Freitag, 30. März 2012

10 stille und weniger stille Gerüche


Der Frühling startet durch hier in Graz. Und er beschert uns 10 Gerüche, die wir den Winter über vermisst haben.

Der Geruch vom Murufer: Jeder Grazer kennt den Geruch, der einem in die Nase steigt, wenn man im Innenstadtbereich die Mur entlang geht, oder auch nur einem Murufer zu nahe kommt. Faulig riecht es da, aber eben auch irgendwie lebendig. Böse Zungen behaupten, der Geruch stamme von den Leuten, die da im Sommer gerne herumgammeln. Das kann aber nicht sein, denn die tragen höchstens dazu bei, dass der faulige Murgeruch hin und wieder von Marihuanaschwaden durchdrängt wird und sich dergestalt versüßt, dass man glaubt, man stünde vor einem brennenden Schweinestall, in dem ganz viele kleine Karamel-Schweinderl hausen. Ansonsten riecht es dort leider einfach nur schlecht.

Der Geruch von Kanal: Nur bei seltsamen Wetterlagen drängt er im Winter aus dem Grazer Untergrund nach oben: Im Sommer hingegen ist der Kanalgeruch fast ein Klassiker und in seinem Wesen dem Geruch vom Murufer gar nicht so unähnlich. Gemein am Kanalgeruch ist nur, dass er hotspotartig auftritt, und einen also meistens überraschend in die Nase fährt, wohingegen man ja genau weiß, worauf man sich einlässt, wenn man dem Murufer zu nahe kommt.

Der Geruch von vergossenem Alkohol: Ja, auch im Winter riecht es in der ganzen Grazer Innenstadt nach Glühwein- und Punschresten. Im Sommer jedoch eröffnen sich den verschütteten Getränken vielfältige Möglichkeiten, auch noch Stunden nach dem Austreten zu belästigen. Versickert etwa Bier im warmen Boden des Stadtparks – im Laufe des Sommers werden es mehrere Hektoliter sein – ergibt das alsbald den so typischen Festivalgeruch, also den Geruch von falsch verstandener Freiheit. Überhaupt fördert die Wärme im Frühling und Sommer ja in jeder Weise die Geruchsentwicklung. Ideale Bedingungen also, denn so viele Spritzwägen hat die Stadt Graz gar nicht, dass sie dem Alkgeruch Herr werden könnte.

Der Geruch von Feinstaub: Zugegeben, richtig gerochen habe ich den Feinstaub noch nie. Aber dass er da ist, merkt man in jedem Fall. Es sind nicht nur die Abgase direkt an der Straße, die einem in das Gesicht stinken, es ist die „dicke Luft“ überhaupt, der man in Graz gar nicht entrinnen kann. Das muss sich nicht unbedingt in einem bestimmten Geruch niederschlagen, aber es erlaubt einem auch nicht, in der Früh das Fenster aufzureißen, einen tiefen Zug zu nehmen und entspannt „Aaah!“ zu sagen. Manchmal aber, wenn man sich wieder mal sehr sauerstoffunterversorgt vorkommt in Graz, dann meint man, den Feinstaub sogar riechen zu können. Er riecht wie eine alte, elektrostatisch aufgeladene Wolldecke und so gefährlich harmlos giftig.

Der Geruch von Grill: Ob im Schrebergarten oder auf Balkonen von Wohnhäusern: Man hat das Gefühl, dass die Grazer das ganze Jahr hindurch grillen. Im Jänner mag es einmal eine kurze Pause gegeben haben, aber ansonsten glimmt in dieser Stadt der Grill andauernd. Trotzdem lässt sich zum Sommerbeginn natürlich ein signifikanter Anstieg an Rauchschwaden verzeichnen, die sich in den feinstaubverhangenen Grazer Himmel schlängeln. Dann riecht es wieder überall nach verbranntem Fleisch, mit dem sich Studenten wie Pensionisten gleichermaßen die von der ersten Sonne geröteten Bäuche vollschlagen. Gustiös ist der Grillgeruch irgendwann nicht mehr, denn er hat den Zauber des Besonderen, der ihm noch in mancher Kindheit anhaftete, verloren. Nicht nur am Mittwoch oder am Sonntag wird hier gegrillt, sondern an jedem Werk- und Feiertag und zwar überall, am besten drei Mal täglich.

Der Geruch von billigem Parfum: Frühlingszeit ist Paarungszeit und deshalb greifen Männlein wie Weiblein zu jedem erdenklichen Mittel, um sich dem jeweils anderen (oder dem eigenen) Geschlecht schmackhaft zu machen. Nicht selten sind hierbei zweifelhafte Düfte Mittel zum Zweck. Dass Männer bei der Parfumwahl selten Geschmack beweisen, ist bekannt. Deshalb gibt es jedes Jahr einen neuen Duft von Axe, der sich auch verkauft. Leider greifen auch immer mehr Mädchen zu jener Massenware, welche über Drogerieketten unter dem Schlagwort „Frühlingsduft“ werbewirksam in Umlauf gebracht wird. Parfums dieses Genres sind meistens süß, riechen also irgendwie lieb und nach Blumen oder Zuckerl und das passt nach Meinung hormongeschwängerter Mädchenköpfe gut zum Frühling und den kurzen Rockerln. Dann stinken die wandelnden Zuckerlgeschäfte über den Campus und in der Sporgasse herum, solange bis das Flascherl leer ist oder der Kopf endlich sagt, dass ihm das eigentlich zu süß sei. Dabei wissen doch alle, dass der allerbeste Frühlings- wie auch Sommerduft der Geruch von Sonnencreme auf gepflegter Frauenhaut ist!

Der Geruch vom Schlossberg: Ich weiß gar nicht, ob der Schlossberg im Winter nicht gleich reicht wie im Sommer – wahrscheinlich schon. Aber die schlagende Kühle, die im Sommer aus dem Berg in die aufgeheizten Grazer Gassen strömt, verleiht dem strengen Höhlengeruch eine fast erfrischende Note. Was eigentlich nach Grab riechen sollte, riecht so nach Steinbruch in einer Vollmondnacht, also nur nach Grabesnähe. Gerne lasse ich mich an einem heißen Hochsommertag von dem klammen Wind anwehen und sauge die Luft aus dem Innern des Schlossberges ein, während ich mir vorstelle, wie tief drin im Stollen von Fledermäusen verkackte Tropfsteinhöhlen atmen. Herrlich!

Der Geruch von Eisdielen: Eisdielen riechen im Idealfall nach gar nichts. Eigentlich sind Eisdielen die einzigen Geschäfte, in die man hineingeht und die nach nichts riechen – zumindest wenn dort nur Eis verkauft wird. Das Eis selbst ist zu kalt, um nach seiner Geschmacksrichtung zu duften und sonst gibt es dort nichts, was riechen könnte. Höchstens nach ausgeronnenem Kühlwasser könnte es dort stinken. Aber in solche Eisdielen – wenn es sie in Graz, der Eishauptstadt Österreichs, überhaupt geben sollte – geht man sowieso nicht hinein. Das Innere von Eisdielen riecht steril, und zwar steriler als eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus je riechen können: nämlich eben nach gar nichts. Achten Sie mal drauf!

Der Geruch von Tennisplätzen: Zugegeben, jemandem, der nicht Tennis spielt, wird das nicht viel sagen. Aber schließlich kann ich auch nicht auf jene Leute Rücksicht nehmen, die partout in keine Eisdiele zu bekommen sind. Dabei hat der Geruch von Sandplätzen die bemerkenswerte Eigenschaft, sich an die Umgebung anzupassen. So reagiert der gebrannte Kalk nicht nur auf die Temperatur im Laufe des Tages, sondern auch auf die Menschen, die auf ihm gelbe Filzbälle umher dreschen. Gibt er sich morgens noch kühl und nüchtern wie Kies, schwingt er sich in den heißen Mittagsstunden zu einem Geruch auf, der, heiß und giftig, jenem von Sommer-Baustellen nahe kommt, um dann am späteren Nachmittag, bereits die unzähligen Schweißtropfen der Spieler aufgesogen habend, einen gutmütig müden wie auch beruhigenden torfähnlichen Geruch anzunehmen. So lästig der Sand sich in sämtlichen Ritzen der Kleidung festzusetzen weiß, so reizvoll ist sein Geruch, dessen Kondensat einem noch einmal in die Nase steigt, wenn man sich unter der Dusche den rötlichen Rest von den Beinen wäscht und dieser sich wirbelnd in den Abfluss drängt.

Der Geruch von Straßenbahnen: Die öffentlichen Verkehrsmittel im Sommer zu benutzen, ist ein sehr zweifelhaftes Vergnügen. Der Schweißgeruch der Passagiere verübelt einem den schönsten Sonnentag, zumal an Tagen, an denen am Nachmittag ein an sich vernüglicher Sommerregen niedergeht, es in den Bims feuchtwarm und stickig wird. Sollte man aber in den seltenen Genuss eines leeren Straßenbahnwaggons kommen, erlaubt das warme Klima es der Maschine, ihre sämtlichen olfaktorischen Reize auszuspielen. Man glaubt dann, jede einzelne Schraube, jede Dichtung, jeden Gummi riechen zu können. Dazu kommt der wohlige Geruch von Maschinenöl, Bremsen, Elektrizität und wenn Eisen sich an Eisen reibt, quietscht das nicht nur schön schaurig und irgendwie urig, sondern man glaubt es auch duften zu hören – eine synästhetische Sinfonie von besonderer Anmut, die man den klapprigen Viechern gar nicht zutraut.

Dienstag, 27. März 2012

Gänsefüßchen mit "Sinn"

Letztens in einem Tennisclub gesehen und geschmunzelt:


Schilder wie dieses begegnen uns im Alltag häufig. Nicht selten erheitert uns die ironische Brechung zwischen der durchaus ernst gemeinten Forderung (oder gar Drohung), die diesen Mitteilungen innewohnt, und der schlechten Orthographie oder Grammatik, mit der sie sprachlich realisiert wurde. Das abgebildete Exemplar aber ist ein besonderes. Nicht nur gewährt es uns tiefste Einsichten in die Grammatik von Präpositionen und die Deklination von Substantiven, auch auf semantischer Ebene ist hier nicht alles ganz klar.
Stellen wir uns einmal vor, der Verfasser dieser Botschaft hätte tatsächlich den Dativ Plural des Wortes "Schuh" verwendet. Dann stünde da:

NASSBEREICH NICHT MIT "SCHUHEN" BETRETEN  !!

Nun eröffnet sich uns ein weiteres spannendes Feld der deutschen Sprache: nämlich jenes des korrekten Gebrauchs von Anführungszeichen.
Einschub: Orthographisch am öftesten vergewaltigt werden wohl Komma und Apostroph. Ersteres, weil die Regeln, dieses korrekt zu setzen, mittlerweile nicht mal mehr der Dudenredaktion ganz klar sind. So ist die häufigste Änderung, die diesbezüglich Einzug in die letzten Rechtschreibreformen gehalten hat, jene, dass man das Komma in bestimmten Fällen setzen kann, aber nicht muss. Dass Menschen mit Freiheiten solcher Art nicht umgehen können, sollte doch bekannt sein. Die Geschichte des Apostrophs ist wiederum eine der konsequenten Falschverwendung. Über die Sache mit dem Genitiv und den Unterschied zwischen der englischen und der deutschen Sprache will ich aber jetzt kein Wort verlieren.

Das Anführungszeichen dient uns meistens dazu, eine Rede wiederzugeben. Man kennt das einerseits aus der Schule, wo man hoffentlich bis zur Vergasung das wörtliche Wiedergeben von Äußerungen anderer geübt hat. Außerdem kennt man es aus Seminar- und Masterarbeiten, in denen solche Anführungszeichen eine nicht unwesentliche Rolle spielen, wenn man Teile seiner Arbeit als von jemand anderen übernommen markieren möchte (muss!). Außerdem verwenden wir das Anführungszeichen gerne, wenn wir uns auf den Titel eines Buches, eines Artikels, eines Theaterstücks o.ä. beziehen, auch wenn dies bisweilen immer öfter mit Kursivdruck gemacht wird. Und dann können wir die Gänsefüßchen noch verwenden, wenn wir etwas im Satz hinstellen und darüber eine Aussage machen wollen. Ein Beispiel hierzu: Das Wörtchen "mit" ist eine Präposition, die den Dativ verlangt.

Wofür wir Anführungszeichen aber nicht benutzen, ist die Hervorhebung von Wörtern oder Satzteilen. Wollen wir in einem Satz etwas betonen, so stehen uns in der Schrift die Mittel des Kursiv-, oder Fettdrucks sowie - weniger elegant - jenes der Unterstreichung zur Verfügung. Auch gesperrt gesetzte Buchstaben erweisen hier nützliche Dienste. Nicht aber die Gänsefüßchen.
Diese haben nämlich noch eine interessante semantische Funktion: Wir benützen sie, um Uneigentlichkeit auszudrücken, d.h. etwa bei der Markierung von Ironie. In dieser Funktion haben sie sogar Einzug in die Face-to-face-Kommunikation gehalten. Kein anderes Satzzeichen wird mit den Händen der sprechenden Personen in die Luft gezeichnet.

Leider aber findet man die Gänsefüßchen immer öfter in falscher Verwendung vor. Die unfreiwillige Komik, die solche sprachlichen Missgeschicke fürderhin erzeugen, ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen Gemeintem und Verstandenem. So gibt es Wirte, die auf den Tafeln vor ihrem Gasthaus ihren "frischen" Salat bewerben. Niemals würde ein Wirt zum Tisch kommen und bei dem Wort "frisch" Gänsefüßchen in die Luft zeichnen, böte er seinen Gästen den Salat an. Weitere Beispiele:
"Gutes" vom Rind: Was das wohl sein mag?
"Neu": Also nicht ganz neu?
Suchen "verlässlichen" Mitarbeiter: Da will wohl jemand seine Firma absichtlich zugrunde richten?

***

Was nun wohl in obigem Beispiel mit den "Schuhen" gemeint ist? Es handelt sich offenbar um keine richtigen Schuhe, sondern eben um "Schuhe". Da fallen mir spontan FlipFlops ein, bei denen es sich nur bedingt um tatsächliche Schuhe handelt. Jemand will hier wohl sein Missfallen über das Schuhwerk jener ausdrücken, die das Schild lesen, und ihnen mitteilen, dass man den Nassbereich gefälligst mit richtigen Schuhen zu betreten hat und nicht mit Fußbedeckungen, die der Bezeichnung "Schuhe" nicht würdig sind!

Ein selbstbewusster Blick auf meine Fußbekleidung indes hat mir versichert, dass es sich dabei um ordentliches Schuhwerk handelt und ich bin extra in den Nassbereich gegangen, obwohl ich dort gar nichts zu suchen hatte.

Freitag, 23. März 2012

Eroberung der Heimat

Heimat – ein leidiges Thema. Wie sich dazu äußern, wenn allein schon das Wort, das die Sache zu bezeichnen sucht, im Moment des Aussprechens, des Schreibens zerfasert? „Heimat“, das klingt ein wenig hohl, verstaubt und wie eingelagert. Eingelagert in einem alten Schuppen, der irgendwo im Garten unserer Kulturlandschaft steht und in dem es müde vor sich hin modert. Wörter wie „Manieren“ oder „Höflichkeit“ liegen dort auch herum und warten darauf, vergessen zu werden. Was ist los mit diesen Wörtern, was ist los mit der Heimat? Muss man den Begriff im Schuppen vergehen lassen, oder kann man vielleicht doch noch etwas damit anfangen? Und was kann Heimat heute (noch) meinen? Im gegenwärtigen Diskurs hat der Begriff seine nostalgische Komponente eingebüßt und im Vordergrund stehen politische oder pragmatisch-funktionale Aspekte. Die Nostalgie selbst steht ja unter Generalverdacht, denn, so wird den Jungen immer eingebläut, früher sei gar nicht alles besser gewesen, und wer das immer noch glauben will, leide an romantischem Eskapismus, entzöge sich dem Hier-und-Jetzt – und begeht damit das größte Kapitalverbrechen überhaupt. Denn nicht nur die Ratgeber zur Lebensführung mahnen uns, uns gefälligst im Hier-und-Jetzt zu erschöpfen, auch das Erwerbsleben kann mit Nostalgikern wenig anfangen. Und wer sich nostalgisch an alte Objekte klammert, der gilt entweder als Hoffnungsloser oder als Nachläufer, weil sogar die Nostalgie – in marktfunktionalistischer Entstellung wohlgemerkt – selbst gerade eine ironische Wiedergeburt in der Popkultur feiert.

Sich aber nostalgisch zu seiner (einer) Heimat zu verhalten, wirkt mindestens unmodern, kann einem aber – je nachdem, wie intensiv der Heimatnostalgie nachgegangen wird und je nachdem, wie empfindlich das sogenannte soziale Umfeld darauf reagiert – im schlimmsten Fall als reaktionär, heimattümelnd, konservativ, biedermeierlich, allzu bürgerlich, engstirnig, stumpf, stupide oder schlichtweg dümmlich ausgelegt werden. Die Liste dieses diesen traurigen Umstand zu beschreiben möglich machende, meist recht kraftlose und von Vorurteilen nicht ganz freie Vokabular ließe sich freilich beliebig fortsetzen. Die Sache kann beliebig gedreht und gewendet werden, aber der Mief des Altbackenen lässt sich vom nostalgischen Umgang mit der Heimat nur schwer wegdenken. Dies hat nicht nur historische Gründe, sondern ist auch dem sorglosen Umgang mit dem Heimatbegriff geschuldet, der, durch politische Vereinnahmung havariert, anscheinend immer nur dort auftaucht, wo sich Bärtchen und Joppen tragende Herren an Biertischen gegenseitig zu gedanklichen Missgeburten aufmunternd auf die oft breiten, aber immer rückgratlosen Schultern klopfen. Wer „Heimat“ sagt, so scheint es, der meint doch irgendwie auch „Heim ins Reich“, „Heimatfront“, „Heimat für die, die immer schon da waren“, „Heimattreue dem Vaterland“ etc. Gegen solche Dummheiten ist, wie so oft, kein Kraut gewachsen. Von der Heimat abhalten lassen sollte man sich jedoch davon nicht.

„Ich fühle mich als Europäer“, sagt, wer modern sein möchte, zeigen will, dass die ganze Welt seine eigentliche Heimat ist, und dass, wenn schon gezwungen, seine Herkunft anzugeben, ihm die größtmögliche Einteilung die gerade noch verkraftbarste ist – denn alles andere sind kindische Dorftümeleien. Der Zug zum Großen und Ganzen (lange Auslandsaufenthalte, berufsbedingte Reisen, das Konzept Weltreise als Lebenserfahrung) ist dem Heimatlichen feindlich gesinnt. Welt und Dorf, das verträgt sich nicht. Die frei erwählte Flucht ist der Imperativ des modernen Nomaden, sie hat als Trieb ins Ungewisse die Vertreibung aus dem Paradies ersetzt: Man vertreibt die Teufel der Heimat aus seiner Seele, indem man die Heimat so weit wie möglich hinter sich lässt. „Auf zu neuen Ufern“ heißt die Devise - „und bloß nie mehr zurückkehren!“ der Nachsatz. Der Ennui ist dem Jetlag gewichen, die Menschen sind jetzt reisemüde statt lebensmüde. Eine Verbesserung kann darin nur erkennen, wer auch die Kopfschmerzen den Magenschmerzen als angenehmeres Symptom einer mittelschweren Krankheit vorzieht.

Doch wie sich dagegen wehren, dass die Heimat vereinnahmt wurde von dubiosen politischen Diskursen und funktionalistisch-bürokratischen Hohlwörtern? Wurde uns die Heimat etwa verboten, hat man uns vergrault, hat man das Territorium unzugänglich gemacht? Betritt man den heimatlichen Boden (Boden – noch so ein gefährliches Wort!) auf eigene Gefahr? Ein neues, modernes Verhältnis zur Heimat erlangt nur, wer bereit ist, hinaus zu gehen nicht um des Weggehens willen und wer bereit ist, zurückzukommen um des Daheim-Seins willen. Erst wer die Heimat als den Ort erkennt, von dem aus alles seinen Anfang nimmt, ist wirklich heim gekommen und kann sich an seiner Region, seiner Gegend erfreuen, und nicht nur an der bloßen Behaglichkeit seines Hauptwohnsitzes.

Heimat ist nämlich mehr als Heim. In einer Gegend groß zu werden bedeutet, diese Gegend im schlimmsten Fall ein Leben lang mit sich herum zu tragen. Eine Erfahrung, deren Bitternis vor allem jene spüren, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und denen sich keine Möglichkeit zur Rückkehr mehr bot. Erst wenn die Heimat verloren ist – entrückt, unzugänglich, verschwunden – wird ihr Wert schmerzlich bewusst. Dabei sollte erwähnt werden, dass es für gewöhnlich viel braucht, um ganze Familien dazu zu bewegen, ihren Heimatort zu verlassen, und dass es schwieriger ist, eine neue Heimat zu finden, als einen neuen Hauptwohnsitz – ein Umstand, der bei aller Integrations-Politisierung gerne unter den Tisch fällt. Erst wenn die Heimat zur Hölle wird, überwindet die Bereitschaft, sie zu verlassen, jene magnetische Kraft, die alles und jeden festhält, der sich einmal – freiwillig oder unfreiwillig – ihr hingegeben hat.


Foto: Ricarda S. Kreindl


Immanuel Kant, so heißt es in Thomas Bernhards gleichnamigen Stück augenzwinkernd, sei nie aus Königsberg hinausgekommen. Auch wenn diese Behauptung faktisch unwahr ist, bezeichnet sie doch eine tiefe Verwurzelung mit einem Ort, der einmal für Preußen das war, was man ein geistiges Zentrum nennt. Was Königsberg für Kant war, war Prag wohl für Franz Kafka. Zwar ist Kafka öfter aus Prag hinausgekommen als Kant aus Königsberg, dennoch ist das literarische Bild, das Kafka von seiner Heimatstadt einst zeichnete (ein Mütterchen mit Krallen) das allertreffendste, wenn es darum geht, die Beziehung des Autors zu seiner Stadt zu beschreiben. Ob Kant Königsberg, ob Kafka Prag geliebt hat, ist einerlei. Fest steht, dass in beiden Fällen die Beziehung des Denkers zur Heimat nicht fruchtlos geblieben ist: War Königsberg für Kant so etwas wie ein Denkgefängnis, war Prag für Kafka Stimmungs-Vorlage für sein literarisches Werk. Die Auseinandersetzung mit der Heimat, der Herkunft, der Geschichte ist wohl immer schon Wurzel der künstlerischen Inspiration gewesen. So erlernen wir das Sehen und Denken zuallererst an unserer heimatlichen Umgebung, und erst, wenn wir uns an diese gewöhnt haben, ist das Fundament dafür gelegt, staunen zu können, wenn wir andere Gegenden bereisen – metaphorisch wie auch ganz wörtlich verstanden. Die Differenz, das Anders-Sein, errechnet sich, ob man will oder nicht, erst aus dem, was man schon kennt. Wenn Thomas Bernhard seinen Kant und Franz Kafka seinen Karl Roßmann nach Amerika schicken, ist das einerseits ein geradezu sarkastischer Akt der Entwurzelung, gleichsam aber auch Voraussetzung für wirklich neue Erkenntnis (alle Implikationen eines Amerika-Bildes, das Fortschritt und Neuanfang bedeutet, miteingeschlossen). Man lese Kafkas Verschollenen als Fortsetzung von Bernhards Kant-Stück und stelle sich den großen Professor vor, wie er in der neuen Welt zum 17-Jährigen Greenhorn wird und bald darauf sein Königsberg vergisst und sich – nach allen Irrungen und Wirrungen – schließlich irgendwann in Princeton niederlässt, weil ihn das noch am ehesten an Königsberg erinnert.

Ist Heimat also einfach all das, was wir schon kennen, weniger als das, was wir vorgeben, immer schon gekannt zu haben? Die Demarkationslinie zwischen Gekanntem und scheinbar Immer-schon-Gekanntem verläuft zwischen dem Gefühl der heimatlichen Geborgenheit und dem Drang, diese aufzugeben und dorthin aufzubrechen, wo man – so glaubt man – eigentlich hin gehört: nämlich in die große, weite Welt. Hänschen klein all over again. Aber auch Hänschen muss lernen, dass die Welt als ganzes kein Zuhause ist, und kehrt als Hans wieder zurück. Erkannt wird er natürlich nur von seiner Mutter, die ihm schon bei seiner Abreise gesagt hat, er solle bald wieder kommen. Warum Hänschen nach sieben Jahren wieder beschließt zurückzukehren, verrät das Kinderlied nicht. Wir erfahren bloß, dass sich das Kind „besinnt“: Es scheint, als wäre der nunmehrige Hans vernünftig geworden. Warum aber kehrt er dann wieder nach Hause zurück? Die Ferne war ihm wohl nicht Erfüllung genug; zwar war seine Reise eine Notwendigkeit in seinem Ablösungsprozess von der Mutter (lies: Heimat), aber es scheint, als wäre er von vornherein nur zu dem Zweck „ausgewandert“, um letztlich wieder zurückzukehren. Das Hänschen-klein von heute macht Praktika in London, Shanghai und Tokio, lässt sich dort nieder, wo die am besten zahlende Firmenniederlassung steht, und zieht dann höchstens noch von der Stadt in die Vorstadt, weil man in Städten keine Kinder aufzieht – zu sehr hat man die eigene Kindheit auf dem Land geschätzt. In die Heimat zurückzukehren lohnt gar nicht mehr, denn dort findet man nicht das richtige berufliche Umfeld vor. Und aus nostalgischen Gründen kann man sich ja immer noch im Alter dort niederlassen – wenn es denn sein muss.

Heimat – so könnte man es am einfachsten sagen – ist dort, wo man sich wohl fühlt. Die größere Frage als die nach der Heimat ist also jene nach dem Wohlergehen, und diese Frage ist es auch, die am schwierigsten zu beantworten ist. Sie reguliert das Verhältnis zur Heimat, denn dieses kann auch durchaus ein problematisches, ja traumatisches sein. So reicht es nicht nur aus, sich wo auszukennen und zurecht finden zu können, sondern es muss auch ein psychohygienischer Bezug zu einem Ort gegeben sein. Das, was heutzutage „loslassen können“ genannt wird, gelingt am ehesten dort, wo man keine Zügel in der Hand halten muss und sich in ein Nest fallen lassen kann. Gerne darf man sich darunter eine Art Primitiv-Wellness vorstellen. Wir versuchen es einmal negativ: Heimat ist dort, wo das Nichtstun nicht suspekt ist und kein schlechtes Gewissen verursacht. Heimat ist dort, wo man nicht blöd angeschaut wird. Heimat ist dort, wo man nicht existenziell gefordert ist, sondern seine Ruhe hat bzw. finden kann.

So hat Heimat viel mit Vertrauen und Ruhe zu tun. Zu viel Vertrauen und Ruhe kann zu Langeweile führen, zum bereits erwähnten Ennui, zur Melancholie bzw. zu dem, was wir heute Depression nennen. Es ist ein Sichlangweilen, wie Heidegger es nennt, das nicht mehr nur von einem Ding herrührt, sondern beginnt, auf alles andere sich auszubreiten. So wird die Heimat dem Heimgekommenen als Ganzes langweilig. Der Mief, der dann von ihr ausgeht, ist jener, der den Geflohenen die Nase rümpfen lässt, wenn von der Heimat die Rede ist. Die Langeweile der Heimat ist es auch, die das heimatliche Leben in Rituale zerfallen lässt, ist also am Land zum Beispiel der Grund für das ausgeprägte Vereinswesen.

Wir müssen feststellen, dass es nicht die Nostalgie ist, die den Diskurs über die Heimat suspekt macht, sondern die Furcht vor der Langeweile, die der Heimat entwachsen kann. Es gibt das „gesunde“ Verhältnis zur Heimat nach wie vor – wenn man sich auf das Langweilige vorbereiten, es annehmen und mit ihm umgehen kann. Ennui und Heimat gehören zusammen, und je enger die Heimat, desto ausgeprägter der Ennui. Das zeigt sich schon bei Büchners Leonce, dem hervorragendsten Vertreter langweiliger Figuren in der deutschen Literatur überhaupt, dessen Königreich Popo das allerkleinste, dessen Langeweile aber grenzenlos ist. Einen schönen Sommertag erlebt er so: „Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem Boden.“ Herrliche Langeweile, die herrlichen Müßiggang erlaubt, der ja bekanntlich (so stellt Leonce fest) aller Laster Anfang ist! Auch Leonces Flucht führt ihn aber doch wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist: Heimat ist, wovor es kein Entrinnen gibt.




Foto: Ricarda S. Kreindl


Gleichzeitig muss Heimat erobert werden. Von selbst stellt sie sich nicht dar, von selbst beherbergt sie nicht; sie muss bestellt werden wie ein Acker. Man muss Fragen an sie stellen, an ihre Leute, ihre Geschichte, ihre Hässlichkeiten und selbst an ihre schönen Seiten. Man muss die Heimat bezweifeln, argwöhnisch begutachten, mit Vorsicht genießen, wie einen Menschen, dem man nicht ganz trauen mag. Mit Respekt aber sollte man sie behandeln; sie selbst, die Gegend und wie sie sich in ihren Menschen, ihren Abkömmlingen, zeigt. Zu dem gehört Abstand, Flucht, Schimpf und Tadel – eine kathartische Phase der Adoleszenz, die, einmal überwunden, eine Basis für eine gesunde und lebenslange Heimatliebe bilden kann, die nicht dumpf und reaktionär sein muss, sondern das Gefühl eines lieblichen Gefangen-Seins bereit stellt. Daheim zu sein ist, der Unentrinnbaren ins Auge zu sehen und zu sagen: „Sperr mich ein, liebe Heimat, auch wenn ich dich verlassen muss, damit ich glücklich werde!“

Dienstag, 20. März 2012

Der frühe Vogel

Der frühe Vogel ist ein komischer Vogel. Außerdem hat er es nicht leicht mit uns. Die einen behaupten, er könne sie mal; die anderen, mit ironischer Reziprozität, er habe selbst einen Vogel. Dass er traditionellerweise den Wurm (welchen Wurm? Den Wurm überhaupt? Den Wurm an sich?) fängt, ist ihm wahrscheinlich egal, denn Würmer gibt es – vor allem an Regentagen – wie Sand am Meer. Apropos Meer: Meeresvögel fangen vermutlich lieber gar nicht den Wurm, sondern den Fisch. Anderswo steht aber geschrieben, dass das Meer voller Fische sei und es auf den einzelnen überhaupt nicht ankomme. Das soll trösten (there's plenty of fish in the sea – aber nicht umgekehrt!).

Kein Grund also für Vögel, früh dran zu sein. Kein Grund auch für uns Menschen, sich mit Vogeltugenden zu brüsten, wenn es uns einmal zufällig gelingt, früh aufzustehen. Leute, die ohnehin früh aufstehen müssen (berufsbedingt, altersbedingt), denen ist dieses Aufstehen schon so natürlich, dass es keiner Erwähnung wert ist - im besten Fall ist es ihnen lästig. Und Leute, die nicht früh aufstehen müssen, bleiben sowieso im Bett, weil sie wissen, dass sie außerhalb ihrer Federburg nichts versäumen. Ob man als früher Vogel irgendeinen Wurm fangen würde, ist einem dann herzlich wurscht.

Unnötigerweise früh aufzustehen und sich dabei noch gut vorzukommen – das ist nicht nur ziemlich perfide, sondern auch noch unverschämt. Einerseits degradiert es jene, die den Schlaf als legitimes Mittel nicht nur der Erholung sondern auch des Zeitvertreibs ansehen, andererseits beweist ein solches Verhalten an sich nur, dass man sich an Tugenden zu halten vermag, die einem von alten Naziopas als kleines Kind ins Ohr geplärrt wurden, die aber, ihrem ideologischen Umfeld enthoben, sich als recht nutzlos und ausgesprochen gemütlichkeitsfeindlich erweisen. (Müde ist faul!)

Zu allem Überfluss brüsten sich doch genau jene mit dem Frühaufstehen, denen das zufällig passiert ist und die, vermutlich eines schlechten Gewissens wegen, weil sie ohnehin dubiose Menschen sind, gar nicht weiterschlafen können, obwohl sie vielleicht wollten. Ihre ganz Niedertracht offenbart sich dann in facebook-postings, in denen sie der Welt mitteilen, dass Morgenstund Gold im Mund habe, es sich bei ihnen um besagten frühen Vogel handle oder sie wünschen uns ungefragt einen hundsgemeinen Guten Morgen, damit das erste, was wir Spätaufsteher zu sehen bekommen, eine genauso tugend- wie grauenhafte Mitteilung eines Schwachsinnigen ist, dem es einmal in drei Monaten zufällig gelungen ist, vor acht Uhr aufzustehen. Solche Aktionen zwingen wiederum anständige Leute dazu, dem frühen Vogel zu unterstellen, dass er selber einen Vogel habe. Daraufhin zwitschert ein solcher tatsächlicher und leibhaftiger früher Vogel erbost beim Fenster herein, dass er sich ungerecht behandelt und irgendwie entehrt fühle. Dann darf und muss man sich in aller Frühe schon bei einem Tier, dessen Unmut man sich zugezogen hat, entschuldigen, muss ihm sagen, dass es nicht so gemeint war und die Schuld dem Menschen geben, der einem zuerst verkündet hat, dass es sich bei ihm in Wahrheit um den frühen Vogel handle.

Dabei war er nichts anderes als der erste Affe, über den man sich an einem möglicherweise schönen Tag geärgert hat. Otto Waalkes meinte wohl deswegen schon damals, dass Morgenstund Colt im Mund habe. Mehr Humor geht da leider echt nicht. There's plenty of worms in the ground, bleibt den Liegenbleibern noch tröstend zu sagen.

Montag, 5. März 2012

In eigener Sache

Noch nicht mal ein Jahr online und schon 6.000 Besucher in diesem bescheidenen Winkel des Internets. Vielen Dank an meine regelmäßigen bezahlten und unbezahlten Leser und die vielen freundlichen und freundlich gemeinten Worte! :-)

Frühlingsmilde

Eine viel zu frühe Februarfliege hat sich auf dem Biertisch vor mir niedergelassen. Eigentlich kann ich gar nicht sagen, ob sie sich tatsächlich niedergelassen hat, oder ob sie nicht einfach wie aus dem Nichts von irgendwoher heran gekrabbelt war. Müde schleppt sie sich auf ihren noch wackeligen Fliegenbeinen über das dottergelbe Holz. Es wäre ein Leichtes, sie zu erschlagen, einzufangen, weg zu schnippen – aber ihr Kampf mit ihrem noch müden Körper scheint mir schon genug der Strafe zu sein, die jedes Fliegendasein von vornherein verdient hat. Kalt muss sie sich anfühlen, denke ich mir und beobachte, wie die Fliege mit ihrem Rüssel das lackierte Holz tastend absaugt. Völlig von jener Hektik verlassen, welche Fliegen ansonsten ständig ruckartig krabbeln, nervös auffliegen und sich wieder niederlassen lässt, sucht sie, wonach Fliegen eben so suchen: klebriges Zeug, das Menschen achtlos und unwissend auf Biertischen zurück lassen. Ihr Nektar, unser Schmutz. Was sie gierig aufsaugt, sind wir ständig bemüht wegzuwischen.

Träge schmatzt der Rüssel in die Ritzen des Holzes hinein. Das Langsame lässt die Fliege dümmlich wirken. Ein Anblick, der, an anderen Tieren beobachtet, bei mir Mitgefühl auslösen mag, nehme ich bei dieser Fliege gänzlich ohne Bewegung des Gemüts zur Kenntnis. Mein Interesse gilt ihren verzweckten Bewegungen; normalerweise bewegen sich Fliegen nämlich bar jeder Ästhetik. Wo sich, dem menschlichen Ermessen nach, bei anderen Insekten noch Eleganz, Grazie oder Anmut in Bewegungen oder Aussehen nachweisen (oder zumindest vorstellen) lassen, haftet der Fliege eine kalte, trockene Mechanik an. Schon ihr Fluggeräusch erinnert an kleine Motoren. Die hochfrequenten Bewegungen von Flügeln, Beinen und Rüssel sind überhaupt charakterlos.

Ganz anders erscheint mir diese gerade erst aufgetaute Februarfliege. Ein Anflug von Persönlichkeit zeichnet ihre verlangsamten Bewegungen. So, wie wenn ein batteriebetriebenes Kinderspielzeug allmählich seinen Geist aufgibt und den Kinderaugen den Eindruck vermittelt, als stürbe es gerade. Vielleicht wünscht sich die Fliege in diesem Moment, erst ein paar Tage später aufgetaut worden zu sein. Die Sonne scheint zu stark für den geschwächten Fliegenkörper, macht sie zusätzlich müde und zehrt an ihren ohnehin geringen Ressourcen. Was sie gerade noch von den Toten erweckt hat, scheint sie im nächsten Augenblick schon wieder zurück ins Grab schicken zu wollen.

Endlich findet die Fliege die Hinterlassenschaft meines Getränkeglases: einen zuckrigen Ring sonnengetrockneter Limonade. Schwach saugt der Rüssel an den Überresten, die Fliege hat anfangs noch Mühe, den Rüssel von der klebrigen Limonade zu lösen. Nach ein paar Versuchen klappt es schon besser, fast saugt der Rüssel schon mit gewohnter Eile. Die Fliege arbeitet sich den kreisrunden Abdruck entlang, lässt kurzzeitig wieder von ihrem Mahl ab, krabbelt schon wesentlich flinker, aber ziellos auf dem Biertisch umher und kehrt schließlich wieder zur Limonade zurück wie ein Hund, der nicht von seinem Knochen lassen will. (Oder wie ein junger Liebhaber, der nicht von seinem Mädchen lassen kann...)

Ich wehre mich gegen den gewohnten Drang, die Fliege verscheuchen zu wollen oder sie gar zu erschlagen. Vielleicht verzückt mich ihr Kampf um's Überleben so sehr, vielleicht vertraue ich darauf, dass sie die drohende kalte Nacht nicht überleben wird. Vielleicht aber lasse ich Gnade walten, weil mich die Frühlingssonne milde stimmt und selbst der kalte Fliegentöterinstinkt in mir in diesen Tagen dem Wunsch, das blühende Leben zu erblicken, unterliegt. „Warte nur!“, drohe ich der Fliege in Gedanken, „In den Sommermonaten wird es mit der Frühlingsmilde vorbei sein und ich erschlage euch wieder in Dutzenden!“ Die Fliege brummt wie zur Antwort. Sie startet ihre Flügel und fliegt auf meine Hand, verharrt dort aber nur kurz und ist gleich darauf verschwunden – in gewohnt hektischer Fliegenmanier.