Samstag, 9. Juni 2012

Tölpel und Torpedos

Es ist schön, wenn Turniere mit Überraschungen starten, und das, obwohl die gestrigen Paarungen zunächst nichts Vielversprechendes erwarten ließen. Polen hat sich im Eröffnungsspiel gegen Griechenland sehr stark verkauft – das war kreativer und agiler Fußball, den zwar einige erwartet haben, den man sich aber nicht vorstellen konnte, bis man ihn gesehen hat. Es gibt ja den Begriff des Trainingsweltmeisters (bzw. Trainingseuropameisters), und Polen hätte ich für so einen gehalten – brave Vorbereitung, brauchbares Spielermaterial plus den nötigen Biss daheim vor eigenem Publikum. Das Problem mit solchen Europameistern, wo vorne noch das „Trainings-“ dran hängt, offenbart sich im Unterschied zwischen Theorie und Praxis bzw. eben Training und Wettkampfbedingungen. Plötzlich gibt es da elf andere Akteure, die an allem möglichen interessiert sind, nur nicht an einem Trainingsspiel nach den hauseigenen Gepflogenheiten. Erfahrene Mannschaften können dies zu einem gewissen Grad ausblenden und trotz allem ihr Spiel aufziehen. Polen aber lässt sich noch zu sehr vom Gegner verunsichern. Eine schlechte Voraussetzung, würde man meinen.

Griechenland wehrte sich bis zuletzt, auch wenn sie den Polen spielerisch unterlegen waren – oder gerade deswegen. Irgendwie haben sie gespürt, dass, wenn man nur lange genug lästig ist, sich gegen die Polen Chancen auftun. Und so haben sie dann endlich auch ein Tor erstolpert, das gar nicht einmal so unverdient war, und das der oberlästige Salpingidis erzielt hat: Abgezwickte Wirbler mit allzu dichtem Bartwuchs, die die ganze Zeit so einen klagenden, weinerlich-kindlichen Blick haben, als stünden sie aller Ungerechtigkeit der Welt gegenüber, die sind immer gefährlich – das ist eine alte Fußballweisheit!

Griechenland hat es dann auch noch verstanden, sich einen Elfmeter zu erspielen, Polens Torwart mit dem herausfordernden Namen Szczesny musste daraufhin gehen und herein kam Tyton, der polnische Namensvetter von Oli Kahn also. Und der hielt dann auch gleich in der Manier desselben einen schlecht geschossenen Elfmeter, wendete also die Katastrophe (ein Wort, von dem man spätestens seit Rehakles-Zeiten weiß, warum es aus dem Griechischen stammt) ab und rettete für Polen ein Unentschieden, mit dem sie nicht zufrieden sein können.

Gegen die Sbornaja nämlich (den Namen haben wir alle seit 2008 vermisst) wird es für Polen mit Sicherheit noch schwieriger. Die Russen sind gestern nämlich wieder ähnlich aufgetreten wie schon vor vier Jahren: Mit einem Haufen wenig bekannter bis unbekannter Gesichter (die große Mehrheit spielt ja daheim in Russland), einem taktisch gepflegten, holländischen Spiel und der schönsten Nationalhymne der Welt. Freilich ist dieses Team nicht so stark wie noch vor vier Jahren und freilich blieben die Tschechen auch etwas hinter den Erwartungen zurück, aber wer uns vier Tore in einem Spiel beschert, der darf gelobt werden.

Das russische Offensivspiel ist beeindruckend – wenn es erstmal in Gang gekommen ist, und vor allem, wenn es auf ein überfordertes tschechisches Mittelfeld trifft. Weniger beeindruckend ist die Erfolgsquote der russischen Spitze, Alexander Kerschakow: Der Mann hätte sich gestern schon vorzeitig zum Rekordtorschützen des Turniers machen können, denn er wusste zwar, sich sehr intelligent zu bewegen, aber das Schießen des (auch ruhenden) Balls gelang ihm nur unbefriedigend. Dafür traf der junge Dsagojew zwei Mal, ein Wirbler im besseren Sinne als oben genannt.

Überhaupt: Schirokow, Dennisow, Arschawin, Syrjanow – die ganzen Zenit-St.Petersburg-Leute, das ist der Kern der viel zitierten russischen Dampfwalze, des post-sozialistischen Kolchosen- und Kombinatsfußball dieser wieder mal hoch sympathisch auftretenden russischen Mannschaft. Vorbei die Zeiten, als uns traurig versoffene Männer mit roten Haaren aus den Pickerlheften entgegen blickten, ihre Gesichter sämtlicher Hoffnung beraubt. Das neue Russland ist wie Arschawin beim Interview nach dem Spiel: Jung, bescheiden, irgendwie ahnungslos und froh, wenn es vorbei ist. Aber es ist auch wie Roman Pawljutschenko: frech, furchtlos und abgebrüht (siehe sein Tor zum 4:1). Oder wie Dsagojew: enthusiastisch, engagiert und ein bisschen lästig. Leider ist es auch ein bisschen wie Kerschakow: intelligent, aber mit Hang zum tragischen In-den-Permafrost-Hineintreten.

Man darf gespannt sein, ob sich Polen vom verpatzten Auftakt erholen kann, ob die Russen so weiter machen, und ob bei Tschechien und Griechenland noch was drin ist. Am Dienstag werden wir es sehen und bis dahin sind wir froh, von der Gruppe A nichts hören zu müssen. Ich ziehe mich einstweilen zurück und übe wieder ein bisschen die holländische Hymne, denn zur deutschen singe ich wie eh und je: „Gott erhalte Franz den Kaiser!“


Visage des Tages:

Dick Advocaat, den ich fast nicht erkannt habe. Er hat etwas sympathisch Versoffenes, nämlich eine russische Schnaps-Nase mit holländischen Augen. Schon eine Vertrauensfigur, aber ich möchte irgendwie nicht vor ihm stehen müssen.


Schön zu sehen:

Wie Howard Webb die Partie Russland gegen Tschechien flott gehalten hat. Toller Typ, unglaublich abgeklärt und völlig unnervös – im Gegensatz zu seinem spanischen Kollegen vom Eröffnungsspiel.


Aus der Kategorie „Hä? Geht's noch?“:

Nach dem ersten Spiel erscheint Josef Hickersberger auf dem TV-Bildschirm; neben ihm steht Roman Mählich. Ich schalte ab; am Abend schaue ich ARD.

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