Donnerstag, 26. Juli 2012

Kitzbüheler Tennis-Rundschau

Impressionen vom Kitzbüheler Bet-at-home-Cup (ATP 250) am Montag und Dienstag


Der Klescher und der Bauer

Es klescht, wenn Dominic Thiem aufschlägt, und zwar gleich drei mal: Zuerst, wenn sein Schläger den Ball trifft; dann, wenn der Ball im Aufschlagfeld aufspringt (da staubt es auch gleich ordentlich) und das dritte Mal, wenn der Gegner versucht, den Ball zu retournieren. Beeindruckend, der junge Österreicher, der in Kitzbühel gegen den Slowaken Martin Klizan ein sehr ordentliches Match abliefert! Leider muss er sich im dritten Satz 5:7 geschlagen geben: Nach einem unglaublichen Ballwechsel, den er noch gewinnen kann, wird Thiem von Krämpfen geplagt und plötzlich klescht der Aufschlag nicht mehr. Mit Mühe wurstelt Thiem noch drei Aufschläge ins Feld, diese aber gleichen eher den Tomatenbällen des Italieners Filippo Volandri, der aufschlägt wie ein Schuljunge. Ein gefundenes Fressen für den auf Nummer 5 gesetzten Klizan, dem es schon unbequem geworden war in diesem Match. Klizan gewinnt das Spiel, den Satz und das Match. Wie er das gemacht hat, weiß keiner so recht. Nur Günter Bresnik, der obergescheite Trainer von Thiem, weiß es ganz genau!

Dieser erklärt nach dem Match beim Interview, dass er so etwas von seinem Schützling nicht erwartet hätte. Anscheinend habe Thiem konditionelle Probleme, so Bresnik. Er sei enttäuscht von der Leistung Thiems und ihm sei gänzlich unklar, wie man so eine Partie noch aus der Hand geben könne. Ein Trainer also, der über das Leistungspotenzial seines Schützlings entweder zu wenig informiert ist, oder dieses maßlos überschätzt hat? Oder einfach nur ein Wichtigtuer, der in bäuerlichster Manier seinem Protegé vor Publikum die Leviten liest? Professionalität sieht jedenfalls anders aus. Das Publikum quittiert Günter Bresniks emotionalen Stammtisch-Kauderwelsch mit Buh-Rufen, bevor Bresnik seinerseits sarkastisch den erhobenen Daumen zeigt. „Suppa sats!“, wird er sich gedacht haben. „Ein Bauer bist!“, hat sich wohl das Publikum gedacht.


Die Gulbis-Show

Ernests Gulbis geht die Grundlinie auf und ab, immer wieder in das Publikum stierend. Seit dem ersten Spiel scheint er sich nicht wohl zu fühlen. Kein Wunder, muss er doch gegen Lokalmatador Andreas Haider-Maurer ran, der von den eher spärlich besetzten Rängen in bester Stammtisch-Manier angefeuert wird. „Geht scho, Andi!“ - „Gemma, Andi!“ - „Supa, Andi, supa!“ und mein persönliches Highlight der Grenzdebilität: „Vamos, Ändy!“ (Wirklich? Ändy? Vamos? Come on...)

Haider-Maurer schlägt immens stark auf. Aber Gulbis, der bisher einzige tatsächliche Vertreter eines ATP-Niveaus, kann sich auf den Aufschlag einstellen. Er retourniert Haider-Maurers erste Aufschläge souverän und attackiert die zweiten geradezu unwirsch. Den ersten Satz verliert er noch, den zweiten kann er knapp für sich entscheiden, im dritten geht Haider-Maurer 1:6 unter.

Was dazwischen passiert, sorgt bei den meisten im Stadion für Unverständnis. Gulbis legt sich mit dem Publikum an, Gulbis macht Mätzchen, Gulbis schimpft mit sich selbst, Gulbis raunzt Ballkinder an. „Buh!“, sagt das Kitzbüheler Publikum. Mir gefällt es insgeheim, weil es hier endlich Theater zu sehen gibt. Und gutes Tennis obendrein! Im Fernsehen sieht man es oft nicht so genau, aber der Niveauunterschied zwischen einem potenziellen Top-20-Mann und einem, der ewig zwischen Platz 80 und 120 der Weltrangliste rauf- und runter paternostert, ist, gelinde gesagt, schlagend! Gulbis ist ein Vertreter ersterer Spezies, und davon der erste, den ich beim Turnier in Kitzbühel verfolgen kann; insofern stört es mich überhaupt nicht, dass er sich hier keine Freunde macht. Noch dazu scheint er nicht hundertprozentig fit zu sein – er lässt ich am Ende des zweiten Satzes immer wieder an der Schulter behandeln.

Nach dem Match bemüht sich Gulbis um Schadensbegrenzung. Wie ein Schuljunge (ein anderer Typ Schuljunge als Volandri!) steht er beim On-Court-Interview und entschuldigt sich, dass er den „local guy“ nach Hause schicken musste. Er hoffe aber, dass die Unterhaltung gut war. Kein Wunder: Dieser Mann kommt aus einer Schauspielerfamilie!


Der Kornspitzbub

Eines muss man Alexander Antonitsch zu gute halten: Seine latente Unbekümmertheit (die oft pathologisch wirkt) trägt manchmal auch unerwartete Früchte. Seine Idee des „Spiel deines Lebens“ ist zum Beispiel so eine Frucht. Über 4.000 Leute bewarben sich um einen Platz an der Seite von Philipp Kohlschreiber im Kitzbüheler Doppelbewerb. Acht davon wurden zu einem Tie-Break-Shootout geladen, in welchem sich der junge Oberösterreicher Stephan Tumphart durchsetzte. Dieser Hobby-Spieler, der zuletzt im „Kornspitz-Cup“ erfolgreich war, durfte nun zusammen mit der Nummer 21 der Welt am Platz stehen. In der ersten Runde ging es gegen Nadal-Bezwinger Lukas Rosol aus Tschechien und den Argentinier Horacio Zeballos.

Philipp Kohlschreiber tat sich unter diesen Bedingungen schon vor dem Match als guter Sportsmann hervor. Freilich, ihm war der Doppelbewerb wahrscheinlich nicht wirklich wichtig, aber immerhin ließ er sich zu diesem „Crowd-grooming“ überreden und so war das ganze eine witzige und eigentlich auch überaus interessante Aktion. Wie würde ein Amateur auf ATP-Level mithalten können?

Um dies zu beobachten, musste man sich auf dem Grandstand einfinden, wo zu Beginn dieses Matches schon ungewöhnlich viele Leute Platz genommen hatten. Würde der 20-jährige Tumphart überhaupt ein Aufschlagspiel durchbringen können? Wie würde er die Aufschläge der Profis retournieren? - alles Fragen, die Tumphart schon nach drei Games beinahe mit Gleichmut beantwortet hatte. Zwar hörte man noch beim einen oder anderen Service-Return ein überraschtes „Boah!“ aus dem Mund des TU-Studenten, sein erstes Aufschlagspiel aber brachte er souverän durch. (Den ersten Doppelfehler im Match machte übrigens Kohlschreiber.) Kohli unterstützte seinen Partner mit Tipps und kleinen Aufmunterungen, wenn Tumphart bei einem Ballwechsel das Nachsehen hatte – was weniger oft der Fall war, als man geglaubt hätte. Der erste Satz ging für die beiden knapp mit 5:7 verloren. Das war's dann wohl – dachte man und verließ den Grandstand.

Wenig später, zurück auf dem Centercourt, hörte man die Durchsage, dass das Unglaubliche wahr geworden war und Kohlschreiber/Tumphart tatsächlich den Sieg davon getragen haben. Im Champions-Tiebreak besiegten sie Rosol/Zeballos 10:5 und zogen damit in die zweite Runde ein! Die ATP zeigte sich ratlos, denn niemand kannte den Mann, der da an der Seite von Philipp Kohlschreiber spielte. Ebenso ratlos muss Tumphart selbst gewesen sein – denn er selbst hätte wohl am wenigsten geglaubt, dass er eine Chance auf den Sieg hat.

Alex Antonitsch muss eine Freude haben, denn seine Aktion war ein voller Erfolg. Fraglich ist nur, ob diese Freude auch Philipp Kohlschreiber teilt. Denn dieser muss am Donnerstag unter Umständen drei Mal auf den Platz: Einmal, um sein am Mittwoch angefangenes Spiel fertig zu spielen, danach stünde schon die nächste Runde an. Und nun muss er ja – entgegen aller Erwartungen – Doppel auch noch spielen! Kohli wird’s mit Fassung und dem gewohnten Sportsgeist tragen. Und der Kornspitzbub Stephan Tumphart hat noch ein weiteres Spiel seines Lebens – denn nun geht es gegen die als Nummer eins gesetzte Paarung Knowle/Cermak.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Sepp Rasser

„Sepp Rasser? I don't know a Sepp Rasser! I am Moslechner!“ Der Mann, der das sagt, fuchtelt abwehrend mit den Händen als wolle er mit dieser ganzen Sache am liebsten gar nichts zu tun haben. Der arabische Kunde beugt sich etwas über den Ladentisch, als habe er das Fuchteln als Einladung zum Näherkommen verstanden: „But man next door tell me you are Sepp Rasser!“

Der vermeintliche Sepp Rasser steht jetzt ganz an der Wand seines kleinen Trachtengeschäfts. Dort, an der Wand hinter der Kassa, hängen einige Kinderlederhosen und -dirndln. Würde man ihn fotografieren, mit seinem lichten Schnauzbart und den kleinen schwarzen Augen, sähe der Mann jetzt aus wie ein belgischer Pädophiler auf Alpenurlaub. Dem Araber fällt so etwas natürlich nicht auf. „You have dress for girrl?“ fragt er, noch eindringlicher als er vorher nach Sepp Rasser gefragt hat. Nun dringt aus dem hinteren des Raums ein hektisches Abrakadabra. Eine der fünf Frauen hält ein Dirndl hoch und es sieht aus, als würde sie damit anzeigen, dass sie es war, die geredet hat. Für den Sepp Rasser hinter dem Ladentisch wäre das nämlich nicht zu erkennen gewesen, tragen doch alle Frauen einen Schleier vor dem Gesicht.

Wütend dreht sich der Araber um und schreit irgendetwas in Richtung seiner Frau. Er scheint beleidigt zu sein, dass die Frau zuerst gefunden hat, wonach sie gesucht haben. „You show!“ sagt er zum Sepp Rasser, der eigentlich Moslechner Alois heißt, und zeigt dabei auf ihn. Ängstlich kommt der Alois aus seiner Ecke hervor und wuselt hinter dem Araber her. Drei Kleinkinder haben begonnen, die kleinen Stoffmurmeltiere, die pfeifen, wenn man sie drückt, zu betätigen. Indessen sind die arabischen Frauen in aufgeregtes Geplapper verfallen. Nacheinander werden alle Dirndln herausgezogen, die der Alois in seinem nicht allzu großen Geschäft hängen hat. Das Pfeifen der Plüschmanggerl sticht dem Alois schon in den Ohren als einer der drei Buben – oder ein vierter? - auch noch die Kuhglocken findet, die der Moslechner Alois schon seit den frühen 80ern im Geschäft hängen hat, und die sich damals noch gut verkauft haben; bis der Markt eben irgendwann gesättigt war, oder die Leute begriffen haben, dass sie mit einer Kuhglocke daheim im Grunde gar nichts anfangen können und dass auch das ästhetische Wohlempfinden beim Anblick einer solchen nur eine kurze Halbwertszeit hat.

Das Gebimmle, Gepfeife und Geplapper muss der Alois jetzt dulden, denn er ist schon längst nicht mehr Herr über seinen Laden. „What price for this?“ fragt der Araber streng, und der Alois greift schnell nach dem Preisschild. Es hat ihm vor ein paar Tagen jemand gesagt, dass Araber gut Ziffern lesen können, weil wir die von ihnen gelernt haben. Seitdem zeigt der Loisl den arabischen Gästen immer nur Preisschilder, um Missverständnissen vorzubeugen. Ein anderer Araber, der an einer kleineren Kuhglocke interessiert gewesen war, hat ihn zum Beispiel einmal nach dem Preis gefragt. Da hat der Loisl die Kuhglocken noch nicht beschriftet gehabt und dem Araber gesagt „Thirty two!“, worauf der Araber entgegnete: „Aha! But I only want one! So one fifteen?“ Der Rest des Gesprächs verlief nur weniger umständlich und nötigte den Alois dann ohnehin dazu, den Preis auf einen Zettel zu schreiben.

Der Araber inspiziert das Preisschild des Dirndls; auch die Frauen schauen neugierig darauf, während im Hintergrund weiter die Murmeltiere pfeifen und die Kuhglocken bimmeln. Als das Bimmeln aufhört, wird der Loisl misstrauisch und schaut kurz über seine Schulter. Eines der Kinder hat sich einen Filzhut aufgesetzt und rennt damit bei der Tür hinaus. Auch der arabische Vater merkt, was passiert ist und lässt einen lauten Fluch los. Sofort erscheint der Bub wieder in der Türe. „What price for hat?“ Der Loisl stürmt zum Hutregal, kommt mit einem Filzhut zurück und hält ihn dem Araber vor die Nase. „I buy“, sagt der Araber kurz und deutet dabei auf seinen Sohn. Auch die anderen beiden haben nun von den Murmeltieren gelassen und drehen jetzt an den Postkartenständern. Wieder sagt eine der Frauen etwas, wieder kann der Loisl nicht ausmachen, welche es gewesen ist.

Der Araber deutet auf das Dirndl, zieht die Augenbrauen hoch und sagt: „Discount!“ - Es ist keine Frage. Der Moslechner Alois antwortet: „No discount“, und klingt dabei fragend. „But I buy hat!“ sagt der Araber aufgebracht. - „Yes, but no, but...“ Wieder flucht der Araber etwas und die Frauen brechen in erneutes Gegacker aus. „You don't give discount?“, die Stimme klingt jetzt sanfter. „I don't have discount!“ entgegnet der Moslechner entschuldigend. „But you can give discount, no?“ - diese Frage verwirrt den Alois jetzt.

„No discount!“, sagt er mit Nachdruck. Der Araber brummt. „I take this and hat“, sagt er und hält ihm eines von den Dirndln hin. Der Moslechner Alois nimmt das Dirndl, wundert sich darüber, wie jemand ein Dirndl kaufen kann, ohne es vorher anzuprobieren, entschließt sich aber dazu, lieber keine weiteren Fragen zu stellen.

Wieder pfeift ein Murmeltier. Einer der Buben hat das Interesse an dem Postkartenständer verloren und ist zurück zu den Plagegeistern. „What's this?“ fragt der Araber und deutet Richtung Murmeltiere. „Äh... a Manggei!“ sagt der Loisl in Ermangelung der passenden englischen Vokabel. „Is animal, ha? Live here?“ - Der Araber scheint auf dem richtigen Weg zu sein, deswegen nickt der Loisl heftig. „I take!“ sagt der Kunde und schreit etwas Grimmiges, worauf der kleine arabische Junge mit dem Murmeltier zur Kassa gelaufen kommt. „So I take this, this and hat. No discount, ha?“, auf dem Gesicht des Arabers zeigt sich ein fast ironisches Lächeln. Da muss der Loisl blöd grinsen und lacht: „No discount!“, worauf sich das Gesicht des Arabers gleich wieder verfinstert. Der Postkartenständer quietscht und taumelt unter den immer wilder werdenden Drehungen, die er, angetrieben von den Händen des kleinen Arabers, zu vollführen hat.

Als der Loisl das Geld des Arabers nimmt, klatscht ein Päckchen Ansichtskarten auf den Boden. Der Vater stürmt zum Postkartenständer, hält diesen abrupt an, worauf sich weitere zwei Päckchen auf dem Boden verteilen. Laut fluchend scheucht er das Kind aus dem Laden. „I am sorry!“, sagt der Araber, „no, passt scho!“ der Loisl.

Nach Erledigung des Zahlungsgeschäftes fragt der Kunde noch ein letztes Mal „You are not Sepp Rasser, no?“ und lacht ein bisschen. Gut aufgelegt, weil er ein gutes Geschäft gemacht hat und die scheinbare Bedrohung dabei ist, sich zu verziehen, sagt der Loisl erleichtert: „No, I am not Sepp Rasser.“ - „But man next door say you Sepp Rasser!“ Der Araber wirkt verwirrt und auch der Loisl schaut sein Gegenüber verblüfft an. „I was talking to man next door. I ask who sell Austrian dress for women. He tell me: Sepp Rasser!“ (Tatsächlich ist es nämlich so, dass der Bruder vom Moslechner Alois, der Moslechner Rupert, gleich nebenan ein Spezialitätengeschäft führt.)

Der Araber fährt in seiner umständlichen Erklärung fort: „I tell him I want to go to Moslecker! He say that he is Moslecker, but for dress I have to go to Sepp Rasser! And he show me to go in here!“ Nun ging dem Moslechner Alois ein Licht auf. Der Araber wurde wohl wegen eines Dirndls zum „Moslechner“ geschickt und landete – durchaus folgerichtig – im Geschäft seines Bruders. Da es in einem Spezialitätengeschäft aber keine Dirndln gab, sondern nur Schweinsbäuche und ähnliches, für Araber ganz und gar unbrauchbares, musste der Bruder den Araber wohl zu ihm herein geschickt haben!

In diesem Moment erscheint der Moslechner Rupert grinsend in der Tür. Der Araber deutet auf ihn und scheint vergnügt: „Look, this man send me here!“, sagt er aufgeregt. Der Rupert kommt in den Laden herein, deutet auf den Loisl und sagt: „Ah, ei sie ju faund mei Brasser!“

Der Araber fragt: „This is Sepp Rasser?“ - „Yes!“, sagt der Rupert und legt stolz den Arm um seinen Bruder: „dis is mei Brasser!“
„See!“, ruft der Araber stolz und schaut den Alois in der überzeugendsten Weise an: „You are Sepp Rasser! But why you call yourself Moslecker?“

Auch der Rest dieses Gesprächs verlief wieder einmal nicht unkompliziert...

Donnerstag, 12. Juli 2012

Völkerverständigung

Ibrahim hat große Hände, und er kann damit Musik machen. Dauernd klatscht, trommelt und schnippt er. Uns Eingeborenen versucht er, eine uns vollkommen unbekannte Art des Fingerschnippens beizubringen und lacht sich dabei halb tot, während wir wie die ersten Affen dastehen und mit kompliziertesten Verrenkungen unserer Handknochen genau gar keinen Ton erzeugen. Ibrahim schnippt vergnügt und macht das so laut, dass es fast in den Ohren weh tut, während uns bereits die Sehnen heiß werden und immer noch kein Ton zu vernehmen ist.

Schließlich hat er Nachsehen mit uns und zeigt uns etwas anderes: Er macht ein galoppierendes Pferd nach. Auch das geht in Kuwait anders als in Österreich, wo man sich mit Händeklatschen und Oberschenkelpatschen zufrieden gibt. Ibrahim benützt den Hohlraum zwischen seinen gefalteten, großen Händen, seine Stirn, seine Brust und schließlich erst den Oberschenkel. Wie die Töne entstehen, die das Geräusch eines galoppierenden Gauls viel überzeugender nachahmen als unser Klatsch-Patsch, bleibt uns verborgen. Niemand der Anwesenden versucht sich an dem 'kuwaitischen Gaul'; alle blicken nur bewundernd den fremden Mann an, der mit uns mindestens genauso viel Freude zu haben scheint, wie wir mit ihm haben. Daheim wird er wohl erzählen, wie er die Barkultur in Österreich befruchtet hat und die dort Ansässigen mit billigen Tricks zum Staunen brachte.

Der große Bernd, ein 2 Meter 10 hoher Hüne mit langem, fettigem Haar und Indiandergesicht, meint, er müsse Ibrahims Darbietungen etwas entgegensetzen und macht den 'abgeschnittenen Daumen', jenen Volksschultrick also, der dem Zuseher vorgaukeln soll, dass man die Spitze seines Daumens beliebig verschieben könne, während es sich in Wahrheit um den Daumen der zweiten Hand handelt. Ibrahim kichert belustigt und macht ein Gesicht, als ob er den großen Bernd fragen wollte, ob er ihn verarschen wolle. „This is trick that make little kid!“, sagt Ibrahim und deutet die ungefähre Körpergröße an, die solche Kinder haben, welche derartige Kunststücke aufführen.

Der große Bernd zeigt noch einen Trick – diesmal mit dem Feuerzeug: Er hält es mit ausgestrecktem Arm vor seinen Körper, lässt eine Flamme erscheinen und führt dann das Feuerzeug langsam über seinen Kopf. Dann bläst der große Bernd einmal kurz, und wie von Zauberhand erlischt die Flamme über seinem Haupt! Ein bezeichnendes und passendes Bild, Ibrahim aber fühlt sich schön langsam nicht mehr ganz ernst genommen vom großen Bernd. Es ist auch eine traurige Angelegenheit: Da packt der Kuwaiti einen guten Schmäh nach dem anderen aus, und der Zeller kann nur mit Gags aufwarten, die ein kritisches Kleinkindpublikum bei jedem Kindergeburtstag mit erbostem Schwedenbomben-Werfen quittieren würde.

Ibrahim aber ist barmherzig und führt weiter Kunststücke vor, erzählt Witze und macht mit seinem Körper Musik. Irgendwer muss ihm jetzt Einhalt gebieten, sonst hält er uns für einen unkreativen Haufen leicht zu beeindruckender Wilder (was wir vermutlich auch sind)!

Also fasst sich der große Bernd erneut ein Herz und greift tief in die Trickkiste: „Look!“, sagt er und hält Ibrahim Zeige- und Mittelfinger vor das Gesicht. „Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder so etwas wie der abgesägte Finger!“, denke ich mir. Ibrahim schaut mehr freundlich als gespannt auf die beiden dicken Bernd-Finger. Auch er erwartet jetzt nichts Besonderes, seine Höflichkeit aber gebietet ihm, dem Bernd seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Da taucht der Bernd die Finger in sein Bier, drückt sie von innen gegen das Glas und hebt so das Bier in die Höhe. Ibrahim lacht und klatscht – damit hat er zumindest nicht gerechnet! Mit einem Ruck lässt der große Bernd jetzt das Bierglas nach oben sausen, zieht die beiden Finger raus, fängt das Glas mit der selben Hand wieder auf und leert es in einem Zug. Ibrahim tobt, alle klatschen, der große Bernd streckt die Faust gen Himmel, wie ein Boxer nach einem KO-Sieg. Sein Indianergesicht ziert ein breites Grinsen, halb von Freude, halb vom abendlichen Alkoholkonsum gezeichnet. „Give him another beer!“ ruft Ibrahim aufgeregt und legt auch gleich lachend das Geld hin. Jetzt hat ihn der große Bernd überzeugt!

Die Freude währt jedoch nicht lange, denn nachdem Ibrahim wieder ein paar Tricks vorgeführt hat, nimmt der große Bernd einen weiteren ersten und letzten Schluck von seinem Bier und wankt sodann rückwärts zur Türe hinaus. „I give up“, lässt er Ibrahim wissen und fällt beinahe in die Staude vor dem Lokal. Besorgt sieht Ibrahim ihm nach, dreht sich zu mir und sagt: „Is big man, hurt much when fall! - But good trick with beer! I will practice!“ Dann schnippt er wieder vergnügt und trommelt auf der Bar 1001 mir gänzlich fremde Rhythmen. Ein Abend der Völkerverständigung, des Kulturaustauschs und der Ehrenrettung durch einen Pinzgauer Kampftrinker geht zu Ende...

Samstag, 7. Juli 2012

Hinter einer alten Dame

Ich schleiche hinter einer alten Dame her.
Nicht, dass Sie jetzt glauben, alten Damen nachzuschleichen wäre eine geheime Passion von mir – vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Neuer Versuch: Ich trotte einer alten Dame nach. Schon besser.

Aber trotten? Trotten tun nur die, die den Kopf dazu hängen lassen, die sich selbst und die gesunde, gerade Körperhaltung bereits aufgegeben haben. Auf Trottenden lastet der Weltschmerz und es hängt ihnen nicht nur deshalb immer auch ein wenig Rotz aus der Nase. Nein, ich trotte ihr nicht hinterher, dazu bin ich zu gut aufgelegt und auch zu stolz.
Ich schreite im Grunde. Aber alten Damen kann man nicht nachschreiten, das ist unmöglich. Schreiten verlangt große, elegante Schritte; schwungvoll biegt sich da das Knie, möglichst spitz weist der nach vorne gestreckte Fuß die Richtung, im preußischen Rechtwinkel stehen Zehen und Spann des Standbeins zueinander. Der Oberkörper gleitet dahin, nur leicht unter den zügigen Schritten wippend; die Arme schwingen wie von einem unsichtbaren Federspiel angetrieben. Ach, das Schreiten: die geschwindeste und weltläufigste Art, sich fortzubewegen. Nein, geschritten bin ich auch nicht... obwohl ich es gern gewollt hätte!

Also tappte ich wohl einer alten Dame hinterher. Das Tappen erfasst das Zaghafte und Unsichere meiner Bewegungen gut und steht damit im krassen Kontrast zum Schreiten. Es nimmt dem sich Fortbewegenden aber auch etwas von seiner Würde. Tappende sind leicht auszulachen, nicht umsonst freut sich diebisch der Räuber, wenn Polizisten im Dunkeln tappen. Auch klingt es ein wenig nach kleinem Hundsvieh auf rutschigen Parkettböden, oder nach Jungkatzen auf Autodächern, sofern die da schon rauf kommen. Tappsig nennt man Welpen gern und meint das niedlich Unbeholfene ihrer Gehversuche. Nein, ein Welpe bin ich nicht, der da einer alten Dame nachhechelt, was denken Sie?

Es muss etwas sein zwischen tappen und schreiten – quasi der Gang als Oxymoron, die Fortbewegung, die Gegensätze in sich vereint und trotzdem vollkommen unauffällig daherkommt. Mein Gehen hat etwas Ungeduldiges – das hat seine Ursache in dem, was dem Schreitenden bei erzwungener Langsamkeit weg genommen wird. Mein Gang hat aber auch etwas Vorsichtiges, Unsicheres, mit dem ich mich so gar nicht anfreunden will. Der Grund nämlich, warum ich hinter einer alten Dame hergehe, ist dieser: Ich befinde mich im Getümmel und an ein Fortkommen war bis vor kurzem noch nicht zu denken. Bis sich diese Dame vor mich schob, die aus irgendeiner Menschentraube heraustrat und sich nun ihren Weg Richtung Oberstadt bahnt.

Zunächst nahm ich die Alte mit Argwohn zur Kenntnis, denn Schreitende trotten nicht gerne alten Leuten hinterher (aus oben genannten Gründen). Gleich aber begriff ich, dass die Omi wundersame Kräfte zu besitzen scheint. Sie bahnt sich unbekümmert und wie selbstverständlich ihren Weg durch die ansonsten undurchdringbar scheinenden Menschenmassen. Es ist, als wichen die Leute unbewusst vor ihr zurück und ich erkenne, dass es nun zwar langsam vorangeht, aber immerhin: es geht voran! So hefte ich mich an ihre Fersen, wie man sagt, und trotte, tappe, schreite und schleiche ihr nach.

Meine Heilsbringerin scheint nichts von ihrer Gabe zu wissen. Ich hingegen blicke stolz umher, wie um in den Gesichtern der Umstehenden und Ausweichenden verwunderte Anerkennung entdecken zu wollen. Aber niemand nimmt wirklich wahr, was sich hier ereignet – sie sind wohl alle in ihrem Bann. Im Bann der Omma. Omma mit zwei M, denn sie ist deutsch. Das sieht man sofort an ihrem Ommakleid, ihren Ommaschuhen, dem Ommahalstuch und ihrer Ommafrisur. Wer glaubt, alte Leute sähen sowieso überall gleich aus, der irrt! So deutsch wie diese Omma ist keine österreichische Omama. Österreichische Omamas tragen Perlketten und riechen nach Emserpastillen und Entschlackungstee, manche mit einer zarten Lavendel- und Baldriannote. Deutsche Ommas haben silberne Brillenketten, trinken Blümchenkaffee und erzählen von Kaffeefahrten nach Polen. Sie riechen nach gar nichts oder nach Schurwolle.

In der Oberstadt angekommen lichtet sich das Treiben ein wenig und jetzt, da Platz genug wäre, bleibt die alte Dame plötzlich stehen. Für mich gibt es nun keinen Grund mehr, ihr zu folgen, ich kann endlich wieder schreiten. Als ich an ihr vorbeischreiten will, macht sie plötzlich einen Haken und stellt sich mir in den Weg. Fast wäre ich in sie hinein gerannt. Ich muss abrupt stehen bleiben und hebe abwehrend meine Hände, wie ein Fußballer, der seine Unschuld am Umfallen des Gegenspielers beteuern möchte. Die Omma sieht mich ängstlich an, ich will nach rechts ausweichen, sie geht gleichzeitig rückwärts und steht mir so wieder im Weg. Himmel, denke ich, jetzt verliere ich die ganze gut gemachte Zeit wieder, weil die Omma plötzlich wieder ganz nach Art der älteren Leute im Weg herum steht! Angestrengt lächle ich sie an, bemüht, sie durch mein Lächeln milde stimmen und sie die richtige Entscheidung fällen lassen zu können.

Da gibt sie auf, bleibt einfach stehen; mit einem langen Schritt bin ich an ihr vorbei, schreite hinfort, weg vom Getümmel, durch das mich heute die wundersame Kraft einer alten Dame getragen hat. Ein kleines, unbemerktes Wunder am Zeller Sommernachtsfest – und ich Heilsempfänger! Das kann nur ein guter Sommer werden...

Dienstag, 3. Juli 2012

Furia Oha!

Das war es dann wohl mit der Europameisterschaft. Die große Überraschung ist ausgeblieben und es sieht so aus, als wären wir nach der EM genauso schlau wie vor der EM. Ist aber nicht wahr, denn nur weil Spanien erneut Europameister geworden ist, heißt das noch lange nicht, dass seit vier Jahren fußballerisch auf der Stelle getreten wird… Zunächst aber noch ein Rückblick auf das Finale furioso, in dem die Spanier die Rangordnung wiederhergestellt bzw. bestätigt haben.

4:0 klingt nach einem hohen Ergebnis und das ist es auch. Es zeugt aber weniger von der vierfachen Überlegenheit der Spanier über die Italiener als davon, dass Italien irgendwann erkannt hat, dass es in einem Finale wenig Sinn macht, bei Rückstand noch vorsichtiger zu agieren als zuvor (hallo Kroatien, hallo Griechenland!). Es war auch nicht so, dass bei den Italienern am Sonntag nichts zusammengelaufen wäre – die wenigen guten Chancen (die man gegen Deutschland noch genutzt hatte) wurden aber vom großartigen Iker Casillas entschieden vereitelt. Mit „entschieden“ meine ich einerseits, dass es immer nur ein Finger war, der den Ball so abgelenkt hat, dass Balotelli und Co. nicht zum sauberen Abschluss kamen; andererseits heißt „entschieden“ auch, dass Casillas endlich wieder zeigen durfte, dass er wirklich einer der besten Torhüter der Welt ist. In den Partien davor musste er das nämlich gar nicht so oft beweisen. Das liegt unter anderem an der hervorragenden spanischen Verteidigung – allen voran das Duo Piqué und Sergio Ramos, der die für ihn eher ungewohnte Position in der Innenverteidigung das ganze Turnier hindurch mit Bravour meisterte.

Was ich in den restlichen spanischen Spielen noch mit Recht beklagte, nämlich, dass das Kurzpassspiel ermüdend und lästig geworden ist, zeigte sich in diesem Finale, das freilich das allerbeste Spiel der spanischen Mannschaft bei dieser Euro war, ganz anders: Da liefen die Pässe plötzlich nicht nur viel schneller und noch genauer als in den übrigen Spielen, da war auch viel mehr Bewegung drin. Es war, als hätten die Spanier sich ihr wahres Können für das Finale aufgehoben. Das macht irgendwie Angst. Alle vier Tore – besonders aber die ersten beiden – waren Traumkombinationen, messerscharfe Abläufe, bei denen Lauf- und Passwege zentimetergenau stimmten; es sah aus wie in einem Computerspiel. Schließlich war es auch dieses elaborierte Kurzpassspiel, das den Spaniern die Hoheit im Mittelfeld sicherte und die Italiener gerade in ihrer sonst stärksten Zone in Bedrängnis brachte. Wie man zudem Andrea Pirlo aus dem Spiel nimmt und welche Auswirkungen das auf das italienische Angriffsspiel hat, das zeigte Xavi mit großer Klasse.

So bleibt nach einer eher mäßigen spanischen EM die Erkenntnis, dass Spanien da ist, wenn es da zu sein hat, und dass ein, zwei gute Spiele reichen, um eine Europameisterschaft zu gewinnen – vorausgesetzt, das Niveau ist auch sonst hoch genug. Nur verlieren darf man halt nicht (hallo Deutschland!), dann klappt’s auch mit dem Titel! Spanien in der finalen Form und Deutschland in der Form vom Viertelfinale – das wäre ein tolles Endspiel geworden. Die Finalteilnahme Italiens aber lehrte uns auch zweierlei: Nämlich dass, erstens, Fußballgesetze dazu da sind, gebrochen zu werden (noch nie hatte Spanien gegen Italien gewinnen können, hallo Deutschland!), und zweitens, dass mit Italien wieder gerechnet werden darf; und zwar diesmal nicht nur, weil man mit ihnen immer rechnen muss (wie ich im Vorfeld dieser EM gemeint habe), sondern weil sich dieses Team Applaus verdient hat für den mutigen und attraktiven Fußball, den es gespielt hat und die Nervenstärke des Trainers Prandelli, der diesen Volltrottel-Haufen so gut dirigiert hat, wie es nur ein richtiger Italiener kann. Unvergessen die Bilder Prandellis, wie er an der Seitenout-Linie entlang hüpft, wild gestikulierend, wie jemand, der ein Fliegenorchester dirigieren will.

Unvergessen auch, wie Spanien einen auf Holland gemacht hat und nach dem Schlusspfiff die kleinen Kinder über das Spielfeld gerannt sind bzw. getragen wurden. Die Niederländer haben das vor vier Jahren auch gemacht und so dem manchmal so machismo-lastigen (Proleten-) Fußball ein menschliches Antlitz verpasst. Die Spanier scheinen überhaupt gut für so Aktionen zu sein, wo es dann richtig menschelt. Ich erinnere an Iker Casillas, der nach dem WM-Finale vor zwei Jahren seine Freundin vor laufender Kamera geküsst hat, als diese ihn für das spanische Fernsehen interviewen sollte. Ja, bei solchen Szenen da schlagen auch die Herzen der weiblichen Fußball-Fans wieder höher, die sowieso alle für Spanien sind, weil die die „feschesten“ Spieler haben. Solche Urteile anzuerkennen fällt immer nur so lange schwer, bis man Mannschaften aus der Ukraine, Aserbaidschan oder Rumänien vorgesetzt bekommt.

Wir dürfen hoffen, dass Italien, Deutschland und Portugal die Wege beibehalten, die sie vor dieser EM eingeschlagen haben. Wir dürfen gespannt sein, ob die spanische Vorherrschaft im Fußball auch bei der WM in Brasilien weiter geht und ob es den Teams von Frankreich, England und Holland gelingt, sich wieder als ernstzunehmende Akteure auf internationalem Niveau zu etablieren. Auch was den Mittelbau in Europa betrifft, hinterlässt diese Euro ein paar Fragezeichen: Was ist mit den Teams aus Kroatien, Schweden, Russland und Dänemark? Da lagen Hui und Pfui teilweise sehr eng beieinander; es war aber zu sehen, dass diese Mannschaften Potenzial haben und jedem gefährlich werden können (obwohl es auch unter diesen Teams durchaus Abstufungen gibt).

Haben die Europa- und Weltmeisterschaft von 2004 und 2006 noch einen recht fahlen Geschmack hinterlassen und hatten wir uns vor Catenaggio und Rehakles-Fußball gefürchtet, darf jetzt wieder aufgeatmet und festgestellt werden, dass der Fußball endgültig zurück ist. Lob und Ehre gebührt dabei nicht nur Spanien, sondern vor allem auch der Entwicklung des deutschen Teams. Dass nun auch Italien wieder Fußball spielt und damit erfolgreich ist, darf als hoffnungsvolles Leuchtfeuer verstanden werden. Damit bleibt zu hoffen, dass man in zwei Jahren nicht feststellen muss, dass man sich darin getäuscht und also zu früh gefreut hat.

Sonntag, 1. Juli 2012

Das namenlose Spiel

Schland ist weg. Das sollte einmal festgestellt werden, denn hier, im wilden Sachsen, bekommt man davon nichts mit. Seit Mario Balotellis Gnadenschuss (Tor Nummer 2) ist es in Deutschland seltsam still geworden. Plötzlich dominieren wieder Merkel und Co. die Schlagzeilen und nicht mehr „Jogis Jungs“; hin und wieder sieht man eine traurige Pressekonferenz, manchmal spricht man noch von der vermeintlich fehlerhaften Aufstellung, mit der Löw seine Truppe in die Schlacht gegen das gefürchtete Italien geschickt hat. Am Ende bleiben zwei Erkenntnisse: 1., dass Deutschland gegen Italien nicht gewinnen kann und 2., dass Italien nicht mehr das Italien ist, das es einmal war. Aber das wurde ja hier schon mehrmals festgestellt...

Zu Spanien ist mir nichts mehr eingefallen. Dass wir des Tikitaka müde sind – besonders, wenn es so lasch gespielt wird wie momentan -, das merkt man mittlerweile schon bei ehemals eingefleischten Spanien-Fans, denen das ziellose Gepasse auch schon auf den Senkel geht. Portugal ist unglücklich ausgeschieden und die Spanier stehen erneut im Finale, können wieder einmal Geschichte schreiben, werden es vielleicht sogar tun; aber wen soll das kümmern? Spätestens seit der überzeugenden Darbietung gegen Deutschland müssen wir uns hinter Italien stellen. Weil Italien guten Fußball, interessanteren Fußball als Spanien spielt. Weil das ewig gequälte Gesicht von Andres Iniesta und das dümmliche Geschau von Fernando Torres nicht so gut sind wie der entblößte Balotelli, der sich nach seinem zweiten Tor selber ein Denkmal in Form einer Statue gesetzt hat, die er selber war.

Balotelli bleibt ein seltsamer Zeitgenosse, aber inzwischen ist er mir sympathischer als Cassano. So richtig sympathisch sind sie ja doch nicht geworden, die Itaker. Selbst Pirlo bleibt seltsam unantastbar. Andrea Pirlos ausdrucksloses Gesicht steht Pate für ein Fußballspiel, das nur das ist, was es ist: ein Fußballspiel. Pirlo spielt Fußball – sonst nichts. Mir gefällt das, weil es einfach ist und gut aussieht. So wie das Spiel der italienischen Mannschaft, das keinen Namen hat. Es heißt nicht Catenaggio oder Tikitaka oder Voetbal totaal – es heißt Fußball bzw. „Calcio“. Es ist das Spiel, an das man sich erinnern kann, wenn man an früheste Fußball-Erfahrungen zurückdenkt. Als Kind hat man Fußballspiele im Fernsehen so erlebt: Laufen, schießen, Tor. Dass das ganze natürlich viel komplexer ist als diese Minimalformel, liegt auf der Hand (und das war auch „früher“ so). Aber die Italiener erinnern uns gerade daran, dass Fußball einfach, gut und erfolgreich sein kann. So wie Pizza oder Pasta.

Das erinnert mich daran, wie grausigste Schlander im tiefsten Sachsen (wo ich das Halbfinale gegen Italien miterleben musste) irgendwann zu folgendem Sprechchor angesetzt haben: „Ihr seid nur ein Pizzalieferant, Pizzalieferant, Pizzalieferant!“, und dabei haben sie das „P“ von „Pizza“ so aspiriert wie es nur die ganz deutschen Deutschen können - „P-hizzalieferant!“. Dann hat Balotelli das 2:0 gemacht und die Sachsen waren still. Man hörte noch hie und da ein stumpfes Kommentar zu Balotellis Hautfarbe, aber was will man auch anderes erwarten? Nun, die Pizza wurde geliefert, was die Deutschen sogar mit Anerkennung quittierten: „Naja, die waren schon gut, die I-thaliäna!“ So war dieses Italien so überzeugend, dass es sogar die Schlander einsehen müssen. Wer hätte das gedacht?

Wenn wir uns daran erinnern, wie hochklassig die Vorrunden-Begegnung zwischen Spanien und Italien war, dürften wir uns ein tolles Finale erwarten. Ein Schelm aber, wer denkt, dass dieses Match gleich ablaufen wird. Wahrscheinlich ist es das interessanteste Finale, das die EM zu bieten hatte. Portugal wäre gegen Italien Außenseiter gewesen, aber die Italiener sind jetzt gegen Spanien keineswegs Außenseiter. Ein Duell auf Augenhöhe also – das überholte Tikitaka gegen das namenlose Spiel, das ich – ganz ausgefallen – „Calcio“ taufen möchte.