Freitag, 27. Mai 2011

Zeller Weisheit

"Keirascht weaschd nua in da Zwischnsaisonn, wei wonns Haus foi Leit is, host a fia des eh koa Zeit nid und a koan Plootz fia d'Hochzeitsgeest!"

Von Schauern und Schädeln


Wenn die wichtigste Kulturtechnik, die im 18. Jahrhundert in unseren Kreisen ihre größte Ausbreitung erfahren hat, das Lesen war, so ist es für das 20. Jahrhundert das Autofahren. Das kann heutzutage schon fast jeder; der eine besser, der andere schlechter. So gibt es auch zwischen den verschiedenen Nationen in Hinblick auf das Fahren Unterschiede in Kompetenz und Auffassung. Die Belgier etwa haben wenig Kompetenz – was weniger an ihrem Naturell als an der ungenügenden Fahrausbildung liegt. Den Italienern etwas mangelt es nicht an Kompetenz, jedoch unterscheidet sich ihre Auffassung davon, wie ein geregelter Straßenverkehr aussehen soll, teilweise drastisch von unserer. Unterschiede sind also überall zu finden und dafür braucht man gar nicht erst in den fernen Osten, den wilden Süden oder auf eigenartige Inseln zu fahren, die auf ihren Straßen links und rechts systematisch verwechseln.

Das Autofahren ist auch Mentalitätssache. Und deswegen gibt es im Fahrverhalten überall dort Unterschiede, wo selbige auch in der Mentalität zu finden sind. Mentalitäten aber divergieren vor allem regional, und deshalb lohnt ein Blick auf die Verschiedenheiten zwischen Autofahrern in ländlichen Gefilden und jenen der größeren Städte. Als Beispiele mögen hier Zell am See und Graz dienen.

In Graz, so würde man meinen, geht alles - weil es sich um eine größere Stadt handelt - ein wenig flotter. Die Autofahrer dort sollten stresserprobter sein, kein Problem mit großen Kreuzungen oder mehrspurigen Fahrbahnen haben. Hierin aber steckt schon der erste Irrtum, und für ihre Unzulänglichkeiten können die Grazer gar nichts. In Städten wie Graz ist es nämlich so, dass das Verkehrssystem und seine Teilnehmer etwas Großstädterisches haben, was aber eigentlich unangebracht ist, weil die Stadt dann so groß nun auch wieder nicht ist. Da wird gehupt, wenn man bei Gelb nicht gleich losfährt, da wird nonchalant der Fahrstreifen gewechselt, möglichst knapp vor dem hinteren Fahrzeug und sowieso ohne zu blinken, da wird gedeutet und geschrien. Das alles sind Feinheiten des Autofahrens, wie sie wirklich nur auf viel befahrenen Straßen in großen Städten notwendig sind. In Österreich haben wir in dieser Kategorie nur Wien anzubieten, und selbst dort geht es oft gesitteter zu als auf den Straßen von Graz. Im Fahrverhalten manifestiert sich also der Komplex der größeren Städte, keine wirkliche Großstadt zu sein, aber durchaus zwei- bis dreispurige Straßen zu besitzen und zu befahren. Das situationsinadäquate Fahrverhalten hat aber – zumindest für den unabhängigen Betrachtet - noch etwas durchaus Komisches.

Da hört sich in den ländlicheren Gegenden das Komische auf, denn hier regiert die Gemütlichkeit. Das ist zwar prinzipiell folgerichtig, denn am Land geht es ja gemütlicher zu als in der Stadt, wird aber dann zum Problem, wenn sich aus der Gemütlichkeit die Ineffizienz ergibt. So steht man etwa mitten auf einer Zeller Kreuzung und wartet darauf, links einbiegen zu können. Der Gegenverkehr rollt langsam an einem vorbei und man sehnt sich nach der ersten Lücke. Die Leute aber fahren heute wieder extra langsam und in Abständen, wie man sie sonst nirgends findet: groß genug für zwei Autos dazwischen, aber zu klein, um ein Einbiegen zu ermöglichen. Der Grund für die langsame Geschwindigkeit und die Abstände offenbart sich mit einem Blick hinter das Steuer: Die Leute sind beschäftigt mit Schauen. Sie schauen rings umher und am liebsten schauen sie einem direkt ins Gesicht, denn sie müssen wissen, um wen es sich da handelt, der da mitten auf der Kreuzung steht und einbiegen will. Dazu werden sie oft langsamer, und wie enttäuscht ist ihr Gesicht, wenn sie einen nicht erkennen! Damit sie aber in Ruhe schauen können und nicht etwa Gefahr laufen, auf das vordere Fahrzeug aufzufahren, halten sie den besagten Pinzgauer Sicherheitsabstand von zwei Fahrzeuglängen ein.

Manchmal ergibt es sich, dass man zur Kreuzung kommt, und sich gerade keine Autoschlange im Gegenverkehr gebildet hat, man aber ein einzelnes Fahrzeug abzuwarten hat, ehe man einbiegen kann. Man schätzt und errechnet nach allen Regeln der Erfahrung den Abstand, kommt zu dem Schluss, dass bei gegebener Geschwindigkeit des Entgegenkommenden kein sicheres Einbiegen mehr möglich ist, bleibt also stehen, nur um zu erkennen, dass besagter Entgegenkommender immer langsamer und langsamer wird. Nicht etwa ist es seine Ampel, die gerade auf Gelb gesprungen ist und ihn so zum baldigen Anhalten mahnt. Nein, es ist allein seine Neugier, die ihn langsamer werden lässt. Denn er muss schauen. Schauen, wer da abbiegen will, schauen, ob viele Leute in der Fußgängerzone sind, schauen, ob das Hotel an der Hauptstraße heuer schöne Blumen hat, schauen, ob es im Sportgeschäft etwas Neues in der Auslage zu sehen gibt. So sitzt man selbst immer unruhiger in seinem Auto und verflucht zuerst leise, dann immer lauter werdend, den Schauer, der sein Vehikel mittlerweile auf Schritttempo verlangsamt hat, um sich alles genau anschauen zu können. Dreimal hätte man einbiegen können, hätte der Schauer seine Geschwindigkeit nicht so ungünstig verändert. Dreimal, bevor er überhaupt zur Kreuzung gekommen wäre. Und wäre er nicht langsamer geworden, wäre er schon vorbeigefahren und man hätte schon dreimal nach ihm einbiegen können. Aber so steht man immer noch blinkend auf der Abbiegespur und schaut seinerseits in das blöde schauende Gesicht. Kaum ist der Schauer endlich vorbei gefahren und man auch schon Gas geben will, da sieht man auf der Gegenverkehrsspur schon das nächste Fahrzeug heranrasen, von dem vorher noch weit und breit nichts zu sehen war. Also wieder warten. Und wieder wird der Raser wie von Zauberhand zum Schleicher, denn auch er muss schauen, schauen, schauen.

Auch auf den weniger befahrenen Straßen bewirkt das gemütliche Schauen der anderen eine sich stetig steigernde Nervosität in einem selbst. Etwa dann, wenn einem ein Fahrzeug mitten auf der Fahrbahn entgegenkommt, man selber gar nicht weiter rechts fahren kann, als man eh schon fährt, und darauf hoffen muss, dass der Lenker rechtzeitig wieder auf die Straße schaut und nicht auf die Blumenkastln der an der Straße gelegenen Häuser. Hupen bietet sich nicht an, denn das wäre zunächst noch übertrieben, später dann zwecklos. Lichthupe ist ohnehin dumm, weil er eh nicht schaut. Also hilft nur langsamer werden, während man sich ausmalt, was der heranrasende Landrover mit eigenem Auto und Leib anstellen würde, wenn er so, ungebremst und auch ungeschaut, in einen hineinführe. Dann aber schaut der Schauer wie zufällig doch einmal auf die Fahrbahn, weil er gerade den Blick von den rechten Blumenkastln zu den linken wandern lassen will, erkennt das entgegenkommende Auto und fährt schön gemütlich (bei etwa 70 km/h wohlgemerkt) wieder auf seine Seite der Fahrbahn. Sich selbst die Schweißperlen von der heißen Stirn wischend, gibt man dann wieder Gas und setzt seine Fahrt erleichtert fort, nicht ohne auch selbst die besonders schönen Geranien zu bewundern, welche den Balkon des Gasthofs heuer wieder schmücken...

So gestaltet sich der Straßenverkehr wohl überall auf seine Weise gefährlich und nervenaufreibend. Während sie am Land schauen, schauen sie in der Stadt überhaupt nicht, wollen nur mit ihren Schädeln über die Kreuzung und von einer Spur auf die andere. Deswegen sind die Grazer Autofahrer die „Schädel“, während die Zeller die „Schauer“ sind. Schauer oder Schädel, egal, was einem besser behagt, einfach sind sie alle nicht. Und dass eine der zwei Gruppierungen die Kulturtechnik des Autofahrens besser beherrsche als die andere, darf ebenso bezweifelt werden. Letztlich gelten auch für das Autofahren die Gesetze der Evolution und da überlebt eben immer der am besten Angepasste. Schlimm für einen, der in Graz wie ein Schädel und in Zell wie ein Schauer sich zu verhalten hat.

Montag, 23. Mai 2011

Zeller Weisheit

"Wo is da Dings zan ... woast scho ... der Nou zan dings .... Roa heing. Da Rechn! An Rechn moa i. Wo is oft da Rechn?"

Samstag, 21. Mai 2011

Heimweg


Ich bin am Heimweg, es ist schon fast ganz hell. In meiner Hand habe ich ein Buch über Georg Büchner, die Seitentasche meiner Jacke ist ganz unförmig und aufgebläht, weil sich darin ein zusammengewickeltes Regen-Cape von den Universal Studios befindet. Das habe ich bei einer Versteigerung erstanden. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, aber ich wollte irgend etwas haben und da ich gefehlt habe, als die schwarze Beethoven-Büste mit dem Mascherl um den Hals dran war, musste ich also mit dem Regen-Cape vorlieb nehmen. Das bleibt mir jetzt. Das und die schmerzliche Erinnerung an die nicht erstandene Beethoven-Büste.

Ausgestattet also mit einem Buch über Büchner und einem Regen-Cape, auf dem einen Woody Woodpecker frech angrinst, biege ich von der Sackstraße am Schloßbergplatz in Richtung Mur ab. Ich denke, viel absurder als mit meinen Accessoires kann man gar nicht daherkommen. Da sehe ich auch schon zwei Dummköpfe auf dem Mursteg herumtorkeln. Über den Mursteg gehe ich ohnehin nicht gern, weil er aussieht, als müsste er jeden Moment zusammenbrechen, ja, er sieht irgendwie behelfsmäßig aus. Auch die zwei Betrunkenen sehen behelfsmäßig aus, deswegen wähle ich den Weg über den Kaiser-Franz-Josefs-Kai zur Keplerbrücke. Die ersten Straßenbahnen fahren schon, und eigentlich ist es eine Unzeit, denke ich mir, eine Zeit des Übergangs von der tiefen Nacht in den geschäftigen Samstag Morgen. Es ist die Zeit, in der sich Betrunkene und Arbeitstätige dauernd über den Weg laufen. In den Straßenbahnen sitzen sie einander gegenüber und manchmal ist dem, der auf dem Weg zur Arbeit ist, der Betrunkene unangenehm, oft ist es aber auch umgekehrt und der Betrunkene fühlt sich irgendwie fehl am Platz, oder auf eine bestimmte Art und Weise schäbig.

Auch auf den Straßen sind sicher ein paar alkoholisierte Heimfahrer unterwegs, während den anderen noch schlaftrunken an jeder roten Ampel der Kopf auf das Lenkrad sackt. Eigentlich eine gefährliche Zeit, aber passieren tut selten was, weil die einen noch zu müde, und die anderen schon zu müde sind um irgendwelche Handlungen zu setzen, die darüber hinausgehen, sich selbst von Punkt A nach Punkt B zu bringen. Und was den Straßenverkehr angeht, so sind sowieso die Übermotivierten und Aggressiven die eigentlich Gefährlichen. Um diese Uhrzeit ist niemand übermotiviert oder aggressiv.

Zwischen halb fünf und halb sechs liegt eine schlappe Stunde, wahrscheinlich die schlappste des Tages. Und auch ich tappe schlapp die Mur entlang, ich gehöre wohl ebenso zu den Betrunkenen. Am Himmel lichten sich noch die letzten Nachtwolken, der Mond steht auch noch immer da, als würde er auf den Bus warten, der am Samstag Morgen nie fährt, und von dem er sich erwartet hätte, dass er ihn ins Bett bringen würde. Ich überquere den Fluss an der Keplerbrücke, schau dem Mond jetzt direkt in sein Gesicht, und denke mir meinen Teil. Auch der Mond denkt sich vermutlich seinen Teil, während er von dem seltsam cremigen Morgenlicht angestrahlt wird und mit letzter Kraft versucht, zurückzustrahlen. Er gibt eine lächerliche Figur dabei ab und ich muss wieder an die zwei torkelnden Idioten vom Mursteg denken. Vielleicht sind sie schon nach Hause, oder aber in die Mur getorkelt.

Ich tappe weiter, nun den Lendkai entlang. Es gibt nichts Einsameres als den Lendkai am frühen Morgen, denke ich mir. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann Georg Büchner starb, und weiß nicht mehr genau, ob es 1836 oder 1837 war. So seltsam der Gedanke in dieser Situation und um diese Uhrzeit auch ist, das muss ich jetzt wissen. Also versuche ich mir im Gehen die Information aus dem Büchner-Buch herauszulesen. Da wackeln die Buchstaben vor meinem Gesicht herum, als wollten sie mich ärgern. Ich suche ein „gest“ oder ein „orben“, für ein ganzes „gestorben“ ist mein Blickfeld zu klein. Noch dazu fallen mir fett gedruckte Wörter in den Weg, einiges ist mit rosaroten Textmarker hervorgehoben. Ich lese „wegweisende Wirkung“ und stutze, weil ich mir denke, was das heißen soll, wenn jemand eine Wirkung hat, die wegweist. Dann verstehe ich, dass der Weg gemeint ist, und wundere mich nur noch darüber, dass eine solche Information fett gedruckt ist. Ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin, es handelt sich zumindest um das Überblickskapitel zu Büchners Leben – die wegweisende Wirkung hat sich bestätigt. Ich suche den Tod, also blättere ich auf die letzte Seite des Kapitels und da lacht mir eine schiefe Fratze entgegen. Es handelt sich um eine „Erinnerungsskizze“ von Büchners Antlitz nach Alexis Muston, wie ich der Bildunterschrift entnehme. „So möchte ich nicht erinnert werden“, sage ich mir und grusle mich noch ein bisschen, bevor ich mich entschließe, gezielt nach Jahreszahlen zu suchen. 1875 steht da, das muss aber irgendetwas anderes sein. Ich lese „Krautgarten-Friedhof“, lese es nochmal und es heißt immer noch „Krautgarten-Friedhof“. Trotzdem meine ich, mich zu irren, lasse aber vom Krautgarten-Friedhof ab und suche weiter nach Jahreszahlen, blättere eine Seite zurück, lese ganz unten auf der Seite „19. Februar 1837“ und weiß, dass ich jetzt richtig bin, denn es ist fett gedruckt und rosarot hinterlegt. Der Tod also auf der vorletzten Seite, nicht auf der letzten, das ist bemerkenswert, denke ich mir, und nach dem Tod kommt nur noch Krautgarten-Friedhof und Erinnerungsskizze.

Während meiner Suchaktion haben sich meine Schritte unmerklich verlangsamt. Der Mond lacht mich aus, weil jetzt kann auch er sehen, dass ich betrunken bin. Ich aber fühle mich recht klar im Kopf und jetzt weiß ich ja auch wieder, wann Büchner starb. Außerdem fühlt sich das Regen-Cape von den Universal Studios in meiner Jackentasche gut an. Ich sehe es noch einmal an. Es ist azurblau, ähnlich wie die Farbe des Covers von „Thomas Crown ist nicht zu fassen“, der Nr. 45 in der Filmedition der Süddeutschen Zeitung. Heller aber als der Einband des Büchner-Buches, das selbst wiederum ein wenig heller als das Verkehrsschild ist, das den Rad- und Gehweg anzeigt, der die Mur entlang führt, den ich aber jetzt nicht betreten werde. Ein schönes Arrangement in Blau wäre das – das Regen-Cape, das Büchner-Buch und die Gehweg-Tafel, denke ich mir, biege aber schon in die Neubaugasse ein, muss aber noch daran denken, wie der Erwin einmal gesagt hat, dass die Gehweg-Tafel aussieht, als würde da ein Mann ein kleines Mädchen entführen wollen. Die „Kinderfazara-Tafel“, hat er gesagt, sei das. So eine entautomatisierte Wahnehmung haben nur die Künstler, denke ich mir und muss schmunzeln. Ich bin froh, dass ich daheim bin.

Donnerstag, 19. Mai 2011

Innerhofer

Am Lendplatz soff
einst Innerhofer.
der Franz, der aus den Bergen kam.

Gesprächsstoff für
die Künstler dort
war, wie er sich im Rausch benahm.

Es heißt, er habe
morgens schon
vier, fünf, sechs, sieben Bier getrunken.

Zu Mittag saß er
schief am Thron,
die Stirn auf seinen Arm gesunken.

Der arme Franz,
der Innerhofer,
wollt nimmer lustig sein.

Er hat in Graz,
sich ganz zerlebt
und kehrte nie mehr heim.

Zeller Weisheit

"Wonnst auf d'Nocht in da woamen Luft nemman Bouch de Hoiastaun riachst, woast, dass da Summa neama weit is!"

Sonntag, 15. Mai 2011

Kurze Begehung eines Wortfeldes

Neologismen sind eine spannende Sache. Ein Wort herzunehmen, in eine andere Wortart überzuführen und mit allerlei Präpositionen oder Affixen zu schmücken, kann nicht nur von ungemein nützlicher Kurzweil sein, sondern Bedeutungsverschiebungen erzeugen, die vielleicht sogar irgendwann mal nützlich sein könnten. Einer, der so etwas mit Vergnügen macht, ist der L. Der L. ist demgemäß ein regelrechter Neologist, und er hat letztens in einem seiner heiteren Blogeinträge ein Wort kreiert, das mir viel Freude bereitete und dessen Wortfeld ich nun ein wenig abwandern möchte.

Ausgehen möchte ich von L.s Satz: [...], dass der Erfolgsmensch dann, wenn er merkt, dass sein Erfolg ausbleibt, beginnt vor sich hin zu bittern.

Hier begegnet uns das ursprüngliche Adjektiv bitter in Form eines Verbs, genauer: in der Wendung vor sich hin bittern.

  • vor sich hin bittern: Wer vor sich hinbittert, der trägt eine traurige Bitterkeit vor sich her. Das in Verbform gebrachte Adjektiv "bitter" unterstreicht die Aktivität, die von dieser Bitterkeit ausgeht. Man bekommt den Eindruck, dass hier jemand aktiv an seiner Bitterkeit arbeitet und diese auch offen zur Schau trägt. Gleichzeitig entsteht aber auch ein Eindruck der Passivität. So wie ein Joghurt an der Sonne langsam sauer wird, wird der Vor-sich-hin-Bitterer langsam bitter. Seine Bitterkeit ist nichts ihm nur äußerlich Anhaftendes mehr, sondern hat längst schon von seinem Wesen Besitz ergriffen. Soweit, dass er nicht mehr nur verbittert, sondern selbst bittert: Das Bittere ist also ganz er selbst.
  • in sich hinein bittern: Das In-sich-hinein-Bittern geht oft dem Vor-sich-hin-Bittern voraus. Wer in sich hinein bittert, arbeitet noch rein aktiv und ist bemüht, seine Existenz mit Bitterkeit zu füllen, ohne dass noch irgendjemand anderes Anteil daran hätte. Die Bitterkeit ist dem In-sich-hinein-Bitterer Nahrung. Im Gegensatz zum Vor-sich-hin-Bittern erkennen wir hier, dass das Bittere noch nicht ganz den Bitterer ausfüllt. Es klingt zudem noch etwas Bemühtes mit, als gäbe es ein Ziel zu erreichen, ähnlich dem Gefühl der Sattheit (zu der ich lieber Sätte sagen würde) beim Essen oder die Betrunkenheit beim Trinken.
  • aus sich heraus bittern: Hier handelt es sich um die destruktivste Form des Bitterns. Der Aus-sich-heraus-Bitterer trägt schon so viel Bitterkeit in sich, dass er nicht mehr in sich hinein bittern kann, und ihm das Vor-sich-hin-Bittern nicht mehr genug ist. Er muss Bitterkeit loswerden und das am besten an anderen Menschen. Also bittert er alle Bitterkeit, die er inne hat, aus sich heraus. Optisch ist das neben dem Vor-sich-hin-Bittern die interessanteste Variante, da die Expressivität wie auch die Dramatik beim Aus-sich-heraus-Bittern auf das höchste gesteigert werden kann.
Besondere Erwähnung sollten auch die passivischen Konstruktionen finden. Man lasse die folgenden einfachen Beispielsätze einmal auf sich wirken:
  • Es bitterte in ihn hinein.
  • Es bitterte aus ihm heraus.
Im ersten Fall wird jene Bedeutungskomponente, welche die Aktivität des In-sich-hinein-Bitterns ausmacht, vollkommen ausgelöscht und es entsteht ein eigenartiges, fast mythologisch anmutendes Bild eines völlig entmachteten Menschen, der von Bitterkeit durchdrungen wird, nein: in den Bitterkeit eindringt.
Aber auch die zweite Variante ist nicht weniger drastisch. Die Passivkonstruktion nimmt dem ursprünglichen Aus-sich-heraus-Bittern zwar das Aggressive, aber um den Preis, dass wir uns den Menschen, aus dem es herausbittert, nur mehr als leichenhaftes, von Bitterkeit durchtränktes Etwas vorzustellen vermögen. Ein trauriges, ein schockierendes Bild.

Doch bietet das Feld des Bitterns noch viele andere Möglichkeiten, mit Worten Bilder von grausigster Anschaulichkeit zu erzeugen. Nicht auszudenken, welch großartige Sätze man mit Konstruktionen wie zerbittern, erbittern, umbittern, einbittern, nachbittern oder ausbittern bilden könnte. Dies diene aber nur als Denkanstoß für die nächste Urlaubspostkarte oder den jährlichen Weihnachtsbrief an entfernte Verwandte.

Viel Spaß beim Bittern!

Samstag, 14. Mai 2011

Zeller Weisheit

"Wonn da nochn Fuatgeh no muads schlächt is, nocha woa wascheinlich as letzte Bia grausig!"

Freitag, 13. Mai 2011

Anekdotenhaftes über das Neue


Das Neue definiert sich vor allem über das, was es vorher war. Selbst dann, wenn vorher nichts war. Ich glaube, ich habe das Wort „neu“ in der Schule gelernt. Eigentlich seltsam, dass man sich an das Erlernen von Wörtern erinnern kann. Im Falle von „neu“ bin ich mir aber ziemlich sicher, dass ich es vorher nicht gekannt habe. Wahrscheinlich, weil man es vorher auch nicht braucht. Als keines Kind ist ja dauernd alles neu, da braucht man kein eigenes Wort dafür. Wir haben ja auch kein Wort für den Umstand, dass … sagen wir … es jeden Tag hell und wieder finster wird.

In der Schule also habe ich das Wort „neu“ gelernt und ich denke, es muss in der ersten Klasse gewesen sein. Wie man in der Schule Wörter lernt, dürfte ja jedem bekannt sein. Bei Adjektiven lernt man meist auch die Antonyme dazu, im Fall von „neu“ also „alt“. Und da ist sie auch schon passiert, die Scheidung zwischen alt und neu. So etwas bekommt man, hat man das Konzept einmal verstanden, nie mehr aus dem Kopf heraus. Und plötzlich sieht man schon als kleiner Wicht in allem das Alte und Neue. Man kommt nach Hause und die Spielsachen, die einfach immer nur da waren, sind plötzlich alt, weil eben nicht mehr neu. Plötzlich fängt alles Neue an, eine Faszination auf einen auszuüben.

Dann sieht man es im Fernseher flimmern: Alles neu. Was es alles vorher nicht gegeben hat, und es jetzt auf einmal gibt! Natürlich, wenn die Sprache auf die Werbung kommt, wird die Krux des Neuen gleich offenbar. Denn nicht alles, was „neu“ genannt wird, ist auch tatsächlich neu. Manchmal ist es einfach nur ein bisschen anders. Aber weil es eben anders ist als das, was vorher war, darf man es – unserer Eingangsdefinition gemäß – neu nennen. Es seien nur zwei Beispiele genannt, die mir den Schwindel des Neuen schon in frühester Kindheit offenbarten. In beiden Fällen war ich nämlich vom Neuen ganz schön enttäuscht. Vor allem aber von der Erfahrung, dass das Neue nicht umkehrbar ist.

„Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix!“, versprachen sie in der Werbung. Tatsächlich hat sich nichts geändert, der Doppelriegel schmeckte auch nach seiner Neutaufe gleich. (Dass die über die Jahre hinweg natürlich die Rezeptur geändert haben und das heutige Twix mit jenem der frühen 90er nichts mehr zu tun hat, versteht sich von selbst.) Aber seitdem Raider in Twix umbenannt wurde, habe ich mich vom Neuen betrogen gefühlt. Mir gefiel nämlich der Name nicht. „Raider“, das klang irgendwie gefährlich und irrsinnig cool. „Twix“ hingegen kam mir vor wie der Name einer lächerlichen Figur in einer Kinderzeichentrickserie. In „Raider“ klang der Nimbus des Erwachsenen mit, da stellte ich mir lässige Halbstarke vor, die mit Mopeds oder Autos herumfuhren und sich hauptsächlich von Schokoriegeln ernährten, weil sie nicht mehr zu Hause essen mussten. „Twix“ verband ich mit den luschigen Typen aus der Werbung, die mir den neuen Namen einzuhämmern versuchte. Ich war unzufrieden und glaube sogar, mich erinnern zu können, dass ich vor dem Fernseher protestierte, als sie mir immer wieder sagten, dass Raider jetzt Twix heiße und sich sonst nichts ändern würde. (Ich war ein großer Protestierer vor dem Kastl! Zum Beispiel protestierte ich auch immer gegen die GlissKur-Werbung, die postulierte, dass es nur zwei Möglichkeiten gebe, dem Spliss entgegenzuwirken: Abschneiden oder GlissKur Hair Repair. Zum Ende der Werbung sagte dann eine spöttische Stimme „Also entweder...“ - hier brach die lockige Frau dann selbstzufrieden eine Schere auseinander - „... oder GlissKur.“ Das Auseinanderbrechen der Schere empfand ich als unglaublich ungerecht, denn damit wurde die anfänglich großartig angekündigte Alternative zur Farce. Also protestierte ich, dass der Schere Unrecht getan werde und die Leute von GlissKur es mit ihrem Postulat nicht ernst meinten. Soviel dazu.)

Die zweite, stillschweigend vorgenommene Veränderung betraf meine heiß geliebte Lieblingsserie Knight Rider (nur zufällig hört man auch hier ein „Raider“ mit. Gottlob, sie haben den Knight Rider so gelassen und nicht in „Knight Twix“ umbenannt!). Dort hat das Auto KITT irgendwann einfach neue Armaturen verpasst bekommen. Am drastischsten zeigte sich dies an dem roten Viereck, das synchron zu KITTs Stimme blinkte, wann immer er redete. Anstelle des roten Vierecks hatte es zuvor drei längliche, vertikal ausgerichtete Lichtbalken gegeben, von denen die beiden äußeren kürzer waren als der mittlere, und die, je nach Lautstärke (?), weiter oder weniger weit ausschlugen. Diese roten Lichter waren deshalb so wichtig, weil sie oft in Großaufnahme zu sehen waren, wenn KITT gesprochen hat. Die roten Balken waren quasi als Substitut für das Gesicht von KITT gedacht. Und die hat man irgendwann durch ein rotes, völlig einfallsloses Kastl ersetzt. Das war also neu. Auch sonst hatten die Armaturen nicht mehr den Charme der frühen Folgen, obwohl die Designer sichtlich bemüht waren, die Neuerung als Fortschritt darzustellen. Ich war beleidigt, denn mein geliebter KITT sah jetzt anders aus – zumindest von innen. Und ich wusste, dass es so bleiben würde, dass es kein zurück mehr gab und ich fortan KITT in sein plapperndes Viereck schauen müsste.



Zwei Erlebnisse also, die mir zeigten, dass es mit dem Neuen so eine Sache ist. Erstens, weil man ihm hilflos ausgeliefert ist, auch wenn einem die Neuerung nicht schmeckt. Und zweitens, dass nicht alles wirklich neu ist, was neu heißt. Das sind zweifelsohne Grundtraumata des jungen Kindes, die sich möglicherweise irgendwann einmal in einem Konservativismus äußern, der das Neue von vornherein scheut und also ablehnen muss. Dies ist freilich ein worst-case-Szenario, aber ich bemerke schon, dass ich dem Neuen weniger aufgeschlossen gegenüber stehe, weil ich erstens dahinter den (womöglich schmerzlichen) Verlust des Alten wittere und zweitens, weil das Neue potenziell suspekt ist, was die tatsächliche Andersartigkeit seines Wesens anbelangt.

Das Neue ist die Nichtung des Alten durch die Erneuerung, würde irgendein Existenzialist sagen, und das klingt tatsächlich ziemlich blöd. Ganz unproblematisch ist aber das Neue nicht und zwar besonders in Bezug auf das ersetzte Alte. Man merkt das als moderner Mensch beim Handykauf: die Konservativen oder die Technikängstlichen möchten immer ein „ganz einfaches Handy, mit dem man SMS schreiben und telefonieren kann“ (am besten auch noch ohne Kamera). Sie müssen dann enttäuscht oder verängstigt feststellen, dass es so etwas praktisch nicht mehr gibt. Oder man denke an Software, die ständig upgedatet sein will, so lange, bis das Update derart in Optik oder Funktionsweise des Programms eingreift, dass man gerne wieder downdaten würde. Dann ist der Zug aber meistens schon abgefahren. Und ich brauche gar nicht auf die vielen Klagepostings hinweisen, wenn sich bei facebook wieder mal irgendetwas mehr oder weniger Grundlegendes ändert. Plötzlich kommen da demokratische Prozesse in Gang und tausende von Menschen fordern per Mausklick die Wiederherstellung des Alten. So etwas gibt auf absurde Weise zu denken.

Davon, wie das Neue durch Versprechungen und Verheißungen die Menschen im Umgang mit dem, was sie haben, und was nun „alt“ genannt werden muss, verunsichert, will ich gar nicht reden. Ein Beispiel aus meiner gar nicht so fernen Jugend aber möchte ich schon noch bringen. Es geht darin nämlich darum, wie das Alte plötzlich als Neues erscheint und man ihm auf einmal wieder Wert zumisst.

Ich hatte einmal eine Digitaluhr von Casio. Damals besaß man so etwas nicht nur deswegen, weil es einfach Mode war und Zeigeruhren irrsinnig rückständig aussahen, sondern auch, weil man damit dauernd sich selbst oder andere beim Laufen oder Klettern oder sonstwas stoppen konnte (sowas haben die Kinder damals noch gemacht?). Ich trug die Uhr gern und andauernd, bis ich es einmal zu einer Anhäufung mehrerer Uhren brachte, deren Entstehung mir heute nicht mehr ganz klar ist. Nicht, dass ich sie gestohlen hätte! Ich glaube, es handelte sich um Werbegeschenke, die mir, teils über meinen Vater, teils über irgendwelche Bekannten, zugekommen waren. Sie waren im Wert natürlich nicht mit meiner Casio zu vergleichen, aber als Kind ist einem so etwas ohnehin egal. Wichtig war nur, dass die Casio jetzt alt war und also vorerst in einer Schublade verschwand. Die Sammlung meiner neuen Uhren (ich glaube, es waren drei) trug ich öfters übermütig als ganzes auf einem Arm, oder auf zwei Arme verteilt durch die Gegend. Mein Vater erklärte mir, dass das russisch sei, weil die Russen früher im Krieg gerne Uhren gestohlen hätten und sie auch alle gleichzeitig auf einem Arm getragen haben. So kam ich mir also vor wie ein Russe.

Wie es so ist mit Werbegeschenken, verloren die Uhren bald teilweise ihre Funktion, wurden also kaputt und für den genauen Beobachter der Zeit unbrauchbar und überdies unansehnlich, denn auf manchem Display zuckten nur noch ein oder zwei graue Balken und durch kein noch so festes Drücken an irgendwelchen Knöpfen konnte die Funktionstüchtigkeit wieder hergestellt werden. Da beschloss ich, meinem Dasein als Russe ein vorläufiges Ende zu setzen, und holte meine Casio wieder aus der Schublade heraus. Sie war dort sicher ein paar Monate gelegen, und als ich sie wieder in die Hand nahm und ihr vor Kraft strotzendes Display betrachtete, das immer noch die richtige Uhrzeit anzeigte, da bekam sie in meinen Augen einen seltsamen Glanz des Unbekannten. Ich bestaunte sie mit einer Mischung aus dem Gefühl, das eine längst verstaubt geglaubte Erinnerung auslöst, und der Aufregung beim ersten Betrachten überhaupt: Sie war wie neu.

Zwar hatte sich in den Ritzen und Rillen des Plastikarmbandes Staub angesammelt, aber ihr Gesicht strahlte in alter Frische, die Anordnung der Knöpfe und die kleinen Beschriftungen, die über die Funktionen der einzelnen Tasten Auskunft gaben, wurden von mir aufmerksamst betrachtet, als sähe ich sie zum ersten Mal. Prüfend schaltete ich alle Funktionen durch, es waren natürlich viel mehr als alle meine drei Russenuhren zusammen gehabt hatten, und ich war zufrieden. Die Umkehrung vom Alten zum Neuen war vollzogen.

Wie man sich zu seinem Zeug verhält, sei es alt oder neu, ist eine Frage der Wertschätzung. Was hier so arg bedeutend und altklug klingt, hat weitreichende Konsequenzen, wenn man anfängt, sich mit dem, was man hat, tatsächlich auseinanderzusetzen. Begierden und Wünsche, die sich auf das Neue richten, können ganz schön lästig sein. Sich mit dem, was man hat, wertschätzend zu befassen, hilft einem dabei, das Drängen dieser Wünsche empfindlich zu dämpfen. Die strenge Scheidung zwischen den Konzepten des Alten und des Neuen gedanklich aufheben zu versuchen, wäre eine Übung, die zu praktizieren sich wohl täglich lohnen würde. Gleichzeitig aber würde das der Wirtschaft vermutlich empfindlichen Schaden zufügen. Und wie wir wissen, geht es uns allen nur dann gut, wenn es auch der Wirtschaft gut geht.

Um diesen Ausführungen kein pseudo-konsumkritisches Ende zu geben, muss ich noch einmal auf den Beginn zurückkommen. Das Neue ist neu im Lichte des Alten und wird zwangsläufig selbst irgendwann zum Alten, was im Grunde beschämend für das Neue ist. Aber in dieser paradoxen Entwicklung offenbart sich das eigentlich Unbedeutende des Neuen. Das Neue ist nicht „neu“ im eigentlichen Sinn. Es ist schlichtweg etwas Anderes als das, was schon ist bzw. da war. Darin verbirgt sich die ohnehin auf der Hand liegende Erkenntnis, dass das Neue deshalb auch nie das Bessere sein muss bzw. sein kann. Das Adjektiv „neu“ sagt im besten Falle etwas über den Seinsstatus eines Dings aus, nämlich, dass es noch nicht allzu lange (eine vage Angabe!) in der Welt ist. Man bedenke, welche absurden lebenspraktischen Konsequenzen wir aus dieser bedeutungslosen Aussage ziehen!

Mittwoch, 11. Mai 2011

Das Orakel irrt sich (nie)

"Die Sturm-Spieler haben immer nur Automaten gespielt. Das hat denen getaugt! Immer nur Automaten!" Der Franz ist heute gut aufgelegt, obwohl nicht viel los war und er eigentlich müde ist. Er erzählt von früher, von berühmten Gästen und seinen Fähigkeiten als Orakel. "Dem Baric hab ich immer die Aufstellung angesagt, wie er spielen soll. Der war ja auch öfters da", grinst der Franz, weil er es selber gar nicht glauben kann, wie frech er damals schon gewesen ist. Einmal, sagt er,  habe er beim ÖFB angerufen und ist irgendwie zum Teamchef durchgestellt worden und hat ihm gesagt, wenn er wissen wolle, wen er als Libero aufstellen soll, dann habe er einen guten Tipp für ihn. Das sagt der Franz halt, das muss man ihm aber glauben, auch wenn man weiß, dass er die Leute zu gern am Schmäh hält.

Stolz ist der Franz aber vor allem auf seine Vorhersagen, für die er berüchtigt zu sein glaubt. Einmal spielte der SV Anger gegen Gratkorn. Der SV Anger ist der Lieblingsverein vom Franz. Eigentlich einer von dreien. Die zwei anderen spielen heuer im Championsleague-Finale. "Manchester United, Anger und Barcelona", sagt der Franz und spricht Barcelona "Bazelona" aus.
Damals jedenfalls saß der Franz im Stadion, als die Angerer gegen die Gratkorner spielten und hat vor dem Spiel gesagt "Heute gewinnen wir 5:3!" und alle haben ihn natürlich ausgelacht, weil wer sagt schon so ein Ergebnis voraus. "Neben mir ist der Sektionschef gesessen, der hat nur noch gesagt 'Franz, sei still jetzt', weil er sich schon geschämt hat. Und zur Pause ist es dann 3:1 für Gratkorn gestanden und die Gratkorner Fans haben auch schon gelacht. 'Trotzdem gewinnen wir noch 5:3', hab ich dann gesagt." Und da muss der Franz wieder lachen. Ein Lachen wie ein Schluckauf zuerst, und dann lacht er mehr und mehr. Weil natürlich haben die Angerer dann wirklich noch 5:3 gewonnen und alle haben den Franz angeschaut als wäre er von einem anderen Stern gekommen.

Der Franz hat damals auch Fußballgedichte geschrieben, wie er erzählt. "Sogar im Kurier habens den Blödsinn gedruckt!" Dem großen Ernst Happel hat er einmal ein Gedicht geschrieben, das mit der Warnung schloss, dass, wenn er so weitermachen würde, er bald gegen Krems oder Stockerau spielen müsse. Tatsächlich hat Happel mit Tirol dann im folgenden Cupfinale gegen den Kremser SC verloren. Wieder hat der Franz etwas richtig vorhergesagt. Wieder lacht er beim Erzählen, als könne er es selber gar nicht glauben, was er alles gemacht hat.

Nur einmal hat der Franz etwas nicht vorhergesehen. Eines schönen Sommernachmittages hat sich im Gastgarten seines damaligen Lokals der Bundeskanzler Schüssel auf einen Sessel gesetzt und auf einen zweiten seine Füße gelegt. So etwas macht man normalerweise ja nicht, aber der Franz hatte Nachsehen mit dem Herrn Bundeskanzler, weil ja auch sonst niemand im Gastgarten war und der Bundeskanzler gerade seinen Urlaub genoss, eben von der Südsteiermark gekommen war und sich ganz ohne Mascherl ein kühles Getränk gönnen wollte. Der Franz, der im Umgang mit Politikern immer schon geschickt war, hat dem Schüssel natürlich Honig um das Maul geschmiert, dass einem anderen vermutlich ganz schlecht geworden wäre. Dem Schüssel hat das natürlich getaugt wie den Sturm-Spielern der Spielautomat.
"Dann hab ich ihm gratuliert zum Finanzminister.", sagt der Franz und es schüttelt ihn wieder vor Lachen. "Wie zum Finanzminister?", fragen wir. "Ja zum Grasser ... dass er den geholt hat. Ich hab ihm gesagt 'Das ist der Richtige' und ihm zur Entscheidung gratuliert!" und jetzt scheppert der Franz direkt vor Lachen, wie ich es noch nie gesehen habe und wir lachen natürlich auch. Das war wahrscheinlich das einzige Mal, dass sich der Franz richtig getäuscht hat. Der Schüssel hat sich freilich damals beim Franz bedankt, weil dem das getaugt hat.

Dienstag, 10. Mai 2011

Zeller Weisheit

"Wonns da bei ins nid taugg, nocha foast hoid noch Italien. Owa reg di jo nid auf, wonns doscht recht toia is!"

Sonntag, 8. Mai 2011

Landmarken: Der Lendplatz


Aus dem Grazer Lendplatz wird kein Mensch schlau. Von allen Plätzen in Graz, zumindest von allen größeren, ist der Lendplatz der fragwürdigste. Eine steile These, mag man meinen, wenn man an Plätze wie den Jakominiplatz, den Griesplatz oder den wirklich auch sehr fragwürdigen Geidorfplatz denkt. Der größte Konkurrent in Sachen Fragwürdigkeit ist aber der Andreas-Hofer-Platz, der ehemalige Fischplatz. Schon allein der Name ist da sehr fragwürdig. Denn erstens: Was hat der Andi Hofer mit Graz zu tun? Zweitens verrät der alte Name schon, dass der Platz für die Fisch ist. Aber der Andi-Hofer-Platz ist schon dermaßen absurd und hässlich, dass ich ihm glatt das Wettbewerbsrecht aberkennen würde, weil er in Sachen Fragwürdigkeit tatsächlich in einer ganz eigenen Liga spielt.

Dem Lendplatz hingegen kann man eine gewisse Wichtigkeit schon allein deswegen nicht absprechen, weil er die Feuerwehr beherbergt und weil er Verkehrsknotenpunkt für 4 (in Worten: vier) GVB-Buslinien ist; außerdem fahren noch ein paar Watzke-Busse in Dörfer, die außerhalb von Graz liegen und in die in Wahrheit niemand fahren will, außer ein paar alte Leute, die nicht mehr selber mit dem Auto fahren können oder dürfen. Im Vergleich zum Jakominiplatz ist aber die verkehrstechnische Bedeutung des Lendplatzes natürlich mickrig.

Der Lendplatz ist aber gleichzeitig auch lässig, weil da viele hippe und junge Läden auf- und oft bald wieder zusperren. In den Zeitungen steht dann, das Viertel blühe auf. Außerdem ist der Lendplatz ein multikulturelles Kleinod, weil es da türkische Geschäfte gibt und ein serbisches Café sowie einen sehr modern interpretierten Kramerladen ungeklärter ethnischer Provenienz. Auch eine kurdische Pizzeria gibt es dort, die sehr gut ist. Und sonst auch noch ein paar Lokale, steirische und sonstige; man könnte also auch behaupten, dass der Lendplatz ein regelrechtes Genussviertel ist.

Freilich ist der Lendplatz auch eine Vergnügungsmeile. Denn es gibt ein Admiral Sportwettencafé, wo garstige alte Steirer den ganzen Tag Bier trinken und rauchen. In den anderen beiden Wettcafés wird sicher auch garstig getrunken und geraucht. Und natürlich gibt’s am Lendplatz Puffs. Und es gibt die Scherbe und das Exil und das Pierre's und auch das ppc ist da und so weiter und so fort.

Auch einen Bauern-Markt gibt es am Lendplatz, also ist der Lendplatz auch ein Marktplatz. Ein paar feste Standeln gibt es da, wo man auch, wenn kein Markt ist, hingehen und was kaufen kann. Meistens gehen die Leute aber nur zum Saufen hin. Wenn man den Bauernmarkt nicht mag, weil einem das zu persönlich ist, dann kann man auch zum Billa oder zum Spar gehen, denn auch solche Geschäfte hat es am Lendplatz. Parfums und Make-Up kauft man beim Bipa, Druckerpatronen und CDs beim Libro und wenn man einmal nicht daheim schlafen will, mietet man sich im Mercure (seriös) oder im Etap-Hotel (unseriös) ein, denn auch Hotels gibt es am Lendplatz.

Geld für die Hotels holt man sich bei der Sparkassa oder der Bank Austria, der Lendplatz ist nämlich das Bankenviertel von Lend. Es gibt am Lendplatz drei Friseure, einen für Herren, einen für Damen und einen für Türken. Es gibt einen Handyshop und einen Bäcker, ein Fotostudio, ein Reisebüro, eine Fahrschule, die Polizei, die Post, einen Floristen... es ist fast nicht zum Aushalten.

Ich frage mich, was es am Lendplatz eigentlich nicht gibt. Bis auf eine Straßenbahnhaltestelle gibt es eigentlich alles. Viele werden jetzt fragen, warum ich den Lendplatz nun für den fragwürdigsten aller Grazer Plätze halte. Eben deswegen, weil es da im Prinzip alles gibt und man, sofern man in Lendplatznähe wohnt, eigentlich nur zum Lendplatz gehen muss, wenn man irgendwas braucht. Das ist deswegen ein Problem, weil es dem Lendplatz nun doch nocht an etwas fehlt: an Flair. Ganz Lend hat keinen Flair, ja man müsste fast sagen, dass der Lendplatz in Sachen Flair noch das Highlight innerhalb der Grenzen von Lend ist. Als Lendbewohner kommt man, wenn man es praktisch sieht, nie über den Lendplatz hinaus, das heißt, man bekommt von Flair nie irgendwas mit, obwohl es in Graz hie und da schon ein bissl Flair zu erhaschen gäbe. Sicher aber nicht am Lendplatz!

Also geht man als Lendbewohner Umwege. Man geht möglichst schnell aus dem Lend (so heißt es doch, oder? Heißt es nicht der Lend?) hinaus, über die Keplerbrücke hinüber oder am Kai entlang Richtung Gries, bis man beim Kunsthaus ist, das ja eigentlich noch in Lend steht, aber das ist nur eine Beckmesserei für Stadtplanzeichner, denn gefühlt gehört das Kunsthaus zur Innenstadt. Man hat es nur nach Lend gestellt, also auf die andere Murseite hinüber verfrachtet, weil man da noch Platz gehabt hat und weil man es dort schön von der Innenstadt aus sehen kann. Von (vom?) Lend aus sieht man das Kunsthaus nämlich überhaupt nie, und wenn, dann nur von hinten, und von hinten ist es hässlich wie nur was – richtig ungustiös.
Die Umwege geht man als Lendbewoher, damit man einmal hinaus kommt aus dem Lend, damit man etwas Anderes sieht und ein wenig von der, sich ihrer natürlichen Grenzen gänzlich bewussten Grazer Schönheit mitbekommt. Den Lendplatz gilt es daher zu meiden. Er ist ein flairloser Alleskönner, ein Unsympathler der hundsgemeinen Art, den sie nur deswegen gemacht haben, damit die Leute, die am Grazer Bahnhof ankommen, und die nur schnell was brauchen (einen Friseur, einen Bäcker, einen Floristen), gar nicht in die Innenstadt kommen, weil es am Lendplatz ja eh alles gibt. Und weil dann viele über die Annenstraße in die Innenstadt wollten, haben sie die verkümmern lassen; haben sie zu einem langgezogenen Lendplatz werden lassen und zusätzlich, um ganz sicher zu gehen, dass keine lästigen Leute in die Innenstadt kommen, haben sie beim Bahnhof noch einen Spar gebaut, der so lange offen hat, bis kein Zug mehr fährt und kein Lästiger mehr ankommt und in die Innenstadt fahren muss. Früher hat man Stadtmauern gebaut, heute macht man ungustiöse Plätze und Straßen, die die Leute davon abhalten, in die schöne Innenstadt zu kommen.

Zeller Weisheit

"Wea umma hoiwa siemi scho auf is, braucht si nid wundann, wonna si umma hoiwi öfi scho wieda hieleng muas!"

Donnerstag, 5. Mai 2011

Zeller Weisheit

"Wonnst recht long untawegs woast, schaust zann Flames am Bonnhoof, wei do gibbs oiwei no a Kebab odara Pizza, wos an Alk aufsaugg."

Mittwoch, 4. Mai 2011

Flucht vor einem geistigen Gespräch


„Ah, das ist aber interessant, was Sie da haben!“ Ich weiß zunächst gar nicht, ob ich gemeint bin, weil in einer Buchhandlung angesprochen zu werden, das ist mir höchst suspekt, darauf bin ich nicht vorbereitet, weil es etwas ist, worauf man eigentlich nicht vorbereitet sein soll, will man nicht als eitel oder armselig gelten. Wer spricht schon jemanden in Buchhandlungen an? Ich meine jetzt nicht Gespräche zwischen Kunden und Angestellten, sondern Gespräche, die zwischen zwei Kunden, die sich nicht kennen, stattfinden. Das sind doch in 99,9% der Fälle irgendwelche Männer, die irgendwelche Frauen ansprechen und glauben, das wäre jetzt die beste Möglichkeit, eine intelligente Frau kennenzulernen, wenn man sie fragt, was sie da lese oder wie es ihr gefalle usw. Weil sich dann die Frau denken soll: „Sieh einer an, das ist ja ein Mann, der liest! Der muss aber gescheit sein, mit dem will ich ins Bett gehen!“

Und deswegen reagiere ich erst einmal gar nicht auf den Satz, der da an meine Ohren dringt. Ich gebe zu, dass ich auch deswegen nicht darauf reagiere, weil die Stimme nicht weiblich klingt. Aber selbst, wenn ich eine weibliche Stimme gehört hätte, nur zögerlich hätte ich mich darum gekümmert, denn: Frauen, die Männer in Buchhandlungen ansprechen, sind vielleicht sogar noch suspekter als Männer, die Frauen in Buchhandlungen ansprechen. Diese Art Frauen hat entweder zu viele solcher Filme gesehen, in denen so etwas immer toll funktioniert (bei Hugh Grant mit Brille), oder es handelt sich um Klugscheißer-Frauen, die ja nicht nur suspekt, sondern überhaupt lästig sind. Im Zweifelsfall gilt also, nicht darauf zu reagieren, wenn man in Buchhandlungen angesprochen wird.

„Simmel liest ja heute kaum noch jemand!“, höre ich die Stimme sagen. Kein Zweifel, damit bin ich gemeint. „Eigentlich paradox“, muss ich da denken, „dass ich weiß, dass ich gemeint bin, obwohl da jemand in einem Satz so undeutlich auf mich referiert, ich mich also absurderweise in der Formulierung kaum noch jemand wiederkenne.“ Dann aber erkläre ich mir die Referenz so, dass die Stimme „Simmel“ gesagt hat, damit quasi metonymisch das Buch meinte, das ich in der Hand halte und damit also mich, weil meine Hand nicht schnell genug das Buch fallen lassen kann, bis die Stimme ihren Satz beendet hat. Das hätte ich nämlich gern getan. Ich hätte augenblicklich das Buch fallen lassen müssen, mich also von der Referenz befreien, die über das Buch in meiner Hand zwischen der Stimme, dem Simmel und mir hergestellt wurde und einfach aufstehen sollen und gehen. Unhöflichkeit hin oder her.

Zu spät, das Buch ist noch in meiner Hand und die Stimme meint also ganz bestimmt mich, deshalb schaue ich auf und stelle enttäuscht fest, dass ein Philosoph vor mir steht. Der Mann hat das, was man gemeinhin eine Wurstblatt-Glatze nennt; die wenigen Haare, die sein Haupt noch zieren, sind fettig und kleben auf Glatze und Stirn. Er hat eine Brille, das einzig Sympathische an ihm, denn sie ist groß und alt und so das einzige, das seinem Kopf irgendeine Würde verleiht. Die Augen sind zwar klein, erscheinen aber durch die dicke Brille normal groß, die Nase des Mannes ist über Gebühr gebogen und lang, der schmale Mund verschwindet fast darunter. Trotzdem, sein Gesicht ist freundlich. Dass er Philosoph sein muss, erschließt sich mir über seine Kleidung und weil er in der Philosophieabteilung der Buchhandlung steht. „Leute, die so angezogen sind und sich für philosophische Bücher interessieren, sind Philosophen“, denke ich mir.

Natürlich bin ich selber schuld, dass ich in der philosophischen Abteilung einer Buchhandlung mich entblöde, Platz zu nehmen und mir erlaube, in ein Buch hineinzuschmökern. Das Hineinschmökern in Bücher ist generell eine Blödsinnigkeit, das Schmökern in philosophischen Werken allerdings ist ein Unsinn der banalsten Art, für den ich jetzt büßen muss, denn der Philosoph vor mir will offensichtlich ein
geistiges Gespräch anfangen.
Ja, leider, den Simmel lesen nicht mehr viele“, wiederhole ich sinngemäß die Worte des Fremden und muss ein ziemlich dümmliches Lächeln aufgesetzt haben, denn der Philosoph schaut verdutzt. Er erholt sich aber schnell, wovon auch immer er sich verdutzen ließ, und wagt einen Witz: „Höchstens den Johannes Mario Simmel!“, und er kichert das Kichern eines Philosophen, welches ihn jetzt endgültig als einen solchen zu erkennen gibt. Ich muss ihn jetzt enttäuschen, muss ihm den Wind aus den Segeln nehmen, den er tatsächlich glaubt zu haben, und sage ganz ernst, mit einem künstlichen Bedauern: „Ja nicht mal mehr den!“, was ja auch stimmt. Da erholt sich der Philosoph von seinem Witz ganz schnell und wird wieder ernst. „Ein wichtiger Denker, Georg Simmel! Vor allem für die Philosophie der Kultur!“ Dieser Satz, so wahr er vielleicht sein möge, hat etwa den Erkenntniswert eines Stoßstangenaufklebers, aber er funktioniert, denn ich weiß nun, dass der Philosoph tatsächlich ein geistiges Gespräch beabsichtigt.

Weiß ich nicht“, sage ich und freue mich diebisch über diese dumpfe Antwort. Neben „Interessiert mich nicht“ ist „Weiß ich nicht“ mit Sicherheit die ärgerlichste Antwort, die sich ein Philosoph erwarten kann. „Jaja, ganz bedeutend! Georg Simmel war der Wegbereiter für einige der größten Köpfe des 20. Jahrhunderts. Adorno, Foucault, Sartre, alle hat er sie beeinflusst.“ Der Umstand, dass der Philosoph Wörter wie bedeutend und große Köpfe verwendet, macht ihn mir gleich noch suspekter. Dass aber seine Einschätzung wie der Klappentext des Buches klingt, das ich immer noch in der Hand halte, ärgert mich doch sehr. „Mhm“, mach ich, klappe das Buch zu und ergänze: „Aber auch Bloch, Luhmann und Heidegger hat er beeinflusst!“ Dass ich dabei schamlos von der Rückseite des Buches ablese, möchte ich dem Philosophen gar nicht verbergen. Da lächelt der Philosoph ein wenig unsicher, offenbar fühlt er sich ertappt und ich habe ein bisschen Mitleid mit ihm.
Ich wollte mir nur Simmels Essay über die Alpen durchlesen“, sage ich ihm wahrheitsgemäß, um ihm mein ehrliches Interesse quasi zum Fraß vorzuwerfen. „Oh“, macht der Philosoph und scheint sich zu freuen. „Simmel wählte ja die ungewöhnlichsten Themen für seine Aufsätze. Zum Beispiel schrieb er auch über die Mode, über den Rahmen oder den Henkel!“ Zwar klingt auch dieser Satz wieder wie ein Klappentext, ich verzeihe aber diesmal und lächle ihn nur an, so nichtssagend wie ich es fertig bringe. „Ähm, darf ich fragen, wieso Sie sich gerade für diesen Text interessieren?“, fragt mich der Philosoph sehr höflich. „Eigentlich geht dich das ja überhaupt nichts an“, denke ich mir, aber weil er mich so lieb anblickt und ich irgendwie schon wieder Mitleid mit ihm habe (ist er doch Philosoph und hat er doch in mir einen hoffnungsvollen jugendlichen Simmel-Leser gefunden) antworte ich ihm: „Ich wollte wissen, was ein Deutscher über die Alpen zu sagen hat.“
Der Philosoph schaut ein wenig überrascht und fragt mich, ob ich mich denn sehr für die Alpen interessiere. „Nicht sonderlich. Aber wissen Sie, ich bin dort aufgewachsen und meiner Erfahrung nach haben die Deutschen über die Berge sehr wenig zu sagen, und schon gar nichts Philosophisches“, sage ich und es hätte freundlich klingen sollen, kam aber ein bisschen arrogant, was mir dann doch wieder ganz recht ist.

„Achso! Und haben Sie den Text schon gelesen?“ Jetzt will er mit mir tatsächlich über den Text auch noch reden! „Philosophen sind überaus lästige Naturen“, sage ich mir, während ich das Buch wieder aufschlage und den Aufsatz über die Alpen suche. „Nein“, sage ich, während ich im Buch blättere, „ich war gerade an der Stelle, wo Simmel sagt...“ und während ich den Satz suche, den ich ihm vorlesen will, wird der Philosoph ganz aufgeregt, geradezu nervös, er scheint mir sogar zu schmatzen und versucht sich ein wenig über das Buch zu beugen, als wolle er den Satz finden, bevor ich ihn gefunden habe. „Hier … Die Alpen wirken einerseits als das Chaos, als die ungefüge Masse des Gestaltlosen, das nur zufällig und ohne eigenen Formsinn einen Umriß bekommen hat, das Geheimnis der Materie schweigt heraus, von der man an den Konfigurationen der Berge mehr mit einem Blick erfaßt, als in irgendeiner anderen Landschaft.“ Jetzt schaut der Philosoph verzwickt. Er denkt also nach. Gefährlich!
Schweigt heraus finde ich gut“, sage ich und hoffe, ihm damit irgendwie auf die Sprünge zu helfen. „Hm hm“, macht der Philosoph, schaut mich an und zupft an der Knopfleiste seines schäbigen Jacketts herum. „Aber soweit ich weiß, geht es Simmel vorrangig ja um das Hochgebirge, als die schnee- und eisbewüsteten Gipfel der Alpen, wo das absolute Oben ohne Bezug auf ein Unten existiert.“
Schnee- und eisbewüstet finde auch ich gut!“, sage ich, „aber so weit bin ich wohl noch nicht gekommen.“ Doch darauf reagiert der Philosoph gar nicht. „Und er setzt das Meer, welches er als das Symbol des Lebens sieht, dem Hochgebirge entgegen, welches mit seiner Stille und Starre jedes Lebens transzendiert.“, sinniert er weiter.
Mir kommt vor, dass der Philosoph durch mich hindurchschaut. Ich versuche, die Position meines Kopfes möglichst unbemerkt zu verändern, um zu kontrollieren, ob er mich überhaupt noch wahrnimmt. Deswegen nicke ich heftig, als ob ich verstanden hätte, mache ebenfalls „hmm hmm“ und trete von einem Fuß auf den anderen, lege kurz meinen linken Ellbogen in meine rechte Hand, kratze mich mit der linken Hand dabei nachdenklich unter der Nase und wackle hin und her, bis ich mit meinem Gesicht endlich dem starren Blick des Philosophen entkommen bin. Tatsächlich, er blickt ins Leere. Ich denke mir, dass sein Verhalten selbst für einen Philosophen sehr philosophisch ist.
„Natürlich, man stelle sich vor, man befände sich jenseits aller Zivilisation in der Stille und inmitten der reinen Macht des Gebirges... das ist transzendental, keine Frage. Es steht für die absolute Gleichmut gegenüber aller Entwicklung, die ästhetische, komplexe Form des Gebirges verabsolutiert sich zu einem einzigen Einen. Wie sagte schon Goethe? Über allen Gipfeln ist Ruh'. Doch es ist nicht nur die Stille, die Goethe meint, es ist die absolute Ruhe, als Gegensatz zur Bewegtheit...“
„Hm ja, da bin ich aber noch nicht“, versuche ich ihn zu unterbrechen und blättere eifrig in Simmels Buch herum, als ob das Auffinden der richtigen Stelle den Wortschwall des Philosophen stoppen, als ob ich ihn mit dem richtigen Zitat aus seiner philosophischen Starre erlösen könnte.
„Bedenken Sie doch das Konzept der Bewegtheit überhaupt. Das fängt schon bei den Vorsokratikern an. Anaximander etwa...“, brabbelt der Philosoph weiter.
„Äh, Verzeihung, aber ich muss weg.“, sage ich. Eine Ausrede ist mir der in seinem eigenen Geist gefangene Philosoph gar nicht wert bzw. glaube ich gar nicht, dass er merkt, wie ich mich an ihm vorbeischiebe und mit lächerlich kleinen, aber umso schnelleren Schritten Richtung Stiege haste. Auf den ersten Stufen drehe ich mich noch einmal zu dieser eigenartigen Figur um, und tatsächlich steht er immer noch da und redet scheinbar gegen das Bücherregal, er hat auch schon einen Finger erhoben. „Großartige philosophische Geste!“, sage ich mir, aber diese geballte philosophische Energie in diesem eigenartigen Mann macht mir zu viel Angst und ich stürze die Treppe hinunter.

Im unteren Stockwerk finde ich mich in der Abteilung der regionalen Bildbände wieder, da bemerke ich, dass ich den Simmel-Band immer noch in der Hand halte. Das Buch kommt mir vor wie ein unheilvolles Relikt, das jemand aus lauter Gier aus irgendeiner Höhle ausgegraben hat und das ihm jetzt naturgemäß nur Unheil einbringt. Also suche ich das Buch möglichst schnell wieder loszuwerden. Ich stelle den Simmel unauffällig zwischen zwei Bildbände über die Glocknergruppe und den Nationalpark Hohe Tauern. „Da passt du hin!“, denke ich mir und stelle mir vor, wie sich Georg Simmel jetzt freuen würde, mitten im Hochgebirge, wo über allen Gipfeln Ruh' herrscht. Dann aber verschwinde ich schnell aus der Buchhandlung, aus Angst, der Philosoph könnte mich – oder den Simmel – wieder finden. Als ich auf die Straße trete, weht mir ein dreckig-warmer Frühlingswind um die Nase und ich bin froh, diesem geistigen Gespräch mehr oder weniger gerade noch entkommen zu sein.

Montag, 2. Mai 2011

Die ironische Einrichtung der Welt

Im Stadtpark riecht es jetzt immer so, wie man sich den Geruch von Körperpuder für ältere Damen vorstellt. Es ist kein richtiger Frühlingsgeruch, eher ein penetranter Blütengestank, dem das Muffige der schlechten Grazer Luft eine morbide Note verleiht, wie sie sonst nur Gerüchen in Museen oder eben Häusern älterer Menschen zu eigen ist. Man denkt sich dann, wenn man im Park herum geht, dass es komisch ist, wie das Erwachen der Natur, wolle man diesem bizarren Schauspiel umherfliegenden, bunten Drecks eine derart poetische Beschreibung zukommen lassen, wie also dieses Naturschauspiel derartig nach Verderben stinken kann. Ironisch, möchte man meinen, hat Gott die Welt eingerichtet.

Ironisch auch, denkt man sich dann, wie die Amerikaner einen Präsidenten beschimpfen und mit Hitler vergleichen, wenn er eine Reform des Gesundheitswesens machen möchte, und wie sie ihn dann santo-subito-mäßig zum Helden erklären, wenn er den Befehl gibt, Bin Laden (oder bin Ladin, wie die FAZ wichtigtuerisch schreibt) umzubringen. Nicht, dass Osama (oder Usama, wie es in der FAZ und nur in der FAZ heißt) es verdient hätte, von irgendeinem Gericht angehört zu werden. Da bin ich selber ganz Advokat des schnellen Schusses. Mir kommt nur die Art und Weise, wie mit seinem Tod umgegangen wird, etwas seltsam vor. Da wird begratuliert und beklatscht, was man im Grunde gar nicht nüchtern genug zur Kenntnis nehmen kann.

Enttäuschend ist vor allem, dass man ihn nicht in einem Erdloch, wie damals den Saddam, gefunden hat. Wir haben uns alle erwartet, dass Osama irgendwo in einer afghanischen Berghöhle sitzt, wo er bebenden Bartes Hasspredigten gegen den Westen insgesamt, und gegen die USA im Besonderen anstimmt, während seine Kalashnikow-Kumpanen den Höhleneingang bewachen und sich von rohem Fleisch ernähren. Jetzt muss man vernehmen, dass er in einem dreistöckigen Haus gewohnt hat, in einer schönen Stadt in Pakistan. Da frisst den Bild-Zeitung-Leser der Neid und dann tut es gut zu erfahren, dass der fatale Schuss dem Osama anständig das Gesicht entstellt hat.

Seine Asche hat man ins Meer geschmissen, heißt es. Im Falle von bin Laden kann man kaum sagen über den Wellen des Ozeans verstreut, weil das für den finsteren Terrorchef eine zu gnadenvolle Formulierung wäre. Der Gentest wird zweifellos bestätigen, dass es sich um bin Laden gehandelt hat, ein paar Spinner werden weiterhin glauben, dass Osama noch irgendwo unter den Lebenden weilt und zusammen mit Hitler, Saddam Husseins Doppelgänger, Jörg Haider und Lee Harvey Oswald ein Elvis-Konzert besucht. Dann wird es bestimmt noch ein paar Mal krachen, weil Osamas Jünger jetzt natürlich auch nicht nach Hause gehen und wieder ihren erlernten Beruf ausüben. Und in ein paar Jahrzehnten wird sich mancher Amerikaner an Barack Obama zurückerinnern: "Obama? Wasn't he that black fella that got the nobel peace prize for killing the arab, while he ruined our economy?"


Dann aber wird man diesen Gedankengängen entrissen, weil ein herren- und damenloser Hund einem plötzlich das Bein beschnüffelt und den Schuh besabbert. So eine tolle Nase kann der Hund auch wieder nicht haben, denkt man sich, wenn er von dem Blütenstaubgeruch derart unbeeindruckt bleibt und die frisch gewaschene Hose viel interessanter bzw. beriechenswerter findet. Als dann jedoch eine ältere Dame um einen Busch biegt, die ganz und gar so aussieht wie der Stadtpark riecht, wird es einem klar, dass der Hund den Blütenstaub gar nicht mehr wahrnimmt, weil auch für ihn gilt, was dem Volksmund nach für uns Menschen gilt, nämlich, dass man sich irgendwann an alles gewöhnt, und dass etwas frisch Gewaschenes, Neutrales und jugendlich Agiles wie ein Jeansbein bei dem Hund wohl eine ähnliche Verstörung auslösen wird wie der Grazer Stadtparkgeruch bei einem sogenannten jungen Menschen.

Sonntag, 1. Mai 2011