Samstag, 25. August 2012

Arge Vermutungen

Am Wegesrand liegt Müll. Niemand will ihn da hingeworfen haben. Er ist wohl von selbst dorthin getragen worden, oder vom Wind, dem Wind, dem himmlischen Kind. Beim Müll handelt es sich um eine schnöde Chips-Packung, aus der wohl gierige Münder genascht haben. Sie glänzt in der Sonne, was nicht allein dem Material geschuldet ist, aus dem solche Sackerl gemeinhin gemacht werden. Auch die fettigen Finger der fleißigen Esser haben ihre Spuren auf der Packung hinterlassen. So liegt das Sackerl am Wegesrand und glänzt edel vor sich hin.

Nun mag man allerhand Spekulationen anstellen über den Ursprung dieses Chips-Sackerls. Wer hat es gekauft, wer gegessen und wie kam es am Wegesrand zu liegen? Niemand wird behaupten, es absichtlich dort hingelegt zu haben. Überhaupt „legt“ niemand irgendeinen Müll irgendwohin. Müll wird immer weggeworfen. Zwar wirft man ihn selten in hohem Bogen davon (etwa aus dem fahrenden Auto, obwohl auch das vorkommen soll), aber zumindest lässt man ihn achtlos fallen. Achtlos ist dieses Chips-Sackerl wohl also einer fettigen Hand entglitten. Und, da es einmal unten lag, bemühte sich niemand mehr darum, es vom Boden aufzuheben. Vielleicht ertönte noch ein keckes Kinderlachen ob dieser Dreistigkeit, dieser fälschlicherweise (in Kinderaugen) als rebellisch verstandenen Achtlosigkeit. „Hehe!“, machte das Kind wohl und schlich verstohlen von dannen.

Aber nun bin ich schon in die erste Interpretationsfalle gegangen, da ich annehme, es müssen unbedingt Kinder gewesen sein, die dieses Umweltverbrechen begangen haben. Kein Erwachsener, sagt mir mein blauäugiger Verstand, wird es fertig bringen, eine leere Chips-Packung einfach so wegzuwerfen! Ich nehme das Corpus Delicti als Indiz für unreifes Verhalten bzw. kindliche Dummheit, anstatt es als jene unbedachte Rotzigkeit eines erwachsenen Menschen zu verstehen, die es vielleicht war. Womöglich hat sich sogar ein feiner Herr oder eine feine Dame diesen Aplomb geleistet? Ich werde es nie mit Sicherheit wissen können.


Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass es genau so war:
Eine Gruppe Araber schlurft durch die Stadt: Drei Männer, fünf Frauen, acht Kinder. Kinder und Männer schreien durcheinander, Frauen murmeln unter ihren Schleiern Unverständliches. Die Kinder werden mit ungesundem Essen ruhig gestellt, in diesem Fall mit Chips, welche sie binnen kürzester Zeit aufgegessen haben. Die Chipstüte wird weggeworfen, und zwar auf dem Boden, nur wenige Meter von einem Mistkübel entfernt. Frauen und Männer sehen zu und sagen nichts, weil ihnen das Konzept Mülleimer unbekannt ist und sie das zu Hause genauso machen.

Grauenhaft, diese vorurteilsbelastete Vermutung, nicht? Wie gesagt, nie werde ich wissen können, ob ich damit Recht behalte. Aber dass auf dem Chips-Sackerl arabische Schriftzeichen zu finden sind, stützt meine Spekulationen schon wesentlich...

Freilich kann es aber auch besagter feiner Herr gewesen sein, der sich bisweilen (weil seines Zeichens Kartoffelchips-Connaisseur) an fremdländischen Spezialitäten versuchte. Von den arabischen Chips unbeeindruckt, ließ er die Packung angewidert fallen. Den Rest erledigten die nun sehr durstigen Spatzen. Ja, auch so könnte es gewesen sein! Welcher Annahme man nun folgen will, bleibt jedem selbst überlassen...

Dienstag, 14. August 2012

Bergauf Bremsen

Ich wohne, so glaube ich, auf einer Anhöhe. Manche behaupten auch, ich würde „am Berg“ wohnen. Beides ist eigentlich nicht richtig. Denn im Grunde wohne ich in einem Tal, am Fuße eines Berges. Aber Tal klingt nach „niedrig“ und Berg klingt nach „hoch oben“. Die Wahrheit liegt, wie immer, irgendwo dazwischen – das gilt besonders im Gebirge.

Irgendwer hat einmal gesagt, die Straße, die zu meinem Haus führt, habe eine 34-prozentige Steigung. Das heißt, dass auf einer Strecke von 100 Metern 34 Höhenmeter zurück gelegt werden. Ich bin kein Zahlen-Mensch, mir sagt das überhaupt nichts. Obwohl 34%ige Steigungen schon recht anständige Steigungen sind, klingt die Zahl 34 alleine nach nicht viel. Sagen wir: Es geht anständig bergauf. Oder sagen wir so: Wenn Sie einmal betrunken meine Straße hinauf gegangen sind, machen Sie es freiwillig kein zweites Mal – außer aus perverser Selbstüberschätzung.

Ich würde meine Straße nicht als Bergstraße bezeichnen, obwohl sie zu einem solchen hinführt und die eben genannte Steigung besitzt. Große Teile dieser Straße sind in ihrer Neigung ohnehin unspektakulär; dort aber, wo mein Haus liegt, wird es happig! Da fangen die Mountainbiker erst richtig zu schwitzen an, da gehen die deutschen Wanderer immer schon rückwärts den Berg runter und wenn ein Belgier oder Holländer mit dem Auto vorbei fährt, riecht es entweder nach Bremsen oder Kupplung – je nachdem, ob er gerade von unten oder oben kommt. Womit wir auch schon beim Thema wären: Dem Autofahren auf Straßen mit großer Neigung bzw. Steigung.

Holländer und Belgier müssen hier nicht ganz umsonst als Beispiele der niedrigsten Form des Gebirgfahrers herhalten, stammen doch beide Völker aus Gegenden, die uns nicht ob ihrer spektakulären Gebirgszüge bekannt sind. „Halt, halt!“, will da der Opapa sprechen, “In Belgien gibt es doch die Ardennen!“ (Das war da, wo man im Dezember 1944 die Alliierten im Zuge der Ardennenoffensive noch mal so richtig erschreckte.) Ich halte dagegen: Was die Belgier aus der Ardennen-Region den Holländern in punkto Bergfahren eventuell voraus haben mögen, büßen sie aufgrund ihres (völlig gerechtfertigten) Rufes als schlechteste Autofahrer Europas wieder ein. Also: Holländer und Belgier können auf Bergstraßen ziemlich gleich schlecht Autofahren. Damit aber die Benelux-Brüder auf diesem Gebiet nicht so ganz alleine die Buhmänner abgeben müssen, schließe man vorsichtshalber ganz Deutschland auch noch mit ein (und nehme, wie man es in Österreich immer macht, die Bayern davon aus). Selbstverständlich lassen sich auch manche Slowaken, Polen oder Wiener dazu zählen – ein eindeutiges Bild lässt sich hier sowieso nicht zeichnen, aber mit Holländern, Belgiern und Deutschen als Beispielen fährt man schon recht gut...

Man kennt die Tragödie des Bergabfahrens vor allem, wenn man das Pech hat, einem solchen Talent hinterher fahren zu müssen. Das erste, was man als Hintermann am vorderen Fahrzeug bemerkt, sind die nie erlöschenden Bremslichter: Der naive Glaube an die Allmacht der Bremse beseelt den Fahrzeuglenker aus dem flachen Land und verlässt ihn nicht mehr, bis er wieder geraden Boden unter den Rädern hat. Das dauerrrote Bremslicht steht auch für das blanke Entsetzen, das den ungeübten Bergfahrer ergreift, sobald sich sein Fahrzeug in Bewegung setzt, ohne dass er dazu das Gaspedal drücken muss. Er sieht sich der fremden Zaubermacht der Schwerkraft ausgeliefert, die sein Auto erbarmungslos den Hang hinunterzieht – und gegen die nur das besagte Kraut der Fußbremse gewachsen zu sein scheint. Dabei macht der Fahrzeuglenker eine seltsam paradoxe Entdeckung: Zum ersten Mal bewegt sich sein Vehikel schneller, wenn er den rechten Fuß vom Pedal wegnimmt, anstatt es fester zu drücken. Er muss feststellen, dass er mit dem Bremspedal das Fahrzeug beschleunigen kann – nämlich, indem er es loslässt (Perdauz!).

Die Angst vor der Schwerkraft und die Verwirrung, die durch das Bremspedal-Paradoxon entsteht, hinterlassen ihre Spuren in den Gesichtern der Fahrer. Wenn man das Vergnügen hat, einem herunterkommenden Flachland-Bergfahrer in das Gesicht sehen zu können, erblickt man meistens weit aufgerissene Augen, und dort, wo sonst der Mund sitzt, klafft ein schwarzes Loch des Schreckens. Hinter einem dergestalt Paralysierten fahren zu müssen, ist jedoch ein Geduldspiel der grausamsten Art. Man hat auch viel Zeit zu überlegen, und so stellt man sich vor, wie der Vordermann in seinem Fahrersitz sitzt, beide Hände fest an das Lenkrad geklammert. Hat er vielleicht den ersten Gang eingelegt und die Kupplung durchgedrückt? Oder hat er vielleicht den dritten Gang drinnen und fährt schön untertourig, indem er den Motor mit der Bremse nah an den Kollaps bringt? Hat er vielleicht überhaupt keinen Gang drinnen und lässt das Auto fröhlich im Leerlauf den Berg hinunter rollen, sich vor dem sicheren Unfall nur mit der Bremse bewahrend? Ich weiß es nicht, ja eigentlich will ich es gar nicht wissen, denn ich warte nur auf die nächste Kurve, nach der ich ihn dann endlich überholen kann!

Dass dieses meist ein Wunschtraum bleibt, ist ebenfalls der übertriebenen, von purer Angst gefütterten Vorsicht geschuldet, die den Fahrer vor mir fest im Griff hat: Zur Angst, ungebremst den Berg hinunterfahren zu müssen, gesellt sich offenbar die noch diffusere Furcht vor dem Randstein oder der Leitplanke. Als würde es ehernes Gesetz sein, dass einem in der Mitte der Straße am wenigsten passieren kann, orientiert sich der verängstigte Urlauber am (imaginären) Mittelstreifen der Fahrbahn. Als würde ihn ausreichender, übergroßzügiger Seitenabstand zum Gehsteig noch zusätzliche Sicherheit garantieren, schleicht er nun mitten auf der Straße – scheinbar immer langsamer werdend – den Abhang hinunter, während ich im Auto hinter ihm laut schreie, ihn Körperteile schimpfe und (vielleicht völlig ungerechtfertigt) der Imbezilität bezichtige. Solcher Rage Herr zu werden ist unmöglich und daher schuf Gott die Autohupe...

Doch nicht nur das Bergabfahren von Benelux-Bürgern ist Grund für die zahlreichen Sorgenfalten, die meine Stirn schon zeichnen – auch der umgekehrte Fall bringt Schwierigkeiten mit sich. Nicht wissend, wohin sie fahren müssen, bleiben besagte Gäste beim Bergauffahren auch sehr vorsichtig und schleichen entsprechend die Bergstraße empor. Hinter diesen Kandidaten befinde ich mich dauernd auf der Suche nach dem richtigen Gang, der zu der Geschwindigkeit des vor mir Fahrenden passen will. Denn mein zweiter Gang ist zu hoch-, der dritte aber zu niedertourig, was mich zu der Frage führt, welchen Gang denn der Volltrottel vor mir eingelegt haben könnte. Ich lasse in solchen Fällen gern das Fenster runter, um zu lauschen, ob der Motor vor mir eher heult (2. oder gar 1. Gang) oder vor sich hin gurgelt (3. Gang). Die Erkenntnis ist in beiden Fällen erschreckend und dient eigentlich nur dazu, meine Neugier zu befriedigen. Ich gebe zu, ich bin an Dummheiten allgemein interessiert und klassifiziere diese gerne nach Schwachsinnigkeiten, Unsinnigkeiten, Stumpfsinnigkeiten, allgemeinen und speziellen Blödheiten sowie Unerhörtheiten. Der Katalog ist beliebig ausbaubar, aber nicht zu streng ausgelegt, weil es sich bei den allermeisten Arten von Dummheit um grenzüberschreitende Phänomene handelt – denn wie wir wissen, kennt die Dummheit ja keine Grenzen!

Bergauf fahrende Urlauber sollte man vor allem in der Nähe von Parkplatz-Einfahrten im Auge behalten. Abruptes Abbremsen droht hierbei nicht nur direkt vor einer Einfahrt, sondern vor allem auch kurz danach und – der Teufel schläft nie – dort, wo weit und breit keine Einfahrt zu finden ist. Beliebte Haltegelegenheiten sind zudem unübersichtliche und steile Kurven; vor allem im Winter wird hier gerne angehalten, um zum Beispiel Schneeketten auf den Sommerreifen zu montieren, oder vielleicht nur, um zu sehen, ob der Mercedes mit Heckantrieb auch bei Glatteis im Steilen aus dem Stand so galant anfährt wie sonst. (Tut er übrigens meistens nicht!)

Dies und vieles andere lässt sich beim täglichen Aus- und Einfahren in meiner Straße beobachten und beschimpfen. Was mir allerdings bis vor kurzem auch neu war: Das Bremsen beim Bergauf-Fahren. Um es genauer zu sagen: Das Bremsen während des Bergauf-Fahrens. Ich spreche nicht davon, wie ein übermütiger Führerschein-Neuling vor der 90-Grad-Kurve von 80 auf 30 km/h herunterbremst, weil ihm die Steigung des Berges in diesem Fall zu wenig Hindernis ist. Ich meine ein Auto, das sich, zwar langsam, aber stetig, den Berg hinauf quält, dessen Bremslicht aber immerzu leuchtet! So gesehen jüngst bei einem Holländer, der mir bewies, dass praktische Dialektik auch mit Dummheiten zu praktizieren ist. (Und nein, das Bremslicht war nicht defekt!)

Bergauf Bremsen möchte ich eine oxymorische Kunst nennen: Es ist ein Sinngebungsprozess, der in sich widersprüchlich ist, gleichzeitig natürlich über sich selbst hinaus-, letztlich aber auf nichts Bedeutendes hinweist, sondern einfach den Gipfel der Dummheiten als Synthese aller Lächerlichkeiten darstellt. Ich habe Demut vor diesem Unterfangen, denn ich wüsste nicht, wie ich es praktisch anstellen sollte. Diesen Holländer aber, der mich mit seiner Leistung so verblüffte, dass ich wohl das ungläubig-panische Gesicht eines touristischen Bergab-Fahrers angenommen haben muss, nenne ich den größten praktischen Philosophen und Zyniker seit Diogenes im Fass, und, um auch seinem Land die Treue zu halten, den größten Ethiker seit dem Niederländer Spinoza. Denn wenn Sparsamkeit eine Tugend ist, dann ist bergauf Bremsen die tugendhafteste Handlung überhaupt. Vorausgesetzt – und hier liegt die Krux dieses dialektischen Unterfangens – hinter dem Bergauf-Bremser befindet sich kein Einheimischer. Aber natürlich, mein leidendes Hinterherfahren als Zeuge dieses Weltgeistes an Dummheit ist von größter epistemologischer Relevanz, habe ich doch schließlich dieses Wunder mit meinen eigenen Augen wahrgenommen. Anders könnte ich auch nicht davon berichten, es sei denn, ich lüge – aber wer würde mir das schon glauben?

Bergauf Bremsen (ich kann meine Gedanken nicht davon lassen): das ist die hohe Kunst der Selbstzurücknahme, beinahe die Grenze zur Selbstaufgabe und -auslöschung überschreitend. Es ist autofahrerische Demut im Gewand der motoristischen Unmöglichkeit. Vor allem ist es ein ewiges Geheimnis für den ortskundigen Bergfahrer – ein widernatürliches Wunder, Zeuge einer modernen Magie der Berge und Pate für eine Psychologie der Unmöglichkeit. Es ent-setzt einen, weil es das Gegenteil einer Setzung ist, die ultimative Aufhebung ebenjenes Dogmas, dass man bergauf nicht bremsen muss oder soll. Bergauf Bremsen ist ein Lebensgefühl, das ich nie kennenlernen werde. Bergauf Bremsen ist außerdem ein praktisches Konzept unbeschwerter Dummheit. Davor kann man nur tiefsten Respekt haben – und daher muss die Hupe schweigen!