Montag, 28. November 2011

"Bist du das?" (Verwechslungskomödie im Dritten Rang)

Wir stehen im Foyer des Schauspielhauses und ich halte nach dem mir sonst so verhassten Theaterpublikum Ausschau. Nur diesmal finde ich es nicht. Ein paar Schüler in Mittelschul-Abendgarderobe, das heißt zu große oder zu kleine Sakkos bei den Burschen, die ersten Stöckelschuhe bei den Mädchen, in denen sie zu gehen noch nicht ganz gelernt haben. Ein Mittdreißiger, der seine Freundin oder Frau ins Theater ausführt: Auch er hat, wie wir, die billigsten Karten gekauft (3. Rang!) und hofft auf einen unvergesslichen Theaterabend. Doch wenig überschminkte und überparfümierte ältere Damen in Pelzmänteln, auch höre ich wenig österreichisches Städter-Deutsch, jene Sprache, deren Sprecher meinen, sie klängen besonders elegant und gebildet, wobei sie doch eigentlich nur arrogant und kleingeistig klingen.

Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, dass nicht mehr typisches Theaterpublikum anwesend ist. Aber immerhin wird ja heute Thomas Glavinic gespielt und kein Thomas Bernhard oder – publikumstechnisch noch schlimmer – Schiller oder Shakespeare. Es wird ein – im Vergleich zum typischen Theaterpublikum - „junger“ Autor gespielt, der nicht unter den Verdacht der übermäßigen Intellektualität fällt, was vermutlich nicht nur ihm, sondern auch mir als Theaterbesucher ganz recht ist. Auch versucht er sich nicht als ein solcher zu inszenieren, was er vielen seiner Zeitgenossen voraus hat. Nach Lektüre seines Romans „Das bin doch ich“ erwartet man sich von der Bühnenversion etwas Frisches, Kabarettartiges, ein wenig Klamauk, vor allem aber Humor, damit den Schülern und auch uns, die wir allesamt schon lange nicht mehr im Schauspielhaus gewesen sind, das Theatergehen nicht ganz so schwer fällt.

Wer schon einmal im „3. Rang“ des Grazer Schauspielhauses gesessen ist, weiß, dass man dort oben erstens keine Höhenangst haben darf, zweitens gute Augen braucht und drittens auf Sitzkomfort keinerlei wert legen sollte. Aber zum Studentenpreis von 7 Euro wird man sich auch nicht beschweren dürfen. Wir sitzen in der ersten Reihe und wenn wir uns ein bisschen über die Brüstung schieben, sehen wir fast die ganze Bühne. Einzig jener Teil der Lichtanlage, der hier vom dritten Rang die Bühne erleuchtet, blockiert mir die Sicht auf den halbrechten Bühnenrand. Solchen Einschränkungen begegnet man am besten mit Arroganz („Brauch ich eh nicht“) oder altösterreichischem Alltagsfatalismus („Man kann eben nicht immer alles haben“). Ich tröste mich außerdem damit, dass ich auf meinem Sitzplatz die Arme auf die Brüstung legen und so in der Art eines Thomas Bernhard betont gelangweilt dem Geschehen auf der Bühne beiwohnen kann. Bernhard lümmelte bekanntlich gerne bei den Proben seiner Stücke im Burgtheater in der Loge. Dort ließ er sich zu bösen Texten über das Burgtheater im Allgemeinen, und die Burgtheaterschauspieler im Besonderen inspirieren. Die waren nämlich seiner Meinung nach alle schlecht. Außer die, die gut waren, und nur diese durften seine Stücke spielen.

Im Theater ostentativ lümmeln: Das wäre meine persönliche Rache am gespreizten Theaterpublikum. Dass davon heute zu wenig da sind, wurmt mich jetzt wieder ein bisschen. Dafür deutet der Mittdreißiger, den ich mit seiner Freundin zuvor im Foyer gesehen habe, auf mich. Leider kann ich seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob er seine Begleitung etwas entrüstet darauf aufmerksam macht, dass hier jemand lümmelt, oder ob er mir neidig ist, dass ich meinen Kopf auf ein sanftes Ruhekissen aus Ärmeln betten kann, welches, von der Brüstung gestützt, den komfortabelsten Theatergenuss verspricht, den der dritte Rang zu bieten hat. Gut, dass er nicht sieht, wie ich meine Beine zwischen Sitz und Brüstung quer legen muss, um meinen Oberkörper nahe genug an den Balkon zu bekommen. Mit Komfort hat das nämlich wenig zu tun. Aber man gewöhnt sich daran, so wie man sich im Flugzeug an die zu engen Sitze gewöhnt, schon allein deswegen, weil man keine andere Wahl hat.

Warum sind wir eigentlich hier? Weil Thomas Glavinic uns in seinen Roman hineingeschrieben hat und wir deswegen neugierig sind, wie die Szene auf der Bühne verarbeitet wird. Aitzerl, der Kellner aus jenem Grazer Lokal, das der Szene im Buch als Vorbild dient, hat gesagt, dass, wenn er sich selbst als Figur auf der Bühne entdeckt, er im Theatersaal aufspringen und „Das bin doch ich!“ schreien wolle. Was zunächst nach einer ganz witzigen Idee geklungen hat, wirft jetzt, da wir tatsächlich im Theater sitzen, doch einige praktische Fragen auf. Was, wenn ihn gar keiner hört, weil dieser Satz vom dritten Rang gerufen vermutlich akustisch gar nie seinen Weg ins Parterre findet? Und falls doch: Wie soll der Rest des Publikums den aufgesprungenen Aitzerl erkennen? Von unten sieht man doch über den Balkon des dritten Rangs gar nicht drüber. Vielleicht ließe sich noch ein empört erhobener Finger erkennen. Aitzerl müsste sich, um erkannt zu werden, den Oberkörper auf die Brüstung legen und nach unten schauen, dem Foyerpublikum geradewegs in die erstaunten Gesichter. Und dazu müsste er einen Finger fuchtig nach vorne strecken. Dann allerdings würden die Theaterbesucher im Parterre womöglich glauben, er versuche sich an einer Nachstellung dieser Türkenfigur, die sich aus einem Sims des Palais Saurau in der Sporgasse lehnt. Und wenn sie ihn dann sehen, was dann? Hören die Schauspieler zu spielen auf? Erwartet Aitzerl sich Zurufe wie „Was, echt?“, „Oag!“ oder „Geil!“? Über solche Dinge sollte man sich aber gar keine Gedanken machen. Das große „Was dann?“ hat ja schon zu viele gute Ideen im Keim erstickt.

Das Stück fängt an wie eine Lesung. Nach etwa zwei Minuten vergesse ich, dass es sich um ein Theaterstück handelt und folge gespannt dem Text, den der Schauspieler, der Thomas Glavinic darstellt, vorliest. Ein wenig enttäuscht bin ich dann, als das Stück dann tatsächlich los geht, als die Figur Thomas Glavinic die Lesung unterbrechen muss, weil ein Teil der Bühne auf einmal von selbst nach oben fährt. Schade, jetzt ist die Lesung vorbei... Und das mit der Bühne, naja. Aber irgendwie muss es doch „anfangen“. Recht schnell verwandelt sich das Stück in eine irre Achterbahnfahrt durch den Alltag eines allzu menschlichen Autors, der sich von Dusche zu Dusche und von einem alkoholischen Getränk zum nächsten hantelt, während er dazwischen von allerlei lästigen Mitmenschen belagert und genervt wird. Das ganze ist auf der Bühne höchst unterhaltsam umgesetzt: Das Leben als permanentes Kasperltheater der sozialen Unannehmlichkeiten. Die Verdichtung von Raum und Zeit und die Zusammenführung von realem Geschehen und Innenleben der Hauptfigur auf der Bühne lässt den Theaterbesucher die allgegenwärtige beklemmende Lästigkeit der Welt sehr gut nachempfinden. Wir werden gut unterhalten und freuen uns schon auf die Szene, die in dem Grazer Lokal spielen soll.

Dann ist es soweit. Thomas Glavinic (also die Figur) befindet sich in Graz und geht zu einer Ausstellung seines Freundes Erwin Michenthaler in dieses Grazer Lokal: Wir, die Theaterbesucher, die sich sonst aus eben jenem Lokal kennen, in welchem Thomas Glavinic vor Jahren gewesen sein soll, was wir damals nicht gewusst haben, was uns aber eben jener Erwin Michenthaler bestätigt hat, sitzen im dritten Rang des Grazer Schauspielhauses. Tumult auf der Bühne, Glavinic (die Figur!) ist im Lokal, er wird angetanzt und betatscht und eine Frau kreischt „Child in Time“ von Deep Purple. Die Frau, die hier dargestellt wird, kennen wir natürlich und sie hat jahrelang nicht gewusst, dass sie in einem Roman vorkommt. Heute ist sie im Theater nicht dabei (also als Figur schon, aber nicht als Zuseherin). Ich glaube, sie ist beleidigt. An dem Abend, an dem sie erfahren hat, dass sie eine Roman- und Theaterfigur geworden ist, war sie erstens böse auf Aitzerl, weil er ihr das nie gesagt hat. Der Roman ist immerhin bereits 2007 erschienen. Zweitens war sie böse auf Thomas Glavinic („Was glaubt denn der eigentlich? Darf denn der das? Dem werd ich was erzählen!“). Wir haben ihr gesagt, sie soll mit uns ins Theater gehen und dann bei der Lokal-Szene selbst aufstehen und zu schreien beginnen, damit die Leute wissen, wer das wirklich ist. Hat sie aber nicht gemacht. Deswegen haben wir heute nur einen dabei, der aufspringen und „Das bin doch ich!“ schreien kann – den Aitzerl.

Das soll bei der Armdrück-Szene passieren, in der Thomas Glavinic (die Figur) mit Tolya (die Figur von Aitzerl) Arme drückt. Gleich muss es soweit sein. Jemand schreit auf der Bühne „Armdrücken!“ und man sieht, wie die Figur des Thomas Glavinic mit zwei anderen Figuren gleichzeitig armdrückt. Was soll das? Das passt jetzt überhaupt nicht in die Szene! Der soll doch mit Tolya Arm drücken! Aitzerl sitzt aufrecht und unschlüssig in seinem Sitz am dritten Rang und starrt auf die Bühne hinab. „Jetzt!“, rufen wir ihm zu. Auf der Bühne rangeln die Figuren armdrückenderweise mit einander. Gleich wird das vorbei sein. Mir ist die Szene immer noch rätselhaft. Im Buch war das irgendwie einleuchtender. Das Gerangel auf der Bühne ist völlig deplatziert. Etwa so deplatziert wie jetzt ein Aufspringen und „Das bin doch ich!“-Rufen von Aitzerl wäre. Doppelt deplatziert nämlich. Erstens, weil es sich nicht gehört und zweitens, weil es gar nicht stimmt.

Die Figuren lösen sich von einander, der Glavinic-Schauspieler stolpert rückwärts. Wen die beiden anderen Schauspieler gerade dargestellt haben, lässt sich schwer sagen. Einer davon muss Tolya, also Aitzerl, gewesen sein. Vorbei, die Szene ist vorbei. Es ist zu spät. Eigentlich ist gar nichts passiert, wir sind immer noch völlig überrascht davon, dass die Armdrück-Szene so ganz anders dargestellt wurde. Und wir fragen uns, was sie in dieser Form auf der Bühne verloren hat. Etwas ratlos schaue ich zu Aitzerl rüber, der in diesem Moment aufspringt und schreit: „Aber das war doch gar nicht ich!“

Der Glavinic-Schauspieler richtet seinen Blick kurz in das Dunkel des Raums. Auf die Idee, dass der Satz vom dritten Rang gekommen sein könnte, kommt er gar nicht. Er hat sich nur leicht aus dem Konzept bringen lassen und setzt seinen Monolog gleich wieder fort. Ein paar ältere Damen (Theaterpublikum! Endlich!) im Parterre blicken sich suchend um, schauen in die Logen und wissen gar nicht, wie falsch sie da liegen. Der Mittdreißiger und seine Freundin lachen kurz, Aitzerl dreht sich entrüstet zu ihnen um und sagt aufgebracht: „Aber das hätt doch ich sein sollen!“ Ein paar andere Zuseher auf dem dritten Rang schütteln die Köpfe, eine Dame hinter Aitzerl sagt im reinsten Städter-Deutsch: „Geh, setzen’s Ihnen wieder hin!“ Aitzerl bemerkt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, die Nicht-Identität zwischen Figur und ihm festzustellen, und setzt sich wieder. Den Rest des Stückes verfolgt er Fingernägel kauend.

„Blöd war das“, sind wir uns dann im Foyer einig. Die Armdrück-Szene wurde nicht zu unserer Zufriedenheit dargestellt. „Ich hätt auch nicht aufspringen sollen“, sagt Aitzerl ein wenig geknickt. Wir sagen ihm, dass es gut und richtig gewesen wäre, aufzuspringen, wenn er, Aitzerl, in der Figur des Tolya tatsächlich auf der Bühne aufgetreten wäre. Aber so war es halt ein bisschen seltsam. Die Feststellung eines Zuschauers, so der Konsens, dass es sich bei der Figur auf der Bühne NICHT um ihn handelt, hat einfach keinen Exklusivitätsanspruch. Das könnte ja jeder von sich behaupten und zwar bei jedem Stück. Und das Stück heiße nunmal „Das bin doch ich!“ und nicht „Das bist doch du!“.

Auf dem Weg in das nächstgelegene Lokal, in das wir gehen, um den doch sehr gelungenen Theaterabend zu beschließen, denke ich mir, wie das für Thomas Glavinic gewesen sein muss, als er das Stück zum ersten Mal gesehen hat. Wer, wenn nicht er, hätte die Lizenz zum „Das bin doch ich!“-Schreien? Aber wenn dann ein Autor, der Thomas Glavinic heißt, in einem Stück sitzt, das auf einem Roman basiert, den er über einen Autor, der Thomas Glavinic heißt, geschrieben hat, und dann dem Schauspieler, der die Figur Thomas Glavinic spielt, zuruft, dass das doch er, nämlich Thomas Glavinic selbst, sei, dann hat mir das persönlich zu viele Ebenen, auf denen sich jeweils mindestens zwei Katzen gegenseitig in den Schwanz beißen. Und das wäre dann lächerlich und deswegen hat das Thomas Glavinic wohl auch nicht gemacht. Dann lieber ein Kellner, der sich selbst im Stück wider Erwarten NICHT wieder erkennt, und dann betroffen feststellt: „Aber das bin doch gar nicht ich!“

Montag, 21. November 2011

Der Schöpfer

Jemand schuf ziemlich am Anfang Himmel, Erde und alles, was es sonst noch so zu bestaunen gibt. Diesen jemand nennen wir den/die SchöpferIn. Nennen wir ihn doch einfachheitshalber den Schöpfer und denken uns die Schöpferin mit. Weil ohne das Wort „Schöpfer“ funktioniert dieser Text nicht so richtig.

Was mich zunächst ein wenig verwirrt, ist, dass der Schöpfer gar nicht schöpft, sondern vielmehr schafft. Es heißt ja, dass er „schuf“, und nicht, dass er „schöpfte“. Trotzdem sprechen wir von einem Schöpfer und nicht von einem Schaffer. Vielleicht, um nicht unabsichtlich von einem „Schaffner“ sprechen zu müssen; vielleicht aber auch deswegen, weil, wer viel schafft, irgendwann erschöpft ist und am siebenten Tage ruhen muss. Der Schöpfer ist demnach der Erschöpfte und viel weniger der Erschaffene, denn dann hätte er sich ja selbst erschaffen und eine solche Vorstellung bringt uns ganz schnell in die größten ontologischen Schwierigkeiten. Ja hat denn den Schöpfer wer erschaffen? Das sind Fragen, die man nicht fragen darf. So wie die Physiker das nicht mögen, wenn man fragt, was vor dem Urknall war. Dann sagen sie entweder „nichts“ oder „alles“ oder „etwas“, aber erklären können und wollen sie es einem nicht. Und könnten sie es, so würde man es eh gar nicht wissen wollen.

„Hol mir doch mal den Schöpfer aus der Lade“ ist ein Satz, den man in einer Küche zu hören bekommt. Der Schöpfer also ruht seit seinem Schaffen erschöpft in einer Schublade und wartet darauf, herausgeholt zu werden – und zwar zum Zwecke des Schöpfens und nicht des Schaffens. Denn mit dem Schöpfer in der Küche schöpft man Essen aus Pfannen auf Teller. Zum Beispiel Schupfnudeln. Da wird der Schöpfer zum Haushaltsgehilfen, zum einfachen, aber praktischen Küchenwerkzeug. Soviel also zur Frage, was der Schöpfer nach der Schöpfung gemacht hat. Er ruhte sich in einer Küchenlade aus.

Aber auch wir werden manchmal zu wahren Schöpfern und Schöpferinnen. Entweder, wenn wir fleißig sind und viel arbeiten und uns noch dazu in gewissen Regionen Österreichs befinden. Dann wird nämlich von uns behauptet werden, dass wir „urdentlich schepfn“. In Deutschland heißt das in gewissen Regionen „malochen“. Wir kennen, dem Schöpfer sei Dank, auch noch das Wort „hackeln“, weswegen es bei uns zur Hacklerregelung kam und nicht zur „Schepferregelung“. Dieses Wort ist allein deswegen schon hässlich, weil man es so lesen kann, dass „Schepf-erreglung“ daraus entsteht. Und „erregelung“ klingt furchtbar; das „Schepf“ davor, macht es nicht besser. Dann lieber Hackl.

„Schnee schepfn“ als österreichisches Pendant zum piefkenesischen „Schnee schippen“ (was wissen die schon davon?) begegnet uns in der Winterzeit sehr häufig. Witzigerweise klingt, transkribiert man die dialektale Wendung ins Hochdeutsche, die damit beschriebene Tätigkeit höchst unglaubwürdig. Vgl. die Wendungen „ich schöpfe Schnee“ oder „sie schöpft Schnee“. Denn auch die „Schneeschöpfung“ ist ein Vorgang, der schon lange vor unserer Zeit vom Schöpfer erledigt wurde und um die wir uns keine Sorgen mehr machen müssen. Trotzdem sind wir vom vielen Schöpfen des Schnees bald erschöpft bzw. vollkommen geschafft.

Der Schaffende schöpft, der Schöpfer schafft. Oder auch: Der Schaffner schafft, die Schnepfe schöpft; doch was schuf eigentlich der Schuft? Irgendwie werden wir aus diesem ganzen Wortwirrwarr nicht schlau. Wer sich allerdings mit dem Gedanken des Schöpfers in der Küchenlade so gar nicht anfreunden mag, dem sei angeraten, zum Schöpfer in Zukunft „Kelle“ zu sagen. Und mit der kann er oder sie dann sogleich Schnee schippen gehen. Nach Hamburg, auf die Autobahn. Mit Kalle.

Sonntag, 20. November 2011

Dienstag, 15. November 2011

Herbstobst und Heine

Im traurigen Monat November war’s
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber. 

Das schrieb Heinrich Heine irgendwann einmal in Paris. Es ist der Beginn zu seinem sehr langen Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen. Warum Heine ausgerechnet im November nach Deutschland reisen wollte bzw. wie er darauf kam, dass irgendwer im November größere Reiselust verspüren und sich dann als Destination ausgerechnet Deutschland aussuchen würde, bleibt rätselhaft. Im November reist man nicht, und wenn, dann in wärmere Gefilde, wo auch die Tage nicht so trübe sind und es Bäume gibt, von denen höchstens Pinienzapfen oder Kokosnüsse fallen.

Wir machen es uns im traurigen Monat gerne daheim gemütlich. Besser gesagt: Wir versuchen es uns so gemütlich wie möglich zu machen, und das im Drinnen, weil das Draußen uns von Tag zu Tag unwirtlicher wird. Obwohl das heuer auch nicht ganz richtig ist. Der diesjährige November verhöhnt uns mit Sonnenschein bis zu den Mittagsstunden, um dann schon am frühen Nachmittag dämmrig zu werden. Wir flüchten alsdann in schummrig beleuchtete Kaffeehäuser, in die bereits geöffneten Glühweinschenken oder bleiben zu Hause und blicken traurig aus unseren Fenstern, in die wir verzweifelt Aromakerzen stellen oder depressives Herbstobst legen.

Zu Mittag aber sieht man noch viele Menschen im Stadtpark mehr oder weniger fröhlich ihre Herbstspaziergänge erledigen. Studenten machen Fotos von den am Boden liegenden Blättern des Ginkgo-Baums, weil die so schön gelb sind. Andere stellen sich in einen Laubhaufen, werfen Blätter in die Höhe und lachen, wenn ihnen das Laub auf Kopf und Mantel fällt. Sie hoffen, dasselbe in zwei Monaten mit Schnee machen zu können. Auch davon wird es wieder Fotos geben. Es werden die selben wie letztes Jahr sein. Herbst 2010, Herbst 2011, Herbst 2012...

Der Rest ist Traurigkeit. Schon zu Beginn des Novembers gedenkt man der Verstorbenen, steht andächtig und ob der manchmal noch warmen Temperaturen schwitzend am Friedhof. Es will doch der neue Herbstmantel ausgeführt werden, auch wenn es tagsüber noch 20 Grad hat. Die Tage aber werden trüber, die Gedanken auch. Also stürzt man sich in die Arbeit oder liest die erbaulichen Werke des diesjährigen Bücherherbstes.

Bald schon, wenn die Adventszeit beginnt, werden die düsteren Gedanken aber von den vielen Lichtern und der Weihnachtsmusik verscheucht. Da beginnt wieder unser aller liebster „Stress“ im Jahr und wir haben ohnehin keine Zeit mehr, um Trübsal zu blasen. Ich frage mich, was die Menschen früher gemacht haben. Es muss eine furchtbare Zeit gewesen sein, die Monate zwischen November und Februar. Deswegen hat man wohl auch alles mit religiösen Ritualen voll gestopft – einerseits aus Angst, den Winter nicht zu überleben, andererseits, um die bösen Geister zu vertreiben.

Heutzutage rettet man sich mit Glühwein- und Kaufrausch sowie mit allerlei Absonderlichkeiten wie Kekse backen oder Betriebs-Weihnachtsfeiern ins neue Jahr. Jeder, der diese Zeit noch „besinnlich“ nennt, ist sich der Ironie seiner Rede bewusst. Manch einer nennt es auch „berinnlich“ und kichert dabei blöde, obwohl die Wahrheit, die in diesem Kalauer steckt, die bitterste ist. Die Weihnachtszeit ist überhaupt nicht besinnlich; auch nicht die Vorweihnachtszeit. Wenn, dann ist es die Zeit vor der Vorweihnachtszeit: der traurige Monat November nämlich. In dem ist der Mensch ganz auf sich selbst „zurückgeworfen“, wie es dem größten Existenzialisten das reinste Vergnügen wäre.

Die Verzweiflung darüber, mit sich selbst nichts anfangen zu können bzw. die Ratslosigkeit dem eigenen Dasein gegenüber ist der Nullpunkt der menschlichen Erfahrung. Und diesen Nullpunkt erreichen wir immer so in der Mitte des Novembers, weswegen uns der Vorweihnachtsfirlefanz sehr gelegen kommt. Auch, wenn wir es nicht gerne zugeben. Also können die Glühweinstände gar nicht früh genug aufsperren, die Nikoläuse am besten schon ab Oktober wie die reinsten Ölgötzen in den Lebensmittelgeschäften stehen und die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen ist uns zwar energieökonomisch verdächtig, kommt uns aber gerade recht, wenn wir bereits um drei Uhr Nachmittag auf ansonsten dunklen Straßen herumschlurfen müssen.

Sollten wir in diesen Tagen auf die Idee kommen, eine Reise zu machen, wir würden bestimmt nicht nach Deutschland fahren wollen, wie es dieser Heine anscheinend einst getan hat. Und wenn, dann besuchen wir den Nürnberger oder den Augsburger Christkindlmarkt. Auf jeden Fall einen Christkindlmarkt in einer mittelalterlichen Stadt, wo es guten Lebkuchen und ansonsten die gleichen Punschstände und ein ähnliches Weihnachtsbrimborium wie auch bei uns gibt. Obwohl wir dann eigentlich auch gleich daheim bleiben könnten... Am Fenster. Mit Duftkerze und Herbstobst.

Dienstag, 8. November 2011

Zeller Weisheit

"Wonnst da bam Trinkn bam auffizöhn schwaa tuast, muasst hoit vuahea scho wissn, wüvü dassd saufst, nocha kohst vo do weg ochazöhn!"

Sonntag, 6. November 2011

Wenn es "wildelt"

Am Abend gab es Hirsch. Der Koch wurde gelobt, weil der Hirsch nicht "gewildelt" hat. Das habe nichts mit dem Kochen zu tun, so der bescheidene Koch abwehrend, sondern damit, wann der Hirsch geschossen wurde. Brünftige Hirschen "wildeln" mehr. "Aha, jaja", machen die Gäste. Von wem er den Hirsch habe, und ob der gewildert wäre, fragt man den Koch scherzhaft. Ich sage, dass es gewildert wohl besser schmecke als gejagt. Der Koch und die Gäste lachen. Das müsse ich als Schmittinger wohl am besten wissen, sagt mir mein Gegenüber augenzwinkernd.

Der Dessertwein ist gut. Ein Kracher, sagt man mir. Ich finde, das ist übertrieben. Dann eröffnet sich mir, dass damit das Weingut gemeint ist. Weingut Kracher, Illmitz, Burgenland. "Achso!", mache ich in mich selbst hinein und amüsiere mich über meine diesbezügliche Ahnungslosigkeit. Der Kracher sei schon gestorben, heißt es - leider. Aber der Wein schmeckt immer noch ausgezeichnet. Weltruhm habe er mit dem Süßwein erlangt.

Den Grappa lassen wir Jungen aus. Stattdessen trinken wir Vodka lemon. So jung, so dynamisch. Mit Red Bull könne ich es nicht mehr trinken, meine ich. Da schlafe ich schlecht. Mein Gegenüber überrascht mich mit der Aussage, dass er gern Red Bull trinke. Er sagt "ein Red Bull" und das, obwohl er damit nicht aufgewachsen ist, so wie ich. Ältere Leute sagen ja oft "einen Red Bull", weil der Bulle ja männlich ist. Dieser ältere Herr überrascht mich also doppelt. Ich sage, ich würde das "nicht mehr" erleiden und trinke es eigentlich nur noch beim Autofahren. Das lange Ennstal, jaja. Schrecklich alt komme ich mir jetzt vor, weil ich kein Red Bull mehr erleide, - mein Gegenüber aber sehrwohl und auch seine Frau trinke es gern, wie sie mir versichert.

Die Gastgeberin erzählt, wie sie den Koch kennengelernt hat. Also eigentlich ihren Mann, der für diesen Abend der Koch ist. Beide waren sie Schilehrer damals. Sie eine Anwärterin, er schon ein gestandener Schilehrer. Eingestaubt habe er sie alle und lässig dagestanden sei er. Seinen Kollegen, der die Ausbildung geleitet hat, habe er gefragt, was für Hasen dieser heute parat hätte. Unsympathisch sei das gewesen. Aber später habe er ihr einmal geholfen, als sie mit den Kindern beim Schlepplift war und alle Hände voll zu tun hatte. Das habe der Kollege nicht gemacht, der sei nur dagestanden und habe gegrinst. Es zahlt sich also doch aus, wenn man einmal nett auch ist und nicht nur lässig dasteht. Später haben sie sich dann auf einer Schihütte wieder getroffen. Beim gemeinsamen Runterfahren, sagt der Koch, habe er dann gewusst, dass er sie jetzt habe. "Die hab ich", hat er sich gedacht. Alle lachen, weil es eine schöne Geschichte ist und sie so schön erzählt wurde.

Beim Dessert habe ich dann Dessertwein, Kaffe und Vodka lemon vor mir stehen. Aber auch diese Kombination schmeckt gut. Man muss es ja im Mund nicht mischen. Und im Magen kommt ja bekanntlich eh alles zusammen. Die Jugend meint, dass früher alles besser gewesen sei. Wir (also die Vodka-lemon trinkende Jugend) klingen neidig, weil die Älteren so tolle Geschichten erzählen. Es klingt alles so heimelig und spannend zugleich. Ganze Gruppen von Schihaserln seien da immer gekommen, aus Schweden, Holland und Dänemark. Fesch! Heute kommen ja nur mehr die dicken Engländerinnen - was haben wir es schlecht! Nein nein, früher sei auch nicht alles so rosig gewesen, versichert man uns. Man erinnere sich halt nur an die schönen und lustigen Sachen. Dass aber früher alle rauschig Auto gefahren sind, das stimme schon. Und beim Schifahren habe keiner einen Helm getragen. Heutzutage geht das ja nicht mehr. Die Technologie! Alles schneller, viel mehr Leute. Und rücksichtslos sind die! Deswegen gehe ich immer nur in der Früh, sage ich. Ja, da sei es auch am schönsten, bestätigt man mich.

Diese Gegend ist voller unhingehbarer Wahrheiten, denke ich mir. Das ist gut, aber auch schlecht. Einerseits ist das irrsinnig konservativ. Wobei, wenn hier etwas konserviert wird, kann das ja so schlecht auch nicht sein. Andererseits nimmt auch keiner die Wahrheiten so wahnsinnig ernst. Der Witz stirbt zuletzt und wer zuletzt lacht, der muss ein Schnapserl mehr trinken.

Dumm ist auch, wenn man sagt, etwas sei gut, aber auch schlecht. Mein Vater erzählt mir öfter, dass ich als kleiner Bub beim Spazierengehen einmal einen Kuhfladen nachdenklich betrachtet habe. Anscheinend habe ich dann gesagt, dass es schon interessant sei, dass überall, wo etwas Schlechtes ist, auch etwas Gutes sei. Mein Vater hat sich über mich gewundert. Ich habe mich über die Fliegen gewundert, die die Kuhscheiße so interessant fanden. Gut, aber auch schlecht. Was denn nun? Ich weiß es bis heute nicht. Und will mich auch nicht entscheiden. Wie sagt man hier? Es hilft eh nix. Oder: wenn's nicht hilft, schadet es auch nix. So wie Topfenwickel oder Essigpatscherl.