eingelassen hat, wird langsam verdeutlicht, was der Mensch eigentlich in dieser Umgebung verloren hat; wie er sich in ihr zurecht findet und wie er sich selbst in ihr sieht. Das ist dann der Schritt von der Natur in Richtung Kultur, und der findet bei Servus eben behutsam und überlegt statt - ganz im Sinne der Thematik.

Die Lederhose wird in diesem Kontext nur verstehbar, wer sich mit dem Handwerk und der Kleidungsgeschichte auseinandersetzen mag. In diesem Moment aber kommt es gar nicht mehr darauf an, wie eine Lederhose aussieht und wer sie anhat, sondern es geht darum, was ihre ursprüngliche Funktion war - und in weiterer Folge darum, wie es dazu kommen konnte, dass sie nun leider zum Requisit einer Festivalgesellschaft geworden ist.
Insofern stellt sich dem modernen Alpenländler, der nicht die Lederne vom Großvater im Kasten hängen hat, die Frage, wofür er sich überhaupt eine Lederhose zulegen soll, wenn er denn noch keine hat. Das alte Zugehörigkeits-Thema ist ja gut und schön. Was aber, wenn man nicht unbedingt dazugehören will? Und was, wenn man nicht genau weiß, wo genau man da dazugehört, wenn man sich eine Lederhose anzieht?

Dann lieber doch die bequemere Position einnehmen und sich die Lederhose einfach als Verkleidung vorstellen, die man zu diversen Festivitäten anziehen kann, aber nicht muss.So, wie man sich am St. Patrick's Day einen Guiness-Hut aufsetzen kann; oder zu Fasching unsanktioniert als Pirat durch die Straßen rennen darf. Das entspannt die Sache ungemein, denn so lässt sich ein Verhältnis zu Lederhose begründen, das selbige als das sieht, was ihr Name bezeichnet: Eine Hose aus Leder. Obwohl sie genau das natürlich nie sein wird...

Samstag, 19. Juli 2014

Die Causa Nepomuk


Grausiges ereignete sich kürzlich in einer Sommernacht in Zell am See. Bisher unbekannte Vandalen vergingen sich an unserem schönen Stadtbrunnen und stürzten die Statue, die von vielen liebevoll "Nepomuk" genannt wird, samt dem Sockel um. Dabei wurde auch noch der Rand des Brunnens beschädigt. Ein trauriger Anblick, dieser in hundert Teile zersprungene Marmor-Nepomuk am Boden des Zeller Stadtplatzes. Die Zeller sind böse und naturgemäß ranken sich wilde Gerüchte darum, wer zu so einer Bosheit fähig sein könnte. Hier zwei mögliche Erklärungen und wie es gewesen sein könnte:


"Das waren bestimmt Einheimische", sagen die einen, und meinen damit eine besonders grimmige Spezies, nämlich die Oberpinzgauer. Denn ein Zeller würde sowas nie machen. Die Oberpinzgauer aber, die sind zu sowas fähig! Die reißen aus Neid auf die Zeller die Stadtbrunnenfigur um, sind sich viele sicher. Das hätte sich wohl so zugetragen:

A: "Schau her, de Hundtling mit eanan Stoudploutz! San eh koa richtige Stoud, owa Hauptsoch an Stoudploutz homms!"
B: "Jo, des san hoit richtige Großkopfate, de Zella. Schau o, den Brunnen, do sigg ma wieda wias moanan dass eppas Bessas san."
A: "Geh, Olympia-Siega und Tunni-Eröffning schreims do auffi, wei eana siest nix Bessas nid eifoit. So a Bagaasch, de Zella!"
B: "Schau hea, des Mannei do schaut a gou a so großkopfat hea!" (deutet auf die Statue)
A: "Jo, do host Recht, dea schaut hea wiara richtiga Zöia. Großkopfat und arrogant."
B: "Wos duat offt dea mit dem Fiesch? Schau hea, dea wüagg den! Des Mannei wüagg an Fiesch!"
A: "Ajo! Jo do siggst es wieda, wias mit de Viecher dand, de Zöia! Wiang duat an! Aufm Koupf steigga eam!"
B: "A so a Sauhundt, der Zöia-Doggi, dea!"
A: "Na woat, hiaz wiag i di!" (besteigt den Brunnen)
B: "Reisn hea, den Noun, den!" (auch B fängt an, auf den Brunnen zu klettern)
A, den Nepomuk schon mit dem Arm umklammernd: "So, du Sauhundt, wos du koost, koo i scho long!"
B: "Wiagn, den Sauzella! Den Sauhundt, den grausigen!" (fasst dem Nepomuk am Kopf)
A: "Ha! Den Toifi reis i hea!"
A nimmt die Marmorfigur in den Schwitzkasten, während B an deren Kopf rüttelt. Es ertönt ein dumpfes Grollen aus dem Inneren des Sockels.
A: "Hiaz riat a si, dea Doggi!"
B: "Hauman owa!"
Die beiden zerren weiter an dem Nepomuk, bis der Sockel nachgibt und auf den Brunnenrand kracht. Die Statue fällt zu Boden und zerspringt.
A: "Öha! Hiaz isa gou!"
Die beiden verschwinden.

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Dass es aber ausgerechnet Einheimische gewesen sein sollen, die am Tag nach dem ersten rauschenden Sommernachtsfest bis vier Uhr früh unterwegs waren, ist zumindest fragwürdig. Auch wenn die niederen Motive, welche manche Zeller den Oberpinzgauern unterstellen, ja durchaus nachvollziehbar sind.
Es hielten sich aber auch einige Jugendgruppen aus Deutschland und den Niederlanden zur fraglichen Zeit in Zell am See auf, und so könnte es durchaus sein, dass der arme Nepomuk dem exzessiven Alkoholkonsum verantwortungsloser Urlauber zum Opfer fiel.
Vielleicht war es also auch so:

Vier deutsche Jugendliche, offensichtlich sehr betrunken, purzeln aus einem Lokal und finden ihren Weg auf den Stadtplatz:
A: "Och, guck mal, Stiebe, die hamm hier n' Brunn'n!"
B: "Krass Kacke, Alter! Die Ösis hamm nen Knall. Stelln da einfach n'Brunn'n hin!"
C schreit mehr als er singt: "So geh'n die Gauchos! Die Gauchos, die geh'n so! So geh'n die Gauchos, die Gauchos die geh'n so!" (geht in gebückter Haltung)
D: "Ne, die Ösis, die geh'n so!" (macht ihn nach)
A und B singend und hüpfend: "Sooo geh'n die Deutschen! Die Deuschen, die geh'n so! So geh'n die Deutschen, die Deutschen, die geh'n so!"
C: "Am Arsch, Alter, wir sind Weltmeister!"
D: "Die Ösis nich! Die hammja nichmal n'richtign Fußballer!"
A: "Doch, hammse. Den Alaba, der spielt doch bei Bayern!"
B: "Alaba is'n Schwarzer, das is kein Ösi!"
A: "Quatsch nich rum, Boateng is auch'n Schwarzer. Und der is Berliner!"
C: "Deutschland ist Weltmeister, Alter!"
D: "Genau! Egal, ob da'n Schwarzer bei is!"
B entdeckt die Tafeln am Brunnen: "Haste nich gesehen, guck, die hamm hier sogar Segelolympiasieger!"
C: "Voll schwul, Alter!"
B: "Krass. Hamm'wa auch n' Segelolympiasieger?"
A: "Weiß nich. Aber hamm'wa bestimmt. Wir hamm doch alles! Da is sicher irgendwo n'Segelolympiasieger bei!"
C: "Den WM-Pokal hammwa! Segeln is doch schwul!"
D: "Is nich schwul, Alter. Segeln is voll geil!"
C: "Am Arsch! Deutschland is Fußballweltmeister!"
Alle zusammen: "So geh'n die Gauchos, die Gauchos, die geh'n so!" usf.

C: "Guck, der olle Jung da hat'n Fisch inner Hand!"
B: "Krasse Statue hamm die da, die Ösis!"
A: "Wär'n geiler Pokal!"
Die anderen lachen zustimmend.
D: "Den holnwa runter! Der gehört uns!"
C: "Ja komm, Deutschland ist Weltmeister!"
Zwei klettern auf den Brunnen und versuchen, den "Pokal" zu stemmen.
A: "Helft mal, ihr Kacker! Hoch da!"
Die zwei anderen klettern auch auf den Brunnen und beteiligen sich. Beim Versuch, den "Pokal" zu stemmen, reißen die Jugendlichen den Sockel aus der Verankerung. Als einer der Betrunkenen droht, vom Brunnen zu stürzen, hält er sich an Nepomuk fest. Die Statue stürzt um und zerbricht.
B: "Krass, Mann! Scheiße!"
D: "Boah eh, Scheiße! Bloß weg hier!"
Die vier stürzen davon, einen hört man noch rufen: "Deutschland ist Weltmeister!"

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Wer auch immer den Nepomuk auf dem Gewissen hat, soll nie mehr ruhig schlafen können! Unser schöner Stadtbrunnen ist von bösen Menschen zerstört worden, und Obiges ist nur ein verzweifelter satirischer Versuch, der Causa Nepomuk irgendeinen Sinn abzuringen. Nepomuk, wir werden dich nie vergessen!

Dienstag, 13. Mai 2014

Der Knopf

"Wo immer ein Knopf, da eine Lösung", denkt der moderne Mensch. Darum drückt er auf alle möglichen Knöpfe, wenn er sich verlassen fühlt. In Zeiten des Smartphones, die beinahe schon ohne materielle Knöpfe auskommen, mag die Feststellung schon fast antiquiert klingen. Dennoch: Hilft alles nichts mehr, muss der Home-Button her bzw. im Extremfall der Ein/Aus-Knopf.

Wo rührt es her, das blinde Vertrauen, das die Menschen jeglichen Knöpfen entgegen bringen? Hinter jedem Knopf steckt eine Automatik, die etwas passieren lässt. Denn jeder Knopf muss auch für etwas gut sein, warum sonst gäbe es ihn? So ist der Knopf ein Garant für einen geregelten Ablauf, der etwas in die Welt setzt, eine Funktion, ein Produkt eines oft geheimen, undurchschaubaren Prozesses. Dieser Prozess kann durchaus etwas Gefährliches sein. Man denke an all die roten Knöpfe in Filmen, die böse Dinge geschehen lassen. Da explodieren Bomben, da werden Maschinen in Gang gesetzt, die Tod und Verderben über ganze Städte bringen. Und doch: Der Knopf bleibt auch in diesen Situationen (zumindest für den Bösewicht) die letzte Versicherung einer funktionierenden Welt.

Wie groß dann die Empörung, wenn so ein gedrückter Knopf nichts bewirkt! Nichts Sinnloseres in diesem Universum gibt es als einen Knopf, der nichts geschehen lässt! Der Wahnsinn, den so ein wirkungsloser Knopf auslösen kann, lässt sich täglich an Fußgängerampeln erleben, immer dann, wenn Menschen empört mehrmals hintereinander auf den Ampelknopf drücken. Dieser macht auch immer brav "Piep", in machen Fällen geht ihm sogar ein Licht auf, aber oft lässt die erwünschte Wirkung sehr lange auf sich warten. Wütend wird er eindringlicher gedrückt, gerne auch von verschiedenen Menschen, die jeweils die Fertigkeiten im Knopf-Drücken ihres Vorgängers in Zweifel ziehen. Manche Leute scheinen nicht zu wissen, dass diese Fußgängerampelknöpfe nur nachts tatsächlich Wirkung zeigen, und sie der automatischen Ampelschaltung im alltäglichen Verkehr nichts entgegenzusetzen haben.

Und doch, die Faszination für den Knopf ist ungebrochen. Knöpfe strahlen ein fast heilendes Vertrauen aus. Sie beruhigen uns, denn sie geben uns Kontrolle - auch wenn diese in den meisten Fällen nur eine scheinbare ist.
Ich stelle mir einen Apparat vor, der nur aus einem Knopf besteht, der auf einer Art Sockel montiert ist. Drückt man den Knopf, gibt der Apparat ein akustisches, optisches oder meinetwegen auch haptisches Feedback. Sonst passiert nichts. Und doch würde ein solcher Apparat Seelenheil verbreiten. Wenn es einem schlecht geht, wenn man sich hilflos fühlt, so drückt man einfach auf einen Knopf. Und schon geht es ein wenig besser. Vielleicht erfüllen Smartphones einen solchen Zweck und wir bilden uns nur ein, dass wir die vordergründigen Funktionen, die diese Geräte haben, tatsächlich brauchen. Womöglich finden wir es einfach nur schön, das Telefon zu drücken und zu streicheln...

Donnerstag, 13. März 2014

Des Liftlers 13 Worte

Als Liftbediensteter hat man es, entgegen landläufiger Meinung, nicht leicht. Freilich mag diese Beschäftigung an sonnigen Märztagen einen sehr entspannten Eindruck machen: Ein bisschen bei lauen Temperaturen in der Sonne sitzen, dem Schnee beim Schmelzen zusehen und dann und wann auf einen Knopf drücken, wenn es irgendjemand nicht geschafft hat, sich beim Sessellift rechtzeitig niederzusetzen. Auch die Bediensteten an den altgedienten Schleppliften scheinen ein unbeschwertes Dasein zu fristen, welches gelegentlich Gefahr läuft, ins Eintönige abzugleiten. Wer das denkt, der vergisst, was wir skifahrende Geselligkeitsterroristen ihnen dabei abverlangen!

Seit jeher gehört es nämlich zum guten Ton, mit dem Liftler beim Einsteigen ein paar Worte zu wechseln. Und welche Worte das sind! Was beim ersten Zusteigen dem Liftler noch leicht von der Hand geht und sich als abgekürzter Smalltalk verbuchen lässt, wird beim dritten, vierten oder spätestens fünften Mal zu einem echten Mühsal. Die Zeit, die einem Liftler zur Verfügung steht, um mit dem Fahrgast launige Konversation zu führen, lässt in den allermeisten Fällen nicht mehr als 13 Worte zu. Weil die Welt in 13 Worten nicht erklärt werden kann, und man in selbiger Zeitspanne auch keinen Witz oder eine Anekdote erzählen kann, beschränkt sich das Gespräch am Lift auf simple Fragen und Antworten. Hinzu kommt, dass der phatische Anteil der Konversation (jene sozial akzeptierten Floskeln, die allein dazu dienen, den Gesprächskanal offen zu halten) Überhand nimmt, und so mehr Blabla- als Aha-Momente entstehen.

So begnügt sich kein Liftler mit einem einfachen "Guten Morgen", sondern behilft sich mit einer in die Länge gezogenen Begrüßungsformel, welche die Zeit vom Öffnen der Zugangstürchen zur Einstiegsstelle bis zum unvermeidlichen Abtransport des Skifahrers durch den Schlepplift zu überbrücken sucht. Er sagt dann etwas wie "Mooooorgen, seeeeervaaas, Griiiaaas diiii!", und hofft dabei inständig, der Lift möge jetzt nicht stehen bleiben. Denn sein Gruß ist wohl getaktet: "Mooooooorgen!" - die Tür zur Einstiegesstelle geht auf, der Skifahrer rutscht unbeholfen nach vor - "Seeeervaaaas" - der verwirrte Skifahrer sieht den Bügel schon um die Kurve fahren - "Griiaaaaas diiii!" - der Bügel klemmt dem Skifahrer schon unterm Hintern und bevor er noch "Hallo" erwidern kann, winkt ihm der Liftler schon grinsend zum Abschied.

Mancher versucht, dem Liftler zuvor zu kommen und brüllt diesem schon ein "Servas!" auf dem Weg zum Einstieg, vielleicht sogar noch kurz vor dem Drehkreuz, zu. Denn der Liftler lässt sich generell bitten und grüßt nie als erstes! Auf einen solchen Präventivschlag reagiert er meistens, indem er so tut als hätte er einen nicht gehört, auch wenn sonst niemand in der Nähe ist, der seine Aufmerksamkeit verlangte. Steht man dann vor ihm, tut er erschreckt und sagt "Oh, servas, hallo, Morgen, Griasdi. Hab ich dich ja gar nicht kommen sehen!" ... 13 Worte, und da ist der Skifahrer schon weg.

Schwierig wird die Konversation beim zweiten oder dritten Mal. Mit landläufigen Themen wie dem Wetter oder den Pistenverhältnissen lässt sich kein Liftler der Welt aus der Reserve locken. Denn wie oft hören diese Leute am Tag den Satz "Schön ist es heute wieder, gell?" oder "Gut geht es heute wieder, nicht?" oder "viele Leute sind heute aber wieder unterwegs, oder?". Nur selten überrascht ein Liftler mit einer Antwort auf solche Fragen. "Jo, mia homm heit scho 14 Grad do herunten. Und des im Schottn!", zählt da schon zu den ausführlicheren Entgegnungen, die man sich in 13 Worten erwarten kann. Man fragt sich, wie vielen Menschen der Liftler das erzählen muss. Und doch, als Gast am Lift fühlt man sich freundlich behandelt, angehört, ja fast erhört. Mit einer Antwort erteilt einem der Liftler Absolution - aber lieber sagt er nichts. Daher beschränken sich viele der Antworten auf eine zustimmende Wiederholung des Gefragten. "Gut geht es heute wieder!" - "Jo, guat is. Woa gestern eh a scho guat. Und morgen wahrscheinlich aa!" - "Heute ist es aber wieder voll!" - "Jo, wonns nid oi a so saubled foan dadatn, meakat mas eh nid!" - eine Systemkritik in 13 Worten, beeindruckend.

Leute wiederum, die den Liftlern gerne ihre Ruhe lassen möchten, werden an manchen Tagen, wenn der Liftler besonders gut aufgelegt ist und ihm schweigen nicht lieber ist, am falschen Fuß erwischt. Denn da sagt der einem plötzlich was, und noch bevor man sich überhaupt eine Antwort zurecht legen kann, wird man schon von einem der Liftbügel abtransportiert. "Joo", kann man da nur noch stammeln, wenn der Liftler sagt "Mei hiatz host owa long braucht, san deine Schi nid gscheit gwaxlt, ha?" Wenn man Glück hat, fällt einem noch eine pfiffige Antwort ein, die man ihm dann noch im Wegfahren zubrüllen kann, aber da tut er schon wieder, als wäre man nicht mehr in dieser Welt zugegen. Denn der Liftler hat eine Wahrnehmung, die kann man sich gar nicht vorstellen: Dauernd tauchen vor seinem Auge Menschen auf, die nur gekommen sind, um wieder zu verschwinden. Da kann man ihm auch nicht böse sein, wenn er einen nicht wiedererkennt. Den bösen Spaß, einen Liftler bei jeder Fahrt aufs Neue zu begrüßen als sähe man ihn zum ersten Mal, sollte man sich dennoch nicht erlauben, denn: Ein verärgerter Liftler kann ein unangenehmer Zeitgenosse sein.

Ich selbst hatte heute an einem Lift Mühe, rechtzeitig vor dem Schließen der Türchen den Einstiegsbereich zu erreichen. Kurz nach dem Drehkreuz hatte sich am Boden eine Schneewanne gebildet, nach der es ein wenig nach oben ging, was zusätzlichen Stockeinsatz verlangte. Belustigt schaute mir der Liftler zu und ich versuchte mich selbstironisch zu retten, indem ich sagte: "Jetzt wäre ich fast nicht heraufgekommen zu dir!" Er entgegnete: "Jo woat nua, wos glabbst, am Noumittog sauffns ma in dera Wonn oo!"
Überrascht, düpiert und schließlich doch zufrieden wurde ich schon vom Schlepplift von dannen gezogen, bevor mir dazu noch etwas einfiel.


Dienstag, 14. Januar 2014

Der Bienenmann

Mit dem Bienenmann verhält es sich so: Was er sagt, passiert. Nicht, weil alle daran glauben, dass es passiert. Die Dinge, die um uns geschehen, geschehen einfach - ganz egal, was wir davon halten. Beim Bienenmann ist das anders: Es geschieht, weil er es sagt. Ganz egal, was er davon hält. Nun tätigt der Bienenmann gottlob keine Aussagen über alles, was in der Welt passiert. Würde er es tun, geschähe es freilich. Nur wer wollte das schon? Niemand - und am wenigsten er selbst.

Wichtig ist nur das Wetter, denn das kann er bestimmen. Die meisten Menschen interessieren sich ja auch für wenig Anderes. Es ist auch nicht so, dass er das Wetter machen würde. Er sagt bloß, wie es wird, und das Wetter hält sich daran. Ein stilles Abkommen scheint zwischen dem Bienenmann und dem Wetter zu bestehen.

Der Mensch will vieles wissen. Am meisten interessiert ihn aber, wie das Wetter wird. Also fragt er den Bienenmann, vor allem zwei Mal im Jahr. Einmal nach dem Winter; und einmal nach dem Sommer. "Wie wird der Sommer?" oder "Wie wird der Winter?". Im Sommer will der Mensch Sonne, aber es soll auch nicht zu lange trocken bleiben. Im Winter will der Mensch Schnee, aber eben auch Sonne, um diesen genießen zu können. Für Menschen in Tourismusgebieten ist der Schnee im Winter also besonders wichtig. "Wann kommt der Schnee?", fragen sie deshalb den Bienenmann, oder: "Wie viel Schnee bekommen wir heuer?". Und der Bienenmann sagt es dann. Er sagt zum Beispiel: "Ende November kommt viel Schnee. Danach wird es warm. Im Jänner gibt's dann wieder Neuschnee." Und das Wetter wird dann so. Zunächst zumindest.

Nach einem Monat Winter fragen die Menschen wieder: "Wann kommt der Schnee?", und der Bienenmann muss ihn wieder verheißen. "Jetzt noch nicht. Ende Jänner oder Anfang Februar", vertröstet er die Menschen. Er sagt, er habe das von den Bienen gehört oder aus dem Misthaufen herausgelesen, außerdem habe er jahrzehntelang Aufzeichnungen geführt. So gibt der Bienenmann dem Wetter auch eine statistisch gute Chance, so zu werden, wie es immer schon war: Kalt im Winter, warm im Sommer. Mal mehr Schnee oder Regen, mal weniger. Aber Schnee oder Regen kommt immer! Entweder am Ende des einen, oder am Anfang eines anderen Monats. Oder zwischendrin, einfach so.

Werden die Fragen dringlicher, wehrt der Bienenmann ab: Er könne es ja auch nicht ganz genau sagen, schließlich sei er nicht der liebe Gott. Obwohl es natürlich schon oft so aussieht, als wäre er genau das: der liebe Gott. "Fürchtet euch nicht", spricht er dann, eine Biene streichelnd, "bald einmal kommt der Schnee!" Und die Menschen erzittern unter den Worten des Bienenmannes, weil sie nun wissen: Bald einmal schneit es. "Kommt viel Schnee?", fragen sie weiter. "Nein, generell eher wenig, stellenweise aber ganz ordentlich!", sagt der Bienenmann dann, weil sein Misthaufen hat es ihm geflüstert und die Bienen haben es ihm gesummt. Damit gibt er dem Wetter wieder die Chance, auf dem Berg "ganz ordentlich" Schnee abzulagern, in sonnigen Tälern hingegen "eher wenig" liegen zu lassen.

"Sprich, Bienenmann!", fordern die Menschen, "wie wird der Sommer?" - "Vor dem Sommer kommt das Frühjahr, und das wird regenreich, dann wird es warm, und im Sommer heiß! Aber auch viel Regen - oder wenig. Und nach dem Sommer kommt ein schöner Herbst." "Oh", sagen dann die Menschen, "gut!", und verbreiten die Kunde, dass das Wetter wieder so werde, wie es der Bienenmann gesagt habe. Und sollte es im Februar immer noch zu wenig Schnee haben, so hoffen sie inständig darauf, dass der Bienenmann sein heilig Wort sprechen möge und sage: "Es kommt Schnee!" Und sie hoffen, dass das Wetter selbigen dann auch bringe, sich also wieder an die Worte des Bienenmannes halte, das stille Abkommen einlösend, welches er mit dem Wetter hat. Oh, Zauber der Natur! Oh, Weisheit des Misthaufens! Mach, lieber Bienenmann, dass es schneie!