Samstag, 16. Juni 2012

Vintage-Fußball

Es ist Halbzeit bei der Euro 2012, die letzte Runde der Gruppenphase beginnt und so heißt es ab heute auch Verzicht üben, denn die letzten Spiele finden jeweils zeitgleich statt. Freilich ist das irgendwie blöd, aber erstens will man so etwas wie den Nichtangriffspakt von Gijón verhindern und zweitens wissen wir von dieser Euro bisher, dass nicht alle Spiele 90 Minuten lang gut sind. Ich wäre ja sowieso dafür, Fußballspiele auf 60 oder meinetwegen 70 Minuten zu verkürzen. Auch müsste man die Halbzeit nicht genau nach der Hälfte machen. Was wäre zum Beispiel mit einer 50-minütigen Spielzeit plus 20-minütiger Nachspielzeit mit Golden Goal bei Unentschieden? Das wäre alles viel kompakter und man könnte sich für die EM die Qualifikation sparen und überhaupt gleich alle UEFA-Mitglieder teilnehmen lassen. Aber dann würde einer der beiden Grundpfeiler des Fußballspiels umgeworfen, nämlich, dass das Spiel 90 Minuten dauert; und das geht nicht, auch wenn man den Ball rund belassen würde.

Apropos Grundpfeiler des Fußballspiels: England gegen Schweden war gestern ein bisschen Fußball im Vintage-Stil. Zwei recht unflexible 4-4-2-Formationen standen sich da gegenüber und bolzten um die Wette. Oberhand behielten schließlich die Engländer, weil sie doch mehr als einen guten Spieler haben und das auch wissen. Die Schweden besannen sich wieder ein wenig zu viel auf den immer unsympathischer werdenden Ibrahimovic, der eigentlich vor Arroganz gar nicht mehr laufen können dürfte – tut er eh ziemlich wenig. Dem englischen Tormann nach dem Tor ins Gesicht brüllen, das ist auch eine sehr fragwürdige Geschichte. Also kann man irgendwie froh sein, dass der Herr heim fährt und vielleicht wird Schweden nach der EM sich endlich seiner entledigen. Witzig, dass er aber doch ganz gut zum AC Milan passt...

Die Engländer spielten mit einem ebenso ideenlosen System wesentlich besser, aber halt nur, weil ihre Spieler in der Gesamtheit ungleich besser als die schwedischen sind. Andy Carroll, Stürmer von Liverpool, den Trainer Roy Hodgson neu brachte, ist die englische Variante von Zlatan Ibrahimovic, nur ein bisschen sympathischer: ein unangenehm zu verteidigender, sehr zweikampfstarker Stürmer gegen den sich Wayne Rooney wie ein Balletttänzer ausnimmt. Das war gestern auch eine großartige Partie von den Herren Young und Welbeck, ohne die dieses englische Team zu erlahmen gedroht hätte (Anzeichen davon sah man ja bereits in der Partie gegen Frankreich). Auch der eingewechselte Theo Walcott brachte ordentlich Schwung in die englischen Schlachtreihen, was letztlich zum bisherigen Tor des Turniers führte – dem herrlichen Ferserl von Danny Welbeck nach super Pass von Walcott. Die Frage, ob der das so wollte oder nicht, ist wie meistens eine dumme. Natürlich will man so etwas, nur gelingt es einem halt nur manchmal. Gestern hat's gepasst und es hat den Engländern sogar den verdienten Sieg gebracht und somit das Verbleiben im Turnier gesichert.

Die Schweden fahren als zweites Team der EM fix nach Hause und darüber kann niemand so wirklich traurig sein. Überhaupt hat die Gruppe D ein wenig enttäuscht. Auch Frankreich hat es nämlich wieder nicht geschafft, in seinem zweiten Spiel den Mitfavoriten-Status zu unterstreichen. Freilich war da ein Klassenunterschied zu sehen, aber das französische Angriffsspiel muss noch viel effektiver werden, sollte es gegen Spanien oder Italien zum Einsatz kommen. Für das Halbfinale reicht das nicht. Das gilt allerdings auch für England. Sollte es England mit einer so konservativen und altbackenen Herangehensweise ins Finale schaffen, wäre das eine echte Überraschung; keine, die mir unrecht wäre, wohlgemerkt! Geld würde ich allerdings keines drauf setzen.



Jetzt heißt es noch einmal durchatmen und bis Dienstag durchhalten, dann gibt es einen Tag spielfrei. Wir starten wieder mit der Gruppe A, dem Kondensat des nicht mehr ganz so Bösen: Hier können noch alle Mannschaften die KO-Phase erreichen. Russland gelingt dies mit einem Sieg oder Unentschieden gegen Griechenland. Tschechien kann mit einem Sieg gegen Polen das Ticket lösen, es reicht aber auch ein Unentschieden, wenn die Russen nicht patzen. Polen müsste gegen Tschechien schon gewinnen – das halte ich für möglich und auch für wünschenswert. Auch die Griechen können sich mit einem Sieg gegen Russland weiterschießen. Der Aufstieg Russlands ist mehr oder weniger fix, Tschechien und Polen werden sich das zweite Viertelfinal-Ticket ausspielen.

Es beginnt also das große Abschied-Nehmen, das wohl erst morgen tragisch wird, denn da müssen wir uns von mindestens einem wirklich guten Team verabschieden (und damit meine ich jetzt nicht Holland). Einerseits ist es bitter, wenn bestimmte Teams heimfahren müssen, wohingegen bestimmte andere Teams ins Viertelfinale kommen (Gruppe A), andererseits muss man den Heimfahrern auch sagen, dass sie drei Gruppenspiele hatten und also genügend Zeit, sich für diese Euro etwas einfallen zu lassen. Wer es dann nicht packt, der packt, so einfach ist das! Und ab dem Viertelfinale gibt es sowieso Rambazamba, denn da wird der mentale Faktor immer wichtiger. Der Ball ist rund. Das Spiel dauert 90 Minuten. Günter Netzer hat tolles Haar.



Austragungsort der Vorrunde: Donezk, das mit seinen Wettereskapaden schon jetzt unvergessen ist. Im ersten Spiel erlahmten Franzosen und Engländer in den Temperaturen über 30 Grad, gestern musste das Spiel Frankreich-Ukraine für eine Stunde unterbrochen werden, weil es in Strömen regnete (schüttete) und Blitzgefahr bestand. Eine WM auf Sumatra stelle ich mir ähnlich vor. Den Fans war es großteils egal, die spielten während der Unterbrechung im Regen.


Mann des Tages: Danny Welbeck für das schönste Tor der EM.


Buhmann des Tages: Zlatan Ibrahimovic – den kann doch wirklich niemand mehr sehen.



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