Dienstag, 31. Dezember 2013

Guten Rutsch!

Der vorletzte Tag des Jahres ist der 30. Dezember. An diesem feiern manche Leute in Österreich das sogenannte "Bauernsilvester", ohne zu wissen, was damit eigentlich gemeint ist. Das soll hier auch nicht aufgeklärt werden. Bauernsilvester dient sowieso nur als Ausrede, es auch am Abend vor dem Jahreswechsel schonmal ordentlich krachen zu lassen. Ich spreche hier nicht von Knallern.

So schob sich gestern Abend ein Paar britischer Provenienz ins Lokal und wünschte schon an der Türschwelle ein "Happy New Year". Gewiss war diesen Gästen der österreichische (?) Brauch (?!) des Bauernsilvester völlig unbekannt. Deswegen wurden sie aber nicht daran gehindert, sich anständig vollaufen zu lassen. Die Dame bestellte ein großes Glas Wodka mit einem "Spritzer" Orangensaft, der Herr begnügte sich mit einem Flaschenbier. "Happy New Year" frohlockten die beiden unaufhörlich und gerne hätte man ihnen gesagt, dass es ja noch gar nicht so weit ist. Gut, wir sprechen von britischen Touristen auf Winterurlaub, da sollte man es mit solchen Dingen nicht so genau nehmen. Aber tatsächlich lagen beide dieses Jahr voll im Trend.

Für mich war Bauernsilvester eine schöne Gelegenheit, das Jahr gemütlich mit geschätzten Menschen ausklingen zu lassen. Silvester eignet sich dafür ja nur bedingt, da diese Nacht an Irrsinn und Widerlichkeiten dem Fasching um nichts nachsteht. Heuer verzichtete ich auf Bauernsilvester und musste bemerken, dass alle anderen Menschen sich dieses "geheimen Feiertages" angenommen haben und ihn besinnungslos zelebrierten. Noch vor wenigen Jahren war der 30. Dezember der stillste Abend des Jahres - gleich nach dem 1. Januar versteht sich. Gestern aber musste ich mich wundern, ob ich mich denn nicht im Datum geirrt hatte und nicht doch schon Silvester war. Bauern! Überall fröhliche Bauern, die ihr Silvester feiern wollten. Freilich war der Großteil dieser "Bauern" in Wahrheit Dänen, Engländer und Holländer, die sich in ihrem Skiurlaub nicht an die allgemein akzeptierten Gepflogenheiten des Trinkkalenders halten wollten. Aber immerhin: Es war was geboten.

Noch mehr wundern musste ich mich allerdings heute, da sich schon am Vormittag die Menschen in den Straßen gegenseitig ein "Gutes Neues!" zubrüllten, als wäre schon der erste Jänner. Irre ich mich, oder hielt man sich mit diesem Wunsch noch bis vor kurzem zurück und wartete, bis das Neue Jahr auch tatsächlich angefangen hat. Freilich, man vernahm vor allem in den Geschäften den Wunsch, dass man gut "hinüber rutschen" sollte, und ja, ab und an wünschte man auch ein "gutes neues Jahr", aber die Mehrzahl dieser Wünsche ereignete sich doch erst nach dem Jahreswechsel. Wir haben es eilig mit der Wünscherei, und wenn mich jetzt mein Gedächtnis nicht trügt, waren die Leute heuer mit den Weihnachtswünschen auch schrecklich früh dran. Das erste "Frohe Weihnachten" vermeine ich am zweiten Advent vernommen zu haben. Oder hänge ich einfach nur hinten nach?

Aber wehe, wenn man jemandem im Vorhinein zum Geburtstag gratulieren will! Das geht gar nicht, weil das Unglück bringt und sowieso. Außerdem sehe man sich ja, wenn nicht am Geburtstag, so doch bald wieder mal und könne die Glückwünsche nachreichen. Der Eine oder Andere würde sogar dann auf vorträgliche Wünsche verzichten, wenn die nachträglichen erst in Monaten möglich wären. Quasi dem Motto folgend: "Ein nachträglicher Wunsch per SMS ist mir lieber als ein persönlicher im Vorhinein." Absurd ist daran vor allem, mit welcher Pedanterie hier Wünsche abgewehrt werden und welche Kasperliaden die Wünschenden aufführen, wenn sie sich dabei ertappen, dass sie dem Jubilar gerne im Vorhinein alles Gute wünschen würden, es aber aufgrund des Verbots nicht möglich ist. "Ich darf ja noch nicht, aber...", "man soll ja nicht im Vorhinein, also..." Greuliches Gestammle begleitet von entschuldigenden Mienen - ein Affenzirkus, der im Grunde vollkommen unnötig ist.

Zu Silvester kennen wir da nichts, obwohl das Jahr Geburtstag hat. Rücksichtslos wünschen wir einander schon Tage vorher ein "Gutes Neues", um so im alten Jahr unsere Schuldigkeit getan zu haben und das neue nicht mit ewigen Glückwünschen beginnen zu müssen. Die ganz Eifrigen (zu denen ich mich in manchen Jahren zählen mag) wünschen am 31. einen "guten Rutsch" und am Ersten dann "ein Frohes Neues" bzw. brüllen sie zur nullten Stunde ein heftiges "Prosit Neujahr!", das man durchaus mit einem Niesen vergleichen kann, verschafft es einem doch ungemeine Erleichterung.

Zwar weiß ich, dass der "gute Rutsch" eigentlich mit dem Rutschen gar nichts zu tun hat, weil das Wort aus dem Hebräischen "Rosch" abgeleitet wurde und "Anfang/Beginn" bedeutet (man möge mir verzeihen, dass ich das jetzt nicht wikipediatisch verbürgen kann), aber das Bild des Hinüberrutschens hat doch etwas sehr Vergnügliches und Frohsinniges. Mögen wir uns wünschen, dass wir alle wie Kinder auf einer Rutsche ins Neue Jahr rutschen und dabei vergnügt "Prosit" quieken, und lassen wir uns dann in aller Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit "ein gutes Neues Jahr!" wünschen. In diesem Sinne: Guten Rutsch!

Dienstag, 19. November 2013

Der Ribisel-Tarzan

Der Lackenbrunner Loisl war den meisten wegen seiner schmächtigen Statur nur als „Ribisel-Tarzan“ bekannt. Obschon ihn niemand so nannte. Alle sagten immer Loisl zu ihm, aber dass er mit Nachnamen Lackenbrunner hieß, wussten eigentlich nur die Allerwenigsten. Auch, ob er tatsächlich den Namen Alois trug, war den meisten nicht bekannt und auch ziemlich egal. Schließlich handelte es sich bei „Loisl“ um einen gebirglerischen Gebrauchsnamen, der mit dem eigentlichen Taufnamen nicht immer was zu tun haben musste. Sepp, Franz, Fritz, Gustl, Lois … Die meisten hatten die ursprüngliche Herkunft nicht im Sinn, wenn sie Menschen mit solchen Namen bedachten. Da konnte es durchaus passieren, dass ein Reinhard Matthias Fockinger zum „Hiasl“ verkam, weil just sein zweiter Vorname den gebräuchlichsten Gebrauchsnamen abgab. So kann also nicht mit Sicherheit bezeugt werden, dass der Lackenbrunner Loisl auch tatsächlich ein Alois war oder gar ein Blasius Aloisius, oder ob man einfach in Ermangelung eines realen Vornamens ihm irgendwann den „Loisl“ andichtete und Lackenbrunner selbst einfach lernte damit zu leben. Ein Bertram Ägidius etwa nahm oft gerne einen „Loisl“ an, zum Beispiel als Schulbub, wenn der „Bertl“ schon an einen waschechten Ro- oder Albert vergeben war. Ob es beim Lackenbrunner auch so war, das weiß wie gesagt niemand so genau. Aber in Wahrheit nannte ihn ja ohnedies jeder den „Ribisel-Tarzan“ oder einfach nur „Ribisel“ - und jeder wusste, wer gemeint war.


Der Ribisel-Tarzan bekleidete eine ungemein wichtige Stelle in der Gemeinde, obwohl niemand genau wusste, welchen Namen oder welche Funktion diese Stelle hatte. Was der eigentliche Aufgabenbereich des Loisls war, wusste ebenso keiner. Aber danach wurde ja ohnehin nie gefragt, wenn es um Gemeindeposten ging. Wichtig war nur, und das betonte der Ribisel immer und immer wieder, dass er kein, wie er sagte, „Stempelkarussellfahrer“ war. Damit meinte er, dass er keinen Amtsposten bekleidete, der mit Verwaltung oder Parteienverkehr zu tun hatte. Denn wer schon einmal auf einem Amt war, der weiß, was ihn erwartet, wenn neben dem Beamten, mit dem es zu verhandeln gilt, ein Stempelkarussell steht. Viele Stempel auf einem drehbaren Stempelhalter: Das bedeutet, dass es hier nichts umsonst gibt und man womöglich mehrmals aufkreuzen muss. Es bedeutet auch Unkenntnis der Sachverhalte, Desinteresse von Amts wegen und behördliche Ignoranz. Niemand möchte eigentlich mit solchen Leuten zu tun haben müssen, die neben einem Stempelkarussell sitzen. Und so betonte der Loisl immer wieder, dass er eben keiner von diesen war.


Arbeiten sah man den Loisl eigentlich auch nie. Meist befand er sich im „Außendienst“, wie er einem immer versicherte, sollte man sich getraut haben, nach seinem Aufgabenbereich zu fragen. „Außendienst. Gemeinde!“, sagte er dann nur und lächelte vielsagend. Fakt ist, dass man ihn öfter in der örtlichen Branntweinschenke antreffen konnte. (Was waren das für Zeiten, als es noch Branntweinschenken gab! - Ich weiß es nicht, ich hab sie nie erlebt…) Als diese einzige Branntweinschenke der Gemeinde Ende der 80er Jahre zusperrte, zogen sich Leute wie der Loisl in abgelegene Kaffeehäuser zurück, die den Leuten bald nur mehr als „Trinker-Cafés“ bekannt waren. Nun war der Ribisel bei Gott kein Trinker; doch liebte er die Geselligkeit. Und er hatte Zeit. Dass der Loisl mit seinem Gemeindeposten so viel Zeit hatte, störte viele rechtschaffende Bürger. Noch mehr giftete es sie, wenn der Loisl immer lachend verkündete „Ach, ich bin bei der Gemeinde. Ich habe ja Zeit!“


So brodelte natürlich die Gerüchteküche, was der Loisl denn bei der Gemeinde genau machte. Die Spekulationen reichten von „Promenadenpolizist“ bis zu „Fassadenkontrollor“ und waren wohl nie wirklich ernst gemeint. Das machte auch nichts, denn der Loisl engagierte sich in seiner Freizeit (sprachen die anderen Leute über Ribisels Freizeit, malten sie dabei stets Gänsefüßchen in die Luft) für den örtlichen Fußballverein. „Und zwar ehrenamtlich“, wie der Loisl bei jeder Gelegenheit stolz versicherte, obwohl niemand irgendetwas anderes von ihm erwartet hätte. „Der Ribisel“, sagten die Leute immer, „ist ein komischer Kauz. Aber im Verein tut er schon viel!“ Mit „Verein“ war stets der Sportverein, der Fußball, Tennis und Eishockey in sich vereinte (ha!), gemeint. Die übrigen Vereinigungen in der kleinen Gemeinde waren zwar rechtlich gesehen auch Vereine, nannten sich aber offiziell immer „Clubs“, weil dies in den Augen ihrer Mitglieder seriöser klang. Es gab den Schachclub, den Fischereiclub und den Akkordeonclub. Als dann der Schützenverein sich auch noch in „Club der Schützen“ umbenannte, entwertete das einerseits den Clubbegriff gewaltig, aber der Sportverein freute sich, denn nun hatte er als Verein natürlich ein Alleinstellungsmerkmal und es umgab ihn die „besondere Aura des Elitären“, wie der Landes-Sport-Rat einmal übertrieben feststellte, als die Eishockey-Sektion die Landesliga gewinnen konnte.


Was der Loisl im Verein alles tat, konnte man kaum an zwei Händen abzählen. Denn tatsächlich war er im Verein für fast alles zuständig. Er trainierte die Super-Minis im Fußball, war Platz- und stellvertretender Zeugwart, organisierte sämtliche Vereinsveranstaltungen, half wo immer es Ausbesserungsarbeiten an den Vereinsgebäuden zu erledigen gab und war auch der soziale Knotenpunkt des Vereinsgefüges. Wann immer jemand irgendwas vom Verein brauchte, ging er zuerst zum Ribisel-Tarzan und der machte das dann bzw. leitete er es in die Wege, denn der Ribisel sagte immer „wird in die Wege geleitet!“, um seinem Tun etwas Offizielles zu geben. Für all das nahm der Ribisel aber tatsächlich kein Geld, weil er, wie er behauptete, „bei der Gemeinde“ schon genug verdiente. Manche vermuteten gar, der Ribisel vertrat Gemeindeinteressen im Verein, war also quasi als Maulwurf von der Gemeinde in den Verein entsandt. Aber diese Leute überschätzten wohl einerseits das politische Interesse des Ribisels und andererseits auch das Interesse der Gemeindeführung, in die Machenschaften des Vereins hineinzupfuschen. Kurzum: Der Loisl war eigentlich der Verein - ohne ihn ging nichts.


So traf sein plötzliches Verschwinden vor allem den Sportverein hart. Niemand wusste, wo der Ribisel geblieben war, aber nachsehen konnte auch keiner, denn niemand kannte ihn persönlich. Die Vereinsleute kannten ihn vom Verein, die Trinker in den Trinker-Cafés vom Café, die Promenierenden von der Promenade usw. Doch niemand kannte des Ribisels Familie oder wusste, ob er überhaupt eine hatte. Niemand nannte sich einen engen Freund und so kannte auch niemand die Wohnung oder das Haus, in dem der Ribisel wohnte. Als man bei der Gemeinde nachfragte, ob die wüssten, wo der Ribisel geblieben sei und wo er wohnte, stellte sich heraus, dass tatsächlich alle Gemeindebediensteten dachten, der Ribisel-Tarzan würde bei ihnen arbeiten, aber keiner konnte sagen, in welcher Abteilung er war und was er dort machte. Alle Abteilungen wurden durchgefragt, niemand hat je mit ihm zusammengearbeitet, aber jeder hat ihn gekannt. Auch, dass niemand seine genaue Funktion kannte, störte keinen wirklich. „Das weiß man hier von vielen nicht, was die den ganzen Tag machen“, hat die Sekretärin des Bürgermeisters einmal gesagt und damit dem Rätsel um den Lackenbrunner Loisl ein Fundament verpasst. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass jemand Zeit seines Lebens als „Phantombeamter“ bei der Gemeinde tätig ist? Doch woher hatte der Loisl dann sein Geld bezogen? Und wohin war er verschwunden?


Gemutmaßt wurde noch lange, doch geklärt hat sich die Sache nie. Die meisten behaupteten, der Ribisel hätte sich „versoffen“, was in dieser Gemeinde komischerweise die allgemein akzeptierte Erklärung für ein plötzliches Verschwinden war. Andere behaupteten, der Loisl wäre wahnsinnig geworden und ihn habe der „Zeiseiwagen“ geholt, wie die Leute sagten. Die Wirtin des Trinker-Cafés meinte, der Loisl habe in der Lombardei eine Freundin gehabt, die mit einem Turiner Millionär verheiratet war, und zu der sei er wohl gegangen als ihr Mann gestorben war. Das glaubte ihr aber kaum jemand. Alles, was vom Loisl blieb, waren Rätsel und sein vortrefflicher Spitzname, der jedes Mal, wenn ihn jemand nannte, ein Feuerwerk an Anekdoten zu zünden vermochte. Wo immer der Ribisel-Tarzan auch war - er musste zufrieden sein mit dem Streich, den er allen anderen spielte, und den er sein Leben nannte.

Montag, 21. Oktober 2013

Der Geruch des Lebens

"So wie einer am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!", verkündete der Student und kicherte zufrieden in seinen Cappuccinoschaum hinein. Die Spitzenkandidatin ermahnte ihn sofort: "Oder wie EINE!" Sie häkelte an etwas, das wie eine tibetische Gebetsfahne aussah. Genau genommen konnte es aber alles mögliche sein. Dazu trank sie fair gehandelten Jojobaöltee aus Surinam, wie sie zuvor stolz verkündet hatte.
"Wie, was? Eine? Häh?" Der Student schien verwirrt zu sein.
"Naja, das Leben riecht doch auch wie EINE morgens aus dem Mund, oder?", fragte die Spitzenkandidatin streng, während sie im Häkeln kurz innehielt und über den Rand ihrer Brille lugte. Es sah aus, als wäre ihr die Brille zufällig auf die Nasenspitze gerutscht, doch in Wahrheit trug sie ihre Brille immer so.
"Tja, also, das weiß ich jetzt nicht. Vermutlich schon. Ja, da hast du wahrscheinlich Recht… hm…" macht der Student und sah tatsächlich so aus als würde er grübeln. Schließlich sagte er nur: "Aber das sagt man halt so. Man sagt halt 'So wie einer aus dem Mund' und meint dann halt alle. Also die Menschen, beziehungsweise den Menschen an sich!"
"Das ist ja genau das Problem!" Die Spitzenkandidatin ließ jetzt ihre Häkelarbeit in den Schoß sinken und der Student wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Eigentlich war er nur hier hergekommen, um den Wohnungskollegen der Spitzenkandidatin zum Fußball abzuholen. Der war aber gerade am Klo und so hatte der Student gedacht, es wäre eine gute Idee, mit der Spitzenkandidatin ein Gespräch zu führen. Er war der Meinung, dass sie eine Vorliebe für "schräge Sätze" hatte, und so hatte er sich schon vor Wochen diesen Satz zurechtgelegt und hatte nur auf die Gelegenheit gewartet, ihn "anbringen" zu können, wie er es ihrem Wohnungskollegen immer angekündigt hatte. "Irgendwann bring ich den an!", hatte er sich immer gefreut und gesagt: "Der ist gut, der Satz! Sehr gut sogar! Das haut die um, ganz sicher!"


Die Spitzenkandidatin elaborierte: "Dieses Mit-Meinen, das funktioniert nicht. Das ist immer die billige Ausrede. 'Frauen sind immer mitgemeint', wie oft habe ich den Schwachsinn schon gehört! Es ist doch so: Wenn wer mit-meint, dann kann er auch mit-sagen. Woher weiß man denn, dass frau wirklich mitgemeint ist? Ich kann ja nicht einfach davon ausgehen, dass sich wer mitgemeint fühlt, wenn ich den oder die dann nicht anspreche." Sie sagte wirklich "frau" statt "man", und das imponierte dem Studenten in gewisser Weise schon. Das war offenbar eine konsequente Frau, die redete nicht nur, die tat auch was! Eine Spitzenkandidatin, völlig zurecht!
"Naja", sagte der Student verlegen und nach kurzem Innehalten, "ich habe mir halt auch gedacht, dass das nicht sehr galant ist, wenn man sagt: 'So wie eine am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!'. Da hättest du dann wahrscheinlich auch protestiert und gesagt, was mir überhaupt einfallen würde, ob denn nur Frauen am Morgen aus dem Mund riechen würden und so weiter. Also hab ich mich für die männliche Variante entschieden." Das war natürlich gelogen, aber um Spontanausreden war der Student noch nie verlegen gewesen.
"Aso! Aha!", rief die Spitzenkandidatin aufgebracht, als hätte sie darauf nur gewartet. "Das ist ja da nächste chauvinistische Vorurteil, das Mann dauernd anbringt!" (Hier freute sich der Student kurz, dass sie auch das Wort "anbringen" verwendete.) "Wieder so quasi die Frauen, die sind ja von Natur aus rein und sauber und stinken nicht, die Männer aber schon, weil die das dürfen. Das ist ja wieder derselbe Quatsch, das geht ja alles in die gleiche Richtung." Obwohl sie gerade noch den Eindruck erweckt hatte, als wäre sie ehrlich erbost - sie hatte sich in ihrem Sessel aufgerichtet und den Studenten scharf über die Brille hinweg angesehen -, sackte ihre Aufgeregtheit nun schon etwas ab. Sie nahm einen Schluck vom Jojobaöltee und sank irgendwie zufrieden in ihren Sessel zurück, um sich wieder ihrer Gebetsfahne, oder was das auch immer war, zu widmen. "Eine müde, alte Dame, die so ein Gespräch schon hunderttausende Male geführt hat und eigentlich keine Lust mehr darauf hat, weil am Ende das Unverständnis steht", dachte der Student und die Erkenntnis machte ihn irgendwie traurig. Trotzdem bemühte er sich um eine Fortführung des Gesprächs.
"Ja, hm. Also irgendwie hast du da natürlich Recht. Aber der Satz verliert ja auch an Knackigkeit, wenn man sagt: 'So wie einer oder eine am Morgen aus dem Mund- so riecht das Leben!" Es war eine Verzagtheit in seinen Worten, die zu groß geraten war; so verzagt wollte er gar nicht klingen, nur ein bisschen unsicher, um sie wieder in Fahrt zu bekommen. Daher war er froh, als in diesem Moment der Mitbewohner der Spitzenkandidatin vom Klo zurück kam.


"Was? Wie riecht das Leben? Sag nochmal!", wurde der Student sofort aufgefordert, seine Weisheit zu wiederholen. Die Spitzenkandidatin blickte ihn prüfend an, was den Studenten natürlich nervös machte, obwohl er sich auch freute, dass sie jetzt wieder da war.
"So wie einer oder eine am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!" wiederholte er brav.
Der Mitbewohner blickte ihn ratlos an. "Was? Wie einer oder eine? Was meinst du da?"
"Na eben einer… oder halt eine! Mann oder Frau. Kann ja beides sein. Die Frau ist ja nicht automatisch mitgemeint, und Frauen können am Morgen auch aus dem Mund riechen. Also einer - oder eine!", erläuterte der Student umständlich. Die Spitzenkandidatin musste kurz grinsen, gab sich aber alle Mühe, dies zu verbergen. Also griff sie schnell zur Teetasse.
"Aha. Und so riecht das Leben? Wie einer aus dem Mund? Oder eine? Versteh ich nicht." Der Mitbewohner kannte sich noch immer nicht ganz aus.
"Nein. Also ja. Nein, der Satz geht nur so. Also wenn man ihn so sagt: 'Wie einer am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!'. Den kann man nicht umstellen. Sonst leidet die Knackigkeit darunter!"
"Ja, aber ich dachte einer oder eine?", stellte sich der Mitbewohner nun extra blöd, obwohl er den Satz ja schon lange kannte. Schließlich wusste er, dass der Student nur darauf gewartet hatte, ihn endlich "anbringen" zu können.
"Ja eh. Na, also der ursprüngliche Satz, so wie ich ihn gedacht hatte, war: 'So wie einer am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!' Aber dann hat sie gesagt, das geht nicht, weil die Frauen da nicht mitgemeint sein dürfen, sondern extra erwähnt werden müssen." Der Mitbewohner musste ein bisschen grinsen ob des Theaters, das der Student da jetzt aufführte, indem dieser vorgab, dem Mitbewohner noch nie zuvor von dem Satz erzählt zu haben.
"Das ist aber uncharmant!" rief der Mitbewohner deshalb vergnügt und sah die Spitzenkandidatin erwartungsvoll an.
"Ja, aber charmant darf man nicht mehr sein, weil das ist chauvinistisch. Oder so", wehrte sich der Student während die Spitzenkandidatin zufrieden lächelte.
"Aha. Weiß ich aber trotzdem nicht, was ich davon halten soll. 'Eine oder einer' hin oder her."
"Von was?", fragte der Student.
"Wovon!", rief die Spitzenkandidatin, "nicht von was. Wovon!"
"Ja, von wo äh wovon. Wie jetzt?" Das war dem Studenten jetzt zu viel.
"Na von dem Satz. Da weiß ich nicht, was ich von dem halten soll."
"Davon!", korrigierte die Spitzenkandidatin.
"Nein nein, von dem! Von dem Satz. Ich mein den Satz, den konkreten Satz. Da verwende ich 'dem', damit klar ist, dass ich den Satz gemeint habe und nicht irgendwas Allgemeines", wusste sich der Mitbewohner zu helfen. Er war ein ähnlicher Klugscheißer wie die Spitzenkandidatin eine Klugscheißerin war.
"Hm, ja. Hast Recht" sagte die Spitzenkandidatin nur schulterzuckend und widmete sich wieder der Häkelei. Der Student war verblüfft.
"Wie du weißt nicht, was du von dem halten sollst?" konzentrierte er sich wieder auf seinen Satz und den Mitbewohner.
"Ja, weiß nicht. Erstmal nichts. Ich halte lieber erstmal nichts davon."
"Von dem! Warum jetzt 'davon' und vorher hast du auf 'von dem' bestanden? Das ist doch inkonsequent!" erregte sich die Spitzenkandidatin wieder.
"Ja, von dem. Erstmal halt ich nichts von dem Satz. Erstmal nichts davon halten hat sich bewährt", meinte der Mitbewohner ruhig. "Übrigens auch ein guter Satz", schob er nach, "Erstmal nichts davon halten hat sich bewährt. Gut, oder?"
Der Student schien ein wenig beleidigt und wollte nicht auf den Satz des Mitbewohners eingehen: "Wieso hältst du nichts davon? Der ist doch gut! Also in seiner ursprünglichen Form, ohne die Gender-Problematik."
"Ts, Problematik!", sagte die Spitzenkandidatin leise und verdrehte dabei übertrieben die Augen.
"Sag doch 'jemand'! Dann sparst du dir das mit 'einer oder eine'", schlug der Mitbewohner vor.
"Ha!", machte die Spitzenkandidatin, "Jemand! Je-Mann-d! Da steckt überall der Mann drinnen!"


"Das ist jetzt nicht dein Ernst?" Der Student war ehrlich entsetzt. Die Spitzenkandidatin hingegen kicherte eigentümlich versöhnlich. Nahm sie ihn auf den Arm? Neckte sie ihn gar?
"Das klingt ja wie Kafka. Jemand…" Der Mitbewohner schien sich wirklich Gedanken zu machen. "'So wie jemand am Morgen aus dem Mund - so riecht das Leben!'. Nein, das klingt zu mystery-mäßig, zu anonym. Das ist ja wer konkreter, der da aus dem Mund riecht."
"Jemand konkretes!" korrigierte die Spitzenkandidatin sofort.
"Nein, jemand konkreter!" behauptete der Mitbewohner fest.
"Da wären wir ja schon wieder beim er!" Und da hatte die Spitzenkandidatin Recht. Der Mitbewohner grübelte noch, da sagte der Student: "Aber ja, das stimmt schon, das geht nicht mit dem 'jemand'. Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte…" deklinierte er und der Mitbewohner ergänzte: "… roch er eines Morgens aus dem Mund!", und beide kicherten.
Die Studentin hingegen sagte nun, wie um der ganzen Diskussion ein Ende bereiten zu wollen: "Das ist überhaupt ein schwachsinniger Satz. Jetzt mal ehrlich! Was soll das bitte heißen? 'Das Leben riecht wie jemand aus dem Mund'. Totaler Unsinn ist das!"
"Am Morgen!" warf der Student ein.
"Am Morgen, am Abend… Ist doch egal. Das Leben riecht doch nicht wie jemand aus dem Mund riecht! Das Leben riecht überhaupt nicht. Und wenn, dann schon gar nicht wie jemand morgens aus dem Mund."
"Aber das ist doch auch das Leben, irgendwie", wusste der Mitbewohner anzuführen. "So schlecht ist der doch nicht, der Satz! Irgendwie poetisch. Wie jemand am Morgen aus dem Mund… klingt doch gut!"
"Sag ich ja! Aber ohne jemand!" freute sich der Student, dass wenigstens der Mitbewohner nun die Magie des Satzes erkannt zu haben schien.
"Schwachsinn ist das. Das ist doch keine Poesie, das ist Unfug." Die Spitzenkandidatin blieb hart.
"Ach was, Fug ist das! Da fügt sich was zusammen!", rief der Student erregt. Er wusste nicht, ob er ihre Wehrhaftigkeit gut finden sollte oder bloß stur. "Außerdem klingt das gut! Es klingt zusammen… symphonisch also - im wahrsten Sinne des Wortes!"
"Aber grausig ist das auch", gab der Mitbewohner zu bedenken, "muss man zugeben. Bei aller Liebe, schön ist das nicht, wie einer am Morgen aus dem Mund riecht!" - "Oder eine!" ergänzte die Spitzenkandidatin nun fast schon lethargisch.
"Das Leben ist doch auch grausig, manchmal. Das ist ja der Reiz der Aussage!", verteidigte der Student seinen Satz weiter.
"Dann darfst du das aber nicht generalisieren und sagen 'so riecht das Leben'. So und nicht anders. Das ist plump. Da fällt ja einiges unter den Tisch, was das Leben sonst noch sein kann." Die Spitzenkandidatin hatte anscheinend wieder zu ihrer markanten Sachlichkeit zurückgefunden.
Der Student konterte: "Freilich. Aber das ist halt der knackigen Aussage geschuldet. Da muss was unter den Tisch fallen, sonst gibt's keine Pointe und darunter würde die Knackigkeit leiden!"
"Knackigkeit… das ist auch so ein fragwürdiges Wort", gab der Mitbewohner zu bedenken; und die Mitbewohnerin darauf: "Direkt beknackt ist das!" Niemand kicherte.


"Also gut", versuchte sich der Student an einer Korrektur seines Satzes, 'Wie ein Mensch unbestimmten Geschlechts am Morgen aus dem Mund - so könnte ein Aspekt des Daseins riechen'. Das klingt doch scheiße!" Die Spitzenkandidatin lachte kurz auf, der Mitbewohner grinste und sagte ermutigend:
"Dasein ist gut! Besser als Leben! Und Mensch auch! Da sparst du dir 'jemand' und dieses umständliche 'einer oder eine'."
"Pff. Solche Sprücheklopfer… Das ist ja nicht auszuhalten. Diese pseudogescheiten Weisheiten. Das geht gar nicht!" Die Spitzenkandidatin das Interesse an der Konversation zu verlieren.
"'Geht gar nicht' sagen geht auch gar nicht!" ätzte der Student zurück.
"Lass Sie, die findet ja sogar Panoramafernsehen reaktionär!", versuchte der Mitbewohner unbeholfen die Wogen zu glätten.
"Ist es ja auch", sagte die Spitzenkandidatin beleidigt und schlürfte wieder am Jojobaöltee.
"Ist aber auch das Leben!", verkündete der Student stolz. "Wie Panoramafernsehen mit Hüttenmusik unterlegt - auch das ist ein Aspekt unseres Daseins!" Und der Mitbewohner lachte.
"Davon halte ich erstmal nichts", entgegnete die Spitzenkandidatin und schob ihre Brille hinauf, die sofort wieder zurück auf die Nasenspitze glitt.
"Das bewährt sich meistens!" Der Mitbewohner grinste und wandte sich an den Studenten: "Siehst du, so gehen gute Sätze. Die müssen sich bewähren. So wie mein Satz 'Ich halte erstmal nichts davon', der hat sich bewährt."
"Das hat sich bewährt!", rief der Student und hob den Zeigefinger wie der reinste Lehrer Lempel.
"Was?"
"Na du hast vorher gesagt: 'Ich halte erstmal nichts davon. Das hat sich bewährt' oder 'erstmal nichts davon halten hat sich bewährt'. Das war dein Satz - oder deine Sätze."
"Was? Ja, nein. Ich meinte doch den Satz jetzt. Also den ersten Teil. Der hat sich bewährt… im Gespräch, weil sie ihn verwendet hat."
"Also Bewährung zweiter Ebene meinst du?" feixte der Student und der Mitbewohner schien verzagt: "Ach, egal." Die Spitzenkandidatin grinste nur und fragte noch mal: "Und wie riecht es jetzt, das Leben?"
"Egal", sagte der Student und meinte es auch so.

Sonntag, 7. Juli 2013

Grazer Reminiszenzen 3: Die Sprache

"Kernöil ... Kernöuhl ... Kernaöl ... Kernauöil ...", probierte ich oft allein in meinem Studentenzimmer. Alles fängt mit dem Kernöl an. Nicht nur beim Essen, sondern auch in der Sprache. Der im bairischen Sprachraum vielgepriesene "Oachkatzlschwoaf" ist quasi die Eintrittskarte für Zugewanderte. An ihm demonstriert der Bayer oder Österreicher, dass du nie dazugehören wirst, egal wie gut dein "Oachkatzlschwoaf" auch ist - irgendwo zwischen "Oach" und "oaf" wird man immer erkennen, dass du eigentlich von woanders bist. Das Kernöl aber, das ist, von kundigen Sprechern gesagt, ein Wort von solcher phonetischer Subtilität, dass jeder Nicht-Steirer an seine natürlichen Sprachgrenzen stoßen muss. Weil man nämlich tausendmal glaubt, dass man es jetzt hat; und der Steirer dir gegenüber schüttelt unentwegt den Kopf. Das nicht-steirische Ohr hört das richtige "Öl" nicht, sondern immer etwas anderes. "Öil, Öuhl, Aöuil, ..." Manchmal glaubt man sogar das "l" verschwinden zu hören. Kontaktassimilation nennt der Phonetiker das. Aber auch der Phonetiker ist hilflos gegenüber dem Kernöl, weil es für die phonetische Transkription keine geeigneten Zeichen im phonetischen Inventar gibt. Es lässt sich nicht erhören oder erfassen.

Man hört das Wort nämlich weniger als man es spürt. Damit ist es der Urvater aller steirischen Wörter. Das Steirische erschöpft sich nämlich überhaupt nicht im allgemein angenommenen "Bellen". Freilich, der Student der Sprachwissenschaften schmunzelt, wenn er im ersten Semester erfährt, dass die neuhochdeutsche Diphthongierung, also jener Lautwandelprozess, der aus einem einfachen Vokal einen Doppelvokal werden lässt, im 12. Jahrhundert vom südostbairischen Sprachraum ausging: dem heutigen Kärnten und der Steiermark. Auch lässt sich der steirische Dialekt recht leicht (zureichend aber nicht hinreichend) parodieren, wenn man einfach aus jedem Vokal einen Zwielaut macht. Wer aber jemals Kontakt mit Süd- oder Oststeirern hat, merkt schnell, dass es damit nicht getan ist. Der steirische Dialekt prügelt einem das Trommelfell und verleitet zum Mitnicken beim Zuhören. Manchmal klingt es, wie wenn ein Volksschüler ein Gedicht im jambischen Versmaß übertrieben zu rezitieren versucht, um sich selbst vor dem Leiern zu bewahren. Das Steirische ist zuweilen anstrengend, aber es ist eine agile, nie langweilige und manchmal lustig hopsende Sprache. Und es ist (siehe Kernöl) komplexer als man denkt.

Im lexikalischen Bereich findet man als in die Kulturstadt gezogener Innergebirgler wenig Auffälliges. Im Lokal muss man sich halt daran gewöhnen, dass für den Steirer offenbar der Inbegriff eines Glases einen nullkommadreilitrigen Inhalt hat. Das "Glasl Bier" ist demnach das unsrige "Seitl" bzw. "Seitei". Zu Schwierigkeiten kommt es dabei aber nicht, weil auch die Variante "Seidl" bekannt ist. Am "Seitei" erfreuten sich die Grazer unverständlicherweise aber besonders, und so konnte ich stets mit meiner bescheidenen Bestellung Amusement erzeugen. "Seite! Seite!", riefen die Grazer vergnügt, und so war auch ich vergnügt darüber, dass ihnen das "ei" am Schluss ähnlich entgangen war wie mir manches Mal das "l" beim Kernöl.

Dass der Spritzwein bei den Grazern lapidar "Mischung" genannt wird, finde ich immer noch höchst kurios und es lässt mich den Steirern eine generelle Vorliebe für Oberbegriffe andichten. Glasl, Mischung, ... dauernd möchte man dem Steirer entgegenschreien "Wos? A Glasl wos? A Mischung wos? Wos wüst du mischen?! Wos wüst du in dei Glasl hom?!", aber eigentlich findet man das ganze eh recht drollig und lässt den Steirer gewähren. Die Vagheit der Begriffe "Glasl" und "Mischung" im Auge wundert es einen dann aber doch, dass ein Radler ein Radler bleibt, auch wenn der vorzugsweise mit Lederhosenlimonade gemacht wird. So gibt es konsequenterweise auch die "Almdudlermischung" - ein Wort von faszinierender Eleganz, vor allem, wenn es von einem Bewohner der südlichen Steiermark ausgesprochen wird.

Wenn der Steirer einige Glasln Bier und Mischungen verschiedenster Art getrunken hat, geht er meistens liegen. "Liegen gehen" heißt ganz eigentlich, dass man sich zum Schlafen niederlegt. Auch hier bleibt der Steirer sprachlich wieder sehr allgemein und sagt nicht genau, was er macht. Anfangs stellte ich mir Studenten vor, die wach auf ihrem Bette ruhen und sich Gedanken über die Unbestimmtheit der steirischen Sprache machen, wenn jemand sagte, er ginge jetzt liegen. Für die höchst passive Tätigkeit des einfachen Daliegens oder gar Schlafens hat die Wendung "liegen gehen" einen unangebracht aktiven Charakter. Es klingt fast wie Arbeit, schließlich muss man sich ja erst zu einer geeigneten Liegestätte begeben: "Ich gehe jetzt liegen" klingt nach Auftragserfüllung, wohingegen "Ich leg mich ein bisschen nieder" schon in der Ankündigung vor Faulheit stinkt. Zusätzlich meidet der Steirer mit dieser Phrase das Alarmwort "schlafen". Der Steirer schläft nie! Er liegt immer nur bzw. befindet sich Zeit seines Lebens immer nur auf dem Weg zu einer Ruhestätte. Wir können das einen Euphemismus nennen, sind aber im gleichen Moment nicht sicher, ob hier tatsächlich etwas Unangenehmes durch etwas Unverdächtiges ausgedrückt wird. Uns beschleicht vielmehr die Vermutung, dass der Steirer uns einfach täuschen will - auf gut deutsch: Er will uns verarschen. Oder aber er schämt sich. So wie man sagt "ich muss mal wohin" und niemals "ich habe Durchfall".

Wir erkennen also im Steirischen den Hang zur Verschleierung. Laute werden verschleiert, indem sie durch Hinzufügen von Zwischenlauten verwaschen werden. Möglichst allgemeine Begriffe ersetzen eindeutige Ansagen. Der Steirer täuscht und tarnt, wo er nur kann, er lässt uns im Unklaren über die wahre Natur der Dinge. Vielleicht lebt er aber auch nur konsequent die philosophische Grundannahme, dass die Dinge an sich eh nicht verfügbar sind - warum sich also die Mühe machen, sie möglichst genau zu beschreiben versuchen? Wir können den Steirer Sprachpragmaten nennen, der aber wegen eines untrüglichen Sinns für melodische Eleganz sich dankenswerter Weise einem jaulenden Singsang verpflichtet hat, der uns bei Laune hält und uns manchmal schmunzeln lässt; vielleicht neidisch schmunzeln lässt, weil wir uns zu Hause vor dem Spiegel wiederfinden, das Lautinventar des Kernöls betend: "Kernäöl, Kernauöil, Kernöuil, ..."

Montag, 1. Juli 2013

Grazer Reminiszenzen 2: Essen und Trinken

Bereist man fremde Länder, tut man das oft auch wegen oder trotz des dortigen Essens. Es soll ja Leute geben, die nur des Essens wegen nach Italien oder Frankreich fahren. Freilich gibt es dort auch einiges an Kultur und Natur zu bestaunen, aber das Kulinarische lockt in manchen Regionen mehr als alles andere. Für die Steiermark gilt das nur bedingt, und wann immer ich Menschen von meiner Wahlheimat Graz erzählt habe, fiel ihnen zum Thema Essen und Trinken immer nur das eine ein: Kernöl und Schilcher.

Dabei ginge ja auch Sterz und Puntigamer, Backhendl und Gösser oder Käferbohnen und Weichserl. Womit wir, das sage ich mit aller Arroganz, auch schon das steirische Kulinarium abgesteckt hätten, das beim Buschenschank anfängt und dort auch gleich wieder aufhört. Man komme mir jetzt nicht mit Weinstraße und Johann Lafer! Das ist alles schön und gut, aber eben nichts Alltägliches. Und ums Alltägliche soll es ja schließlich gehen. Vor allem beim Essen.

Was erwartet den Innergebirgler Absonderliches, wenn er nach Graz kommt? Am Anfang steht das Kernöl, das ich vor Graz nie mochte, von dem ich vorübergehend fast Fan wurde und das mir jetzt wurscht ist. Gleichgültigkeit einem Lebensmittel gegenüber ist ja in einer Zeit der allgegenwärtigen Nahrungsmittelunverträglichkeiten die höchste Stufe der Anerkennung. Ihr könnt mir Kernöl in die Schnitzelparnier tun, über's Vanilleeis gießen, pur zu trinken geben oder sogar in den Kaffee schütten - ich dulde es und seine unvermeidlichen Flecken wie ich die Milben in meiner Couch dulde, weil sie immer da sein werden und ich sie nie bemerke. Ob mir das Kernöl abgehen wird, jetzt, da es nicht mehr Standardnahrungsmittel ist? Das muss sich erst zeigen...

Gut in Erinnerung habe ich jedenfalls ein anderes Kürbiskernprodukt, nämlich die Suppen. Eine saisonale Köstlichkeit, die man in der Steiermark fast nirgends schlecht gemacht bekommt. Alles andere mit oder aus Kürbis oder den entsprechenden Kernen ist mir ebenfalls wurscht. In der Schokolade brauch ich das Zeug aber nicht, auch wenn die Firma Zotter (nicht nur diesbezüglich) anderer Meinung ist.

Was mir allerdings vollkommen unverständlich ist, ist der Fetisch, den Steirer mit ihren Backhendln pflegen. Mir kommt das weder sehr regional vor, noch haben mir steirische Backhendln je besser als irgendwelche anderen geschmeckt (auch nicht die in der Kürbiskernpanier). Vielleicht kann mir noch irgendwann mal wer erklären, was das explizit "Steirische" daran sein soll, an dem Backhendl, das in der Lieblingssommerspeise der Grazerinnen auf Salat im Kernöl ersoffen wird.

Eigentlich sind die Steirer aber Herbstleute. Nicht unbedingt des steirischen herbstes wegen, sondern vor allem wegen des Weins. Mit dem Aufsteirern beginnt es. Das ist eine von mir ungeliebte Lederhosen-Veranstaltung, bei der es nebst der Tracht vor allem um's Fressen und Saufen geht - wie bei jedem anderen Volksfest halt auch. Dann kommen Kastanien und Sturm und es beginnt die ewige Suche nach dem besten Maroni-Standl, bis man drauf kommt, dass man einfach Glück haben muss und es jenseits des Kernöls in der Steiermark eben keine absoluten Sicherheiten gibt.

Wer sich mit Sturm und Junker noch nicht besinnungslos getrunken hat, den erwartet im Advent das Glühweingelage in der Grazer Innenstadt. Absichtlich sagt man nicht Christkindlmarkt dazu, weil es wirklich nur um Glühwein geht bzw. Punsch und Feuerzangenbowle usw.; die Aufzählung stockt, weil mir da schlecht wird, allein, wenn ich allein an den Geruch denke, den der Hauptplatz zu dieser Zeit verströmt. Wer aber noch nie einen Schilcherglühwein probiert hat, der hat trotzdem was verpasst. Auch hier lohnt es aber, sich von Kennern informieren zu lassen, wo es brauchbaren und vor allem verträglichen zu finden gibt!

Abseits des saisonalen Angebots, sind mir zwei Dinge aus dem Grazer Bäckereisortiment besonders suspekt: Einerseits die Salzbrezen, die ich als Pinzgauer überhaupt nicht kannte, und die mich schockten, weil bei uns eine Breze immer auch automatisch eine Laugenbreze war. Naja, immerhin was gelernt! Andererseist suchte ich lange Zeit nach Mohnweckerln, die nicht süß waren, bis mir irgendwann jemand erklärt hat, dass das halt so sei. Ein Weltbild brach zusammen! Schließlich sahen die Mohnweckerln genau gleich aus wie jene daheim, nur, dass sie eben süßlich schmeckten. Das konnte ich nicht akzeptieren und nannte die Grazer allesamt verrückt. Süße Mohnweckerl! Ich schüttle immer noch den Kopf.


Was mir obendrein noch aufgefallen ist: Dass die Grazer keine Fastfoodkultur haben. Ja, da könnte man eventuell stolz drauf sein. Aber oh Schreck, wenn ich an die unsäglichen "Hot Dogs" denke, die da verkauft werden (Bosna ist praktisch unbekannt) und an die Käsekrainer, die im besten Falle mäßig waren! Man verlangt ja nicht viel von einem Würstelstand, aber die Mindesanforderungen hat da kaum einer erfüllt. Gott sei Dank gibt es in Graz viele Türken und also lässt sich das eine oder andere ordentliche bis sehr ordentliche Kebab-Etablissement finden. Aber das kann ja schließlich auch keine Lösung sein!

Von dem abgesehen hat mir Graz ein fast fünfjähriges Vegetarier-Dasein beschert (ja, das war freiwillig!), und ich bin nicht verhungert! Das war jedenfalls eine interessante Erfahrung und hat mich ohnehin in den meisten Fällen vor den Würstelständen bewahrt. In einer Studentenstadt lebt es sich als Vegetarier auf alle Fälle einfacher als am Land. Probleme bekommt man auch nur bei der Buschenschank. Denn dort gibt es dann die obligatorischen Käferbohnen - mit viel Kernöl! Vor etwas anderem hat mich nicht der Vegetarismus bewahrt, sondern der gesunde Menschenverstand: Blutsterz. Das war das erste kulinarische Fremdvokabel, das ich in Graz vernommen habe. Da wusste ich schon: Köstlichkeiten brauch ich mir keine erwarten.

Alles in allem habe ich aber überlebt, ja sogar zugenommen. Ich kam ja nach dem Bundesheer als halbertes Biafra-Kind (ein Ausdruck der 80er-Jahre, wie ich glaube) nach Graz und verließ die Stadt zwar nicht als Puntigamer-Pummerl, aber doch gut genährt. Ob es dem Bier geschuldet ist oder doch dem ewigen Kernöl, sei dahingestellt.


Montag, 24. Juni 2013

Grazer Reminiszenzen 1: Kulturangebot und -nachfrage

Graz ist vorbei. Aus, vorüber. Für mich zumindest. Nach vielen Jahren des aktiven und passiven Siechtums in der steirischen Landeshauptstadt, der Stadt der Menschenrechte und der Volkserhebung, der City of Design und vor allem der Kulturhauptstadt (so steht es auf der Autobahn!) verlasse ich nun endgültig ihre Gefilde. Obwohl die Zeiten gute waren, bin ich weder mir noch der Stadt böse, dass es nun vorbei ist. Alles hat immer zwei Enden - auch wenn die Wurst in Graz nur eines zu haben scheint (das zweite steckt unsichtbar in einem von einer Metallstange ausgehölten Hotdog-Brötchen). Also muss ich mich doppelt verabschieden. Schließlich bin ich auch doppelt angekommen. Aber dazu an anderer Stelle mehr...
Teil 1 eines kleinen Rückblicks auf die Grazer Jahre:

Als europäische Kulturhauptstadt habe ich Graz im Jahr 2003 kennengelernt. Toll, dachte ich mir, aus dem provinzlerischen und kulturell nicht kolonialisierten Innergebirg kommend. Bei uns war eine Theateraufführung an einer Schule schon ein Happening von Warhol'schem Format. Einzig das Saalfeldener Jazzfestival ließ die Pinzgauer mit geduldiger Regelmäßigkeit ein wenig Weltgeist schnuppern. Graz nun also mit seinem Kunsthaus, der futuristischen Murinsel (wie lächerlich sich das jetzt in der Retrospektive anhört!), dem steirischen herbst, der Diagonale usf. Was es da alles zu entdecken gab! Ich war zunächst nur beruhigt in einer Stadt zu leben, in der es sogar ein eigenes Literaturhaus gibt.

Wenn man dann nach gut zehn Jahren mehr oder weniger intensiven Aufenthalts Bilanz ziehen muss, fragt man sich, ob man von dem vielen Tollen, das man an Graz immer geschätzt hat, eigentlich immer nur das kulturelle Potenzial genutzt hat, oder ob man auch tatsächlich regelmäßig im Theater, im Museum oder in der Oper war. Nach kurzem überschlagsartigem Nachzählen kommt man drauf: Es hätte mehr sein können. Das geht aber fast jedem so, habe ich gehört. Ist aber auch egal, denn wichtig ist nur, dass man die prinzipielle Möglichkeit gehabt hätte, theoretisch, im Falle des Falles also, jeden Abend in eine andere Veranstaltung zu gehen. Wie oft man diese Gelegenheiten tatsächlich genutzt hat, ist ja einerlei.

Tatsächlich fand ich mich auf der einen oder anderen merkwürdigen Veranstaltung wieder, war nachher froh, dort gewesen zu sein, hatte aber größtenteils das Gefühl, eine lästige Pflicht abgeleistet zu haben. Wenn diverse kulturelle Veranstaltungen auch oft ein netter Zeitvertreib waren, die essentiellen Erkenntnisse stellten sich da selten ein. Das ist übrigens auch so etwas, was man glaubt, wenn man den Schritt an die Hochschule tut bzw. was einem im Gymnasium irgendwie versucht wurde einzureden: Dass sich der Mensch durch den alleinigen Besuch kultureller Veranstaltungen zum Besseren ändere. Ich hab sie ja alle gesehen, die Studenten in Cord-Sakkos und Karohemden, die vor Bildern stehen und mit Daumen und Zeigefinger ratlos Verständnis vorschützend ihre Kinn- und Mundpartie umspielen! Ich war ja selber schon so weit, wenngleich auch nicht in Cordsakko und Karohemd!

Dann aber die harte Erkenntnis: Dass sich im Kopfe nichts tut, wenn das Hirn sich nicht rühre. Und dazu bedarf es erstmal keiner Ausstellungen oder Vorführungen, sondern des Verständnisses für das Einfache und Klare. Die Einsicht, dass die einfachen Sätze erstmal kapiert werden müssen und nicht bloß rezitiert. "Ich weiß, dass ich nichts weiß" zum Beispiel. Der Satz kann als Ausrede für eine mangelhafte Prüfungsvorbereitung genauso herhalten wie für die letzte Conclusio am Sterbebett. Man muss sich diese Sätze aber aneignen, für sich und seinen Verstand geltend machen. Und das lernt man nicht im Museum oder im Theater. - und schon gar nicht im Seminarraum (obwohl einen der in manchen Fällen dabei ein wenig helfen kann). Das lernt man am Tresen!

Im Grunde besteht das Spannende an einem ausgeprägten "kulturellen Umfeld" nur darin, dass die Chance, Leute zu treffen, die sich irgendeine Art von Gedanken machen, etwas höher ist als in einem kulturfeindlichen oder -resistenten Milieu. Leider liegt da auch der Hund begraben, denn ein sogenanntes "kulturelles Umfeld" zieht auch eine Menge Scharlatane und Spinner an. Das liegt zum einen an der Kunst selbst, weil sie eben zutiefst menschlich ist (manche sagen nicht zu Unrecht, sie sei das Menschliche überhaupt); zum anderen liegt es an dem, was ich unter einem absichtlich so schwammig gewählten Begriff wie dem eines "kulturellen Umfelds" verstehe: Es gibt da einen geographischen Raum, in dem überdurchschnittlich viele Menschen Kultur betreiben, vertreiben, konsumieren und sich obendrein auch noch dazu verhalten, es sich also auf die Fahnen schreiben und sich darauf etwas einbilden. Klingt widerlich, ist es auch irgendwie. Aber es geht halt anscheinend nicht anders. Yin und Yang, woast scho? Der Kuhfladen ist den Fliegen ein Haus, aber mir ein Graus, etc.

Wie ist das also jetzt? Hat mich Graz verändert, was das sogenannte "Kulturelle" betrifft? Ich denke, ich bin im selben Maße, wie ich der Kultur gegenüber aufgeschlossen gemacht wurde, ihr gegenüber unsensibler oder zynischer geworden. Das hat vielleicht mit Graz per se nichts zu tun, aber ein kulturelles Überangebot verlangt vom potenziellen Konsumenten ein gewissen Grad an Ignoranz. Ganz schnell kommt es zur Ausbildung eines "Geschmacks", dessen Fundament weniger ästhetische Reflexion als das ermüdende Trübsal einer unkreativen Freizeitgestaltung ist: "Wos isn heit? ... Najo, schauma uns des hoit on. Is wahrscheinlich eh wieda a Schas...", sprachs und schlurfte zur Kulturveranstaltung. Echtes Interesse kann ein Überangebot also nicht ersetzen, aber es besteht zumindest die Chance, neue Interessen zu entdecken oder zu vertiefen. Auch hier würde ich aber sagen, dass nichts ohne den persönlichen Austausch geht (ob an der Theke oder nicht), womit wir wieder bei den Menschen wären, die Kultur machen, vertreiben und konsumieren. So waren es also nicht die Veranstaltungen und Veranstaltungsorte, sondern die Grazer Menschen,die mich da beeinflusst und teilweise sogar inspiriert haben. Klingt kitschig, ist aber durchaus wahr. Reminiszenzen, zumal solche zu Graz, kommen eben ohne Kitsch nie aus.

Graz ist keine Kulturhauptstadt, das Schild auf der Autobahn lügt. Aber es ist eine Stadt mit vielen ambitionierten (teilweise überambitionierten) Leuten, die sich etwas antun und sich ein paar Gedanken machen. Man muss deswegen nicht zu allen deren Veranstaltungen rennen. Aber es beruhigt irgendwie, dass sie da sind. So wie auch ein Kuhfladen ohne Fliegen eine zutiefst traurige Angelegenheit ist.

Montag, 13. Mai 2013

Die Eisheiligen

In meiner Kemenate ist es saukalt. Ich sitze im unbeheizten Teil des Hauses, unter mir die kalte Garage, ober mir ein weiteres kaltes Zimmer, zwei Außenwände mit großzügigen Fenstern lassen mich auf das gräuliche Grün des Waldes blicken, bibbernd reite ich auf dem alten Bürostuhl; dabei habe ich mir schon meinen Winterpullover angezogen. Wir schreiben den 13. Mai, Sankt Servatius hält uns fest im Griff. Auf den Bergen liegt (wieder) Schnee, der Niederschlag dauert den ganzen Tag an und wechselt zwischen Niesel- und Platzregen. Wie zum Hohn zeigt sich hie und da ein blaues Fleckchen am Himmel, aber das ist nur Andeutung, ein meteorologischer Mummenschanz, eine - so würde es der Bundesdeutsche nennen - Verhohnepiepung des frühlingsgereiften Innergebirglers, der gerade noch die Hoffnung hegte, bald die Sommerlatschen hervorholen zu können, ja vielleicht sogar schon Teile der "Übergangsgarderobe" einsommern zu können. Nichts da - zu den drei Eisheiligen wird gefroren!

Es heißt: "Servaz muss vorüber sein, will man vor Nachtfrost sicher sein!" (Oder vor Frost überhaupt!) Besser passt da schon, wenn auch rhythmisch nicht ganz so elegant: "Pankraz und Servaz sind zwei böse Brüder. Was der Frühling gebracht, zerstören sie wieder." Dabei kommt morgen erst der Bonifaz und übermorgen der Bavaria Blu bzw. die kalte Sophie. "Die kalte Sophie macht alles hie", heißts recht apokalyptisch im bayerischen Raum. Das mag vielleicht übertrieben sein, aber immerhin übertreiben es die Eisheiligen auch gehörig. Welcher Bauer mag in seinen Regeln da schon Nachsicht walten lassen? Immerhin hat man genug damit zu tun, sich in diesen Tagen auf Ofenbänke zu legen und mit Katzen zuzudecken während man durchs Fenster den Pflanzen dabei zusieht, wie sie ob der Kälte erstaunt eingehen. Traurig, diese paar Tage im Mai, denen zum düstersten November nur die abgefallenen Blätter und die Allerheiligenromantik fehlen. Man fragt sich schon, wo da das Heilige wirkt und werkt, wenn es an diesen Tagen immer so bitterkalt ist. Man muss sich Petrus als einen humorlosen Menschen vorstellen. Mamertius, Pankratius, Bonifatius, Servatius und die Sophie übrigens auch.

Montag, 25. März 2013

Sprechen Sie Deutsch ?/!

Touristen und Einwanderer haben es nicht leicht im Gebirge. Nicht nur ist es die ihnen oft unvertraute Landschaft, welche die Beschwerlichkeit des Berganschreitens genauso in sich birgt wie die oft schwer vorherzusehenden Wetterwechsel, die im Gebirge nicht nur unterhaltsam, sondern eben auch gefährlich sein können; viel öfter scheitert der Wille zum Wohlfühlen an der seltsamen Sprache der Innergebirgler. Denn der Bergmensch kann und will es nicht verstehen, dass er außerbergs nicht verstanden wird. Vielmehr: Es ist ihm egal. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass trotz mittlerweile flächendeckenden Englisch-Unterrichts, der Gebirgler auf dieser Sprache nur phrasenhaft kommunizieren mag. Sein Gebrauch des Englischen beschränkt sich zudem meist auf Wegbeschreibungen, die sich wiederum in den vielsagenden Anweisungen "down" und "up" erschöpfen. "Go up, donn hintre ... hinter... behind hoit. Nochand links... left!" Ahja.

Freilich, der Gebrauch der Englischen Sprache ist nicht jedermanns everyday business. Aber im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends kann mir kein Bewohner einer schon seit fast einem Jahrhundert touristischen Region erzählen, dass er einem Ortsunkundigen nicht auf Englisch den Weg zum nächsten Wirtshaus (als ob er den nicht kennen würde!) oder zum Skiverleih erklären könne. Der Grund, warum diese Situationen in echt immer wieder scheitern, liegt ganz einfach im Unwillen des sogenannten Einheimischen, etwas anderes als seine, die einheimische, Sprache zu sprechen. Diese Verweigerung macht nicht bei einer Weltsprache wie dem Englischen halt. Es erstreckt sich erschreckenderweise sogar auf die standardisierte, überregional verständliche Variante unserer Muttersprache.

Es sind nicht nur "arrogante Deutsche", die vorgeben, rein gar nichts von dem zu verstehen, was der Gebirgler ihm in breitestem Pinzgauer Dialekt zu verstehen gibt. Freilich, es schon auch solche, die sich absichtlich blöd stellen (oder einfach noch keinen Sprachkontakt mit uns hatten oder wollten), und die gleichzeitig davon ausgehen, dass wir ihrem Thüringischen oder Rheinfränkischen Dialekt so ohne weiteres folgen können. Ignorant sein, das kann man auch - und vor allem - in der Sprache.

Viel schlimmer ist die Weigerung des Bergmenschen, seinen Dialekt kurzzeitig zugunsten einer allgemein verständlicheren Variante des Deutschen aufzugeben, wenn er mit Menschen kommuniziert, die dem Deutschen durchaus mächtig sind bzw. sich zumindest alle Mühe geben, es sein zu wollen. Die Rede ist von Zuwanderern, denen ja immer gesagt wird, sie sollen gefälligst zuerst Deutsch lernen, bevor sie es sich bei uns gemütlich machen. Diese Menschen sind nicht abgeneigt zu tun, was von ihnen verlangt wird, ja manche sind mit Eifer und Freude bei der Sache - bis sie merken, wie wenig ihnen im sprachlichen Alltag ihr Wissen nützlich ist. Dort nämlich treffen sie auf den Bergmenschen, der, sobald er die ersten deutschsprachigen Bemühungen des Lernenden bemerkt, anfängt, mit diesem konsequent Pinzgauerisch zu reden. "Ko jo eh Deitsch. Des vastehta scho!", heißt es dann.

So fürsorglich und kameradschaftlich das vielleicht gemeint ist, so frustrierend ist es für den, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Sprache zu lernen, die angeblich in Österreich gesprochen wird. Sprachlernende, die ohnehin schon Mühe haben, das Deutsche in der freien Wildbahn des Alltags (im Gegensatz zur gepflegten Konstruiertheit des im Klassenraum Erlernten) sinnerfassend zu verstehen, sind verwundert: Was ist das für eine Sprache, die die Menschen hier sprechen?

Über die Unterschiede zwischen dem standardisiertem Deutsch und unserem Dialekt sind wir vielleicht zu wenig im Bilde. Wir können uns nicht vorstellen, wie unsere Umgangssprache für jemanden klingt, der sich gerade Mühe gibt, das Lautinventar, die oft komplexe Satzgrammatik und die Intonation des Deutschen zu durchschauen bzw. zu erhören. Für die Sprachlernenden aber ist es eine frustrierende Erfahrung: All die Mühe, die man vor allem am Anfang in ein Sprachstudium des Deutschen steckt, scheint umsonst gewesen zu sein. Das im Klassenzimmer mühsam Angeeignete hat in der Praxis wenig bis gar keinen Wert.

Umgekehrt geht der Einheimische her und hat mit den fortlaufenden Verständnisschwierigkeiten des Zuwanderers nur wenig Nachsehen: "Der lernt's nia!", heißt es dann lapidar. Und wenn er es lernt, der Herr Gastarbeiter, dann kommt dabei ein Kauderwelsch heraus, der jenseits der Grenzen des Bezirks wenig kommunikativen Alltagsbestand haben wird. Ein schlecht gelerntes Deutsch, das sich aus Dialektversatzstücken, der Grammatik der Muttersprache und ein bisschen Hochdeutsch konglomeriert, marginalisiert mehr als es integriert. Von keinem Einwanderer, der Deutsch ohne Vorkenntnisse erlernt, kann man erwarten, dass er es eines Tages akzentfrei sprechen wird, und das soll und kann auch gar nicht Ziel der sprachlichen Integration sein. Aber man kann als Muttersprachler den Lernwilligen eine kleine Hilfestellung leisten, indem man mit ihnen so kommuniziert, dass sie nicht nur verstehen, sondern im selben Zug auch noch wiedererkennen und dazulernen. Was kostet uns das mehr als eine kleine sprachliche Mühe, die eigentlich jeder Volksschüler im Unterricht aufzubringen imstande ist?

Woran also liegt es, dass die Gebirgler mit ihren so geschätzten Saisonkräften nicht ordentlich Deutsch sprechen können oder wollen? Einerseits wird da das Berufsumfeld des Gastgewerbes ins Spiel gebracht, das es angeblich unmöglich macht, Anweisungen in verständlichem Deutsch zu geben, weil alles "ruck-zuck" gehen muss und eigentlich sowieso alles ohne Worte ablaufen sollte. Nur: Wer seinen Angestellten Anweisungen auf Pinzgauerisch zubellt, läuft eben Gefahr, nicht richtig verstanden zu werden. Das hat entweder Nachfragen zur Folge (was auch wieder Zeit kostet) oder ein Missverständnis, das dazu führt, dass die erteilte Aufgabe nicht richtig erledigt wird - was noch mehr Zeit kostet.

Viel öfter aber scheint es so, als wolle der Innergebirgler gar kein ordentliches Deutsch sprechen. Er sieht den Dialekt als eine Art Geheimsprache, deren Verwendung Zugehörigkeit signalisiert. So manifestiert sich das allseits bekannte "Mia san mia" vor allem in der Sprache. Dem Lernenden wird damit signalisiert, dass er, so sehr er sich auch bemühen mag, es eben nie lernen wird. Er wird nie dazugehören. So gut sein Deutsch auch sein mag, der Gebirgler wird ihm mit seinem Dialekt immer voraus sein. "Haha, des vasteht a nid, ge?", ergötzt sich der Bergmensch am Unverständnis des Migranten. Diese "anti-integratorische" Komponente des Dialekts wird nie wirklich übersehen. Im Gegenteil: Der Dialekt ist dem Einheimischen sein Rückzugsort, wenn es ihm in der touristischen Interaktion zu viel wird, und er sich darauf besinnen möchte, dass er etwas Besonderes ist. Schließlich kann man sich eine Lederhose und einen Hut mit Gamsbart kaufen - eine kernige Aussprache jedoch nicht. An der hat sich noch immer gezeigt, ob einer ein "Dosiger" oder ein "Zuag'roaster" ist. Und die Zuag'roasten kann man ja jederzeit wieder "ausgrausigen", wie es heißt.

Vom Märzenkalb

Jetzt ist es schon soweit: Auf derstandard.at wurde ein "Frostfrustforum" eingerichtet, wo sich die User den Frust über das kalte Wetter im März von der Seele schreiben sollen. Freilich, es ist kalt in diesen Tagen. Allerorts hört man die Leute höhnisch fragen: "Und dann heißt es Klimaerwärmung, bahaha!" Dann ziehen sie bibbernd von dannen, während sie nicht einmal bemerken, dass sie schon ihre Frühlingsgarderobe ausführen.

Es ist kalt, und darf man den Meteorologen glauben, war es um diese Zeit noch nie so kalt. "Seit Beginn der Aufzeichnungen", lautet der gewohnte Zusatz. Das hört man in letzter Zeit öfter. Wärmster Jänner ever, kältester März überhaupt, die allerverregnetsten Weihnachten seit Menschengedenken - das Wetter ergötzt sich an Superlativen und liefert uns damit Gesprächsstoff und vor allem Lamentiermaterial ohne Ende.

März, das ist einer der "Monate mit r", in denen man damit rechnen muss, eine Schicht mehr anzuziehen. Das Märzenkalb schläft nicht! "Pass auf, dass di as Mäaznkeiwi nit beißt!", heißt ein gut gemeinter Rat in Bayern. Damit ist gemeint, dass man sich ob der teils verlockend warmen Temperaturen nicht dazu hinreißen lassen soll, sich nachlässig anzuziehen. Denn überall weht der bekannte "saukalte Wind", und wehe, die Sonne versteckt sich kurz mal hinter einer Wolke, denn: "im Schatten ist es saukalt!". Aber das war ja im März immer schon so.

Ruhig Blut also! Der Frust über den Frost ist übertrieben, und wenn ich mich richtig erinnere, war es letztes Jahr zu Ostern auch saukalt. Und da war Ostern später. Die paar kalten Tage werden wir auch noch aushalten. Vielleicht sind wir nur verwöhnt von den letzten Wochen. Man hörte von Temperaturen von 18 oder gar 20 Grad (wärmster Märzbeginn ever?). Und jetzt fühlen wir uns vom Wetter ungerecht behandelt? Das Märzenkalb soll euch beißen!

Donnerstag, 7. März 2013

Eine Preisgabe


Der Mann vor mir an der Kassa hat eine zu große Jeanshose an. Seine Daunenjacke erscheint angesichts der frühlingshaften Temperaturen übertrieben. Dafür wirken seine Glatze und sein ernster Blick umso überzeugender. Das ist einer, der Ernst macht. Einer, der in der Freizeit öfters mal auf den Tisch haut oder regelmäßig jemandem die Meinung geigt. Hart sieht er aus, aber fast wirkt es ein wenig gespielt: Schließlich steht er an einer Supermarktkassa und nicht etwa vor einem Nachtklub in Hamburg. Da stimmt etwas nicht. "Was kauft so einer?", denke ich mir. Der Blick auf das Förderband an der Kasse verrät es mir: eine Familienpackung Klopapier.

Der Mann versucht also, dem Kauf von Klopapier etwas Würdevolles oder gar Lässiges zu verleihen, indem er möglichst grimmig dreinschaut. Betont cool steht er recht weit vom Förderband entfernt und schaut, während der Kunde vor ihm noch bezahlt, bedeutungsvoll in die vermeintliche Ferne des Supermarkts. In seinen Blick drängen sich ein Friseursalon und ein Stand mit Leberkässemmeln. Leberkässemmeln um einen Euro, ein Fassonschnitt für 13 Euro: Beides weckt sein Interesse nicht. Letzteres wohl wegen der Glatze nicht, ersteres, weil er jetzt keinen Gedanken an Essen verschwenden kann und mag. Denn schließlich steht er hier an einer Supermarktkasse und kauft eine Familienpackung Klopapier - und sonst nichts. Es muss also dringend sein.

Der Kunde vor ihm hat bezahlt und geht zu dem Stand mit den Leberkässemmeln. Er kauft zwei. Die Lässigkeit des Glatzkopfes erleidet einen kleinen Dämpfer, als das Förderband vergeblich versucht, das Klopapier in Richtung Scanner zu befördern. Der hintere Teil der großen Packung hängt über das Förderband hinaus und zwingt den Mann dazu, dem Klopapier einen kleinen Schubs zu geben, damit es weiterfahren kann. Eine Geste, die fast zärtlich scheint und das Getue des Mannes letztlich doch der Lächerlichkeit preisgibt. Entspannt schmunzle ich und bin zufrieden mit der Einrichtung der Welt.

Freitag, 1. Februar 2013

Probleme mit dem Klopfer


Die Dame kommt aus Fuschl am See, sagt sie. Also muss sie wohl für Red Bull arbeiten, denn was täte man sonst in Fuschl am See mit einem mitteldeutschen Akzent? Darüberhinaus hat sie das perfekte Alter für Red Bull-Mitarbeiter: nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt; nicht verbraucht - eher angebraucht wirkt sie. Ein bereits geöffnetes Red Bull, das ein bisschen in der Sonne gestanden, aber noch nicht ausgeraucht ist. Sie fährt sicher nicht mehr in einem Mini Cooper mit einer Dose auf dem Dach umher. Vermutlich ist sie Sekretärin oder eine Vertriebsmitarbeiterin - irgendwas Unspektakuläres jedenfalls. Sie muss zu jenen Mitarbeitern gehören, die der Konzern versteckt, weil sie eigentlich nicht ganz in das nach außen getragene Image passen. Sie ist keine Extremsportlerin und eben auch nicht so ein junges Blondchen, das im RB-Mini durch Großstadtevents flitzt und dabei Kombucha trinkt. Wahrscheinlich aber macht sie ihre Arbeit gut. Trotzdem wirkt sie, als hätte sie einen Didi. Einen Titi vielmehr, also im Sinne von Klopfer, Huscher, Hieb oder Klescher. Einen Didi hat sie nur als obersten Chef, den Titi allerdings im Oberstübchen.

Abgesehen von der Dame, die einen Huscher hat, obwohl sie eigentlich kompetent sein müsste oder zumindest in der Lage sein, so zu tun: Wie schreibt man "Didi/Titi"? Didi kann es nicht heißen, weil es sich dann wirklich wie der Name anhört und darüberhinaus das "D" zu weich ist für den Klopfer, den jemand hat, wenn er nicht ganz auf der Höhe ist. "Titi" allerdings schaut wieder verfänglich aus, und spricht man es aus, wie es dasteht, klingt das gar nicht nach dem Huscher, sondern ganz blöd nach "Titty" und dann müssen schlichtere Geister schon mal kichern.

Was muss man anstellen, um diesem Wort in der schriftlichen Darstellung gerecht zu werden, ohne dabei die Aussprache zu verfälschen? Ich plädiere für "Didti". Mit dem "dt" wird das zweite "d" bzw. "t" nicht zu weich und es entsteht die nötige kleine Spannung vor der zweiten Silbe, die bei "Didi" einfach nicht eintritt. Das "D" am Wortanfang ist leider nicht wegzudenken, weil Österreicher ohnehin fast nie stimmhafte Ds sprechen, und meinen, sie müssten jedes "T" aspirieren, also ein besonders deutsches T produzieren, ein hartes, mit einem Nachhauch, bei bei "Theke" (was übrigens ein besonders hässliches Wort ist). Schreib also "Didti" und die meisten werden die Aussprache erwischen, die nötig ist, um den Klopfer zu beschreiben und nicht den Herrn Mateschitz.

So wie die Dame nicht ganz in die Red-Bull-Schiene passt, passt das Wort "Didti" nicht in unser Schreibvokabular: Didti schreiben wir nicht, wir sagen es nur. Erstens, weil wir nicht genau wissen, wie wir es schreiben sollen (das Problem wäre hiermit gelöst, auch wenn es blöd ausschaut), und zweitens, weil es eben so viele Synonyme dafür gibt. Da ist der Reichtum der Sprache wieder am richtigen Platz zu finden!

Donnerstag, 24. Januar 2013

Jausengegner

Einmal wurde ich von einem Sportunkundigen gefragt, was denn ein Jausengegner sei. Ich habe meine Freude an solchen Fragen, weil es einem einerseits vor Augen führt, welche Absurditäten man für selbstverständlich hält, andererseits sieht man sich gezwungen, über solche seltsamen Wörter einmal genauer nachzudenken.

Jausengegner also... In der Tat, so ein Wort gibt Rätsel auf! Vor allem, wenn man es ohne Zusammenhang vernimmt, könnte man ja durchaus meinen, es handle sich um jemanden, der sich strikt gegen das Einnehmen von kleinen Zwischenmahlzeiten ausspricht. Man stelle sich die empörten Gesichter von solchen Jausengegnern vor, wenn diese während eines Waldspaziergangs auf rastende Wanderer treffen, die, auf einer Bank sitzend und Wurstbrote sowie Landjäger kauend ihrer Brotzeit frönen. Auch in die Diskussion über die gesunde Schuljause würden sich solche Jausengegner natürlich einmischen. "Jause - wozu?" wäre etwa der Titel eines entsprechenden Leserbriefs in einem Lokalblatt zu diesem Thema, oder auch "Weg mit der Schuljause!".

Solche Jausengegner könnten einer Diätbewegung enstpringen, die striktes Fasten zwischen den Hauptmahlzeiten propagiert. Dazu müssten aber zu den diätologischen Aspekten auch noch moralische oder zumindest weltanschauliche treten. Jausengegner könnten zum Beispiel sagen, dass das sorglose Verzehren von kleinen Häppchen (noch dazu in der Öffentlichkeit!) ein Ausdruck der Verachtung gegenüber dem hungerleidenden Teil der Weltbevölkerung wäre. Ja, es müsste der herablassende Charakter des Jausnens hervorgekehrt werden. Jausnen, so müsste der Jausengegner betonen, sei keine naturnotwendige Tätigkeit, sondern entspringe vielmehr der Gier nach Luxus, der kapitalistischen Nahrungsmittelüberproduktion etc. und sei somit kategorisch abzulehnen. "Jausnen, pfui!", müsste allerorts plakatiert werden. Darüberhinaus sollte ein Jausenverbot gefordert werden, die Verbannung abgepackter Weckerl und überhaupt der Verkauf diverser Semmerln an der Wursttheke usf.

Nun, über die tatsächliche Bedeutung des Wortes Jausengegner habe ich den Unkundigen aufklären können, jedoch nicht ohne zu bemerken, dass die Verwendung des Wortes "Jause" in ebendiesem Kompositum gleichzeitig etwas Geringschätziges gegenüber der Brotzeit ausdrückt. Man könnte demnach fast glauben, das Wort "Jausengegner" wäre von den Jausengegnern selbst erfunden worden. Aber da beißt sich die Katze wieder in den Schwanz, und weil das weh tut, muss man solche Überlegungen rechtzeitig abbrechen.

Mittwoch, 9. Januar 2013

Pfeifenberger hält Maß

Eine von Pfeifenbergers ausgesuchten Vorlieben ist jene für Miniaturen. Pfeifenberger ist nämlich ein Mann, der sich seine Vorlieben, Hobbys und Passionen sehr genau aussucht. Er hegt und pflegt sie so wie andere Pflanzen oder Tiere hegen und pflegen. Dabei ist er ein Mann des Mittelmaßes, weswegen der Begriff „Passion“ schon beinahe zu viel ist und eigentlich zu keiner von Pfeifenbergers Vorlieben wirklich passt. Er behält gern die Übersicht und daher hält er sich nur wenige Interessen, und diejenigen, die er verfolgt, hält er sozusagen an der kurzen Leine. Nie hätte ihn eine seiner Vorlieben dazu getrieben, etwas Unüberlegtes oder gar Dummes zu machen. Auch Unvernünftigem sieht er sich nie ausgesetzt, so wie etwa ein passionierter Sammler für ein ihm besonders begehrenswert erscheinendes Objekt eine horrende Summe Geld zahlen würde. Nein, Pfeifenberger kennt seine Grenzen, denn er hat sie ja selbst gesetzt!

Die Vorliebe für Miniaturen allerdings, so unauffällig sie zunächst scheinen mag, ist eine tief gehende. Sie umfasst viele – wenn nicht sogar alle – Lebensbereiche; doch wenn man nicht um sie weiß, sie würde einem gar nicht auffallen. Manche, die davon wissen, haben sich schon an allerlei psychologischen Erklärungen versucht. „Der Pfeifenberger ist halt selbst ein kleines Mandl, der mag kleine Dinge, weil ihm die großen Angst machen!“, hört man etwa die Leute sagen. So naheliegend derlei Interpretationen auch sein mögen, so ungenügend ist doch auch ihre Erklärungsleistung. Wir wollen uns auch hier nicht lange mit den Gründen für Pfeifenbergers Vorliebe aufhalten; ich aber glaube, es hat etwas damit zu tun, dass Pfeifenberger eben gerne den Überblick hat. Als gebürtiger Innergebirgler ist er es gewohnt, von Anhöhen und Bergesgipfeln aus sich den Blick über die große Welt zu behalten. So hält er es auch mit der Lebenswelt. Dies zeigt sich nicht nur bei der sorgfältigen Auswahl seiner Vorlieben, sondern auch an seiner kargen Einrichtung, seiner Sparsamkeit beim Einkaufen und dem generellen Maßhalten bei Essen und Trinken.

Vor allem was das Trinken betrifft, ist Pfeifenberger nach Ansicht der ihm bekannten Leute ein recht kauziger Genosse. Obwohl es eigentlich die Art der Innergebirgler ist, große Mengen an Alkohol in sich hinein zu schütten, wird man Pfeifenberger nie auch nur mit einem großen Bier erwischen. Abgesehen davon, dass er sowieso wenig trinkt, trinkt er auch nur in kleinen Portionen. Ein Seitel Bier ist ihm da oft schon zu viel – lieber hat er einen Pfiff. Dem Wein kann er höchstens zum Essen etwas abgewinnen, und auch da trinkt er ihn nur, wenn er ihn bereits als Zutat verwendet hat. Schnaps trinkt Pfeifenberger nur in Ausnahmefällen bzw. aus „medizinischer Notwendigkeit“, wie er es nennt. Wenn ihn der Magen drückt, greift er gern zum Nussschnaps, den er immer bei einem Lungauer Bauern kauft. Im Lokal lässt er sich nur ungern einladen, aber wenn, dann weiß ein jeder, dass der Pfeifenberger nur Kalmus trinkt. Denn auch der wirkt beruhigend auf Geist und Körper. „Nur keine Aufregung!“, das ist die Pfeifenberger'sche Devise und also trinkt er niemals Vodka oder Rum. Nicht pur und schon gar nicht mit irgendwelchen Mixgetränken.

Manche Leute meinen, der Pfeifenberger würde den Kalmus und den Nussschnaps sowieso nur deswegen trinken, weil ihm das kleine Schnapsglas so gefiele. Da mag etwas dran sein, denn auch am Pfiffglas gefällt ihm nicht nur die kleinere Portion Bier, sondern eben auch die „Haptik und Optik“, so er, des kleineren Glases. Vulgär würde es aussehen, müsste der Pfeifenberger ein Halbeglas (oder gar ein Mass!) jedes Mal zum Mund stemmen, wollte er daraus trinken. Es würde aussehen, als hätte ihm jemand etwas zu Fleiß getan, und Pfeifenberger wäre darüber auch gewiss nicht glücklich! „Eine Halbe, das ist ja pervers“, soll er einmal gesagt haben als ihm jemand eine solche spendieren wollte. Niemals wird man Pfeifenberger am Oktoberfest Masskrüge heben sehen, und dieses Faktum allein beweist schon die grundrichtige Geordnetheit unserer Welt.

Nicht nur, was die Größe des Glases anbelangt, ist Pfeifenberger eher ein Mann des Maßhaltens statt des Masshaltens (ein derartig dümmlicher Wortwitz sei dem Berichtenden hier ausnahmsweise erlaubt): Auch was die Wahl der Getränke anbelangt, lobt Pfeifenberger sich die Miniatur. So ist sein eigentliches Lieblingsgetränk der Radlerpfiff. Man merkt schon: Der Pfeifenberger ist kein ungeselliger Mensch, aber übertreiben will er es deswegen auch nicht! An manchen Abenden verzichtet Pfeifenberger gänzlich auf Alkohol. Stattdessen trinkt er Limonade oder Apfelsaft. Sollte er dabei auf eine besonders gesellige Runde stoßen, die sein analkoholisches In-der-Bar-Stehen als Dreistheit empfinden, gibt er dem Wirt seines Vertrauens ein Zeichen, worauf ihm dieser quasi im Geheimen ein Schlossgold einschenkt. Je geselliger und fordernder die Runde, desto unwahrscheinlicher ist es, dass einem dieser Kniff (auf den Pfeifenberger besonders stolz ist, wie er einmal verraten hat) auffällt. Das aber ist freilich bloß eine Notlösung, denn das alkoholfreie Bier wird in der betreffenden Kneipe nur in Halbliterflaschen ausgeschenkt. Der Wirt füllt dem Pfeifenberger das Schlossgold zwar in ein Seitelglas, aber es bleibt doch immer noch ein Pfiff in der Flasche zurück, der nach einiger Zeit zum sogenannten „Hansl“ wird – einem letzten, abgestandenen und schier ungenießbaren Bierrest, den nur Alkoholiker oder ganz Verzweifelte zu trinken vermögen. Davon nimmt Pfeifenberger freilich Abstand.

Manchmal, wenn Pfeifenberger die ihm unzuträgliche Einrichtung der Welt beklagt, meint er: „Das ideale Getränk für mich, das wäre ein Schlossgold-Soda-Radler-Pfiff.“ Dabei ignoriert er das überraschte Gesicht seines Gegenübers und fügt seufzend hinzu: „Aber wer schenkt das schon aus?“ Und wenn er das sagt, dann schaut er, als ob es kein Morgen gäbe, und für einen kurzen Moment erwischt man sich selbst dabei, über eine solche Tatsache ein wenig Traurigkeit zu verlieren. „Komm, trink noch einen Apfelsaft, ich lade dich ein!“, sagt man dann und hofft, dass es ihn aufmuntert. „Nein danke. Mir ist eh schon schlecht“, wird er dann antworten und an schlechten Tagen heimgehen. An guten Tagen aber lässt er sich zu einem Kalmus überreden. Und wenn dann das kleine Schnapsglas vor ihm steht, sieht man seine Augen wieder ein wenig funkeln.