Sonntag, 1. Juli 2012

Das namenlose Spiel

Schland ist weg. Das sollte einmal festgestellt werden, denn hier, im wilden Sachsen, bekommt man davon nichts mit. Seit Mario Balotellis Gnadenschuss (Tor Nummer 2) ist es in Deutschland seltsam still geworden. Plötzlich dominieren wieder Merkel und Co. die Schlagzeilen und nicht mehr „Jogis Jungs“; hin und wieder sieht man eine traurige Pressekonferenz, manchmal spricht man noch von der vermeintlich fehlerhaften Aufstellung, mit der Löw seine Truppe in die Schlacht gegen das gefürchtete Italien geschickt hat. Am Ende bleiben zwei Erkenntnisse: 1., dass Deutschland gegen Italien nicht gewinnen kann und 2., dass Italien nicht mehr das Italien ist, das es einmal war. Aber das wurde ja hier schon mehrmals festgestellt...

Zu Spanien ist mir nichts mehr eingefallen. Dass wir des Tikitaka müde sind – besonders, wenn es so lasch gespielt wird wie momentan -, das merkt man mittlerweile schon bei ehemals eingefleischten Spanien-Fans, denen das ziellose Gepasse auch schon auf den Senkel geht. Portugal ist unglücklich ausgeschieden und die Spanier stehen erneut im Finale, können wieder einmal Geschichte schreiben, werden es vielleicht sogar tun; aber wen soll das kümmern? Spätestens seit der überzeugenden Darbietung gegen Deutschland müssen wir uns hinter Italien stellen. Weil Italien guten Fußball, interessanteren Fußball als Spanien spielt. Weil das ewig gequälte Gesicht von Andres Iniesta und das dümmliche Geschau von Fernando Torres nicht so gut sind wie der entblößte Balotelli, der sich nach seinem zweiten Tor selber ein Denkmal in Form einer Statue gesetzt hat, die er selber war.

Balotelli bleibt ein seltsamer Zeitgenosse, aber inzwischen ist er mir sympathischer als Cassano. So richtig sympathisch sind sie ja doch nicht geworden, die Itaker. Selbst Pirlo bleibt seltsam unantastbar. Andrea Pirlos ausdrucksloses Gesicht steht Pate für ein Fußballspiel, das nur das ist, was es ist: ein Fußballspiel. Pirlo spielt Fußball – sonst nichts. Mir gefällt das, weil es einfach ist und gut aussieht. So wie das Spiel der italienischen Mannschaft, das keinen Namen hat. Es heißt nicht Catenaggio oder Tikitaka oder Voetbal totaal – es heißt Fußball bzw. „Calcio“. Es ist das Spiel, an das man sich erinnern kann, wenn man an früheste Fußball-Erfahrungen zurückdenkt. Als Kind hat man Fußballspiele im Fernsehen so erlebt: Laufen, schießen, Tor. Dass das ganze natürlich viel komplexer ist als diese Minimalformel, liegt auf der Hand (und das war auch „früher“ so). Aber die Italiener erinnern uns gerade daran, dass Fußball einfach, gut und erfolgreich sein kann. So wie Pizza oder Pasta.

Das erinnert mich daran, wie grausigste Schlander im tiefsten Sachsen (wo ich das Halbfinale gegen Italien miterleben musste) irgendwann zu folgendem Sprechchor angesetzt haben: „Ihr seid nur ein Pizzalieferant, Pizzalieferant, Pizzalieferant!“, und dabei haben sie das „P“ von „Pizza“ so aspiriert wie es nur die ganz deutschen Deutschen können - „P-hizzalieferant!“. Dann hat Balotelli das 2:0 gemacht und die Sachsen waren still. Man hörte noch hie und da ein stumpfes Kommentar zu Balotellis Hautfarbe, aber was will man auch anderes erwarten? Nun, die Pizza wurde geliefert, was die Deutschen sogar mit Anerkennung quittierten: „Naja, die waren schon gut, die I-thaliäna!“ So war dieses Italien so überzeugend, dass es sogar die Schlander einsehen müssen. Wer hätte das gedacht?

Wenn wir uns daran erinnern, wie hochklassig die Vorrunden-Begegnung zwischen Spanien und Italien war, dürften wir uns ein tolles Finale erwarten. Ein Schelm aber, wer denkt, dass dieses Match gleich ablaufen wird. Wahrscheinlich ist es das interessanteste Finale, das die EM zu bieten hatte. Portugal wäre gegen Italien Außenseiter gewesen, aber die Italiener sind jetzt gegen Spanien keineswegs Außenseiter. Ein Duell auf Augenhöhe also – das überholte Tikitaka gegen das namenlose Spiel, das ich – ganz ausgefallen – „Calcio“ taufen möchte.

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