Samstag, 30. April 2011

Der Lodenbeidl


Am Stadtplatz herrscht Unruhe. Etwa 20 holländische Jugendliche, wie man diese Brut an unreifen, sich selbst in die Stumpfheit saufenden jungen Menschen nennt, brüllen herum. Einige sitzen auf den Stufen des ehemaligen Amtsgebäudes, andere stehen vor den Auslagen des Souvenirgeschäfts, tappen die Scheibe an und schreien, was für eine Scheiße da verkauft werde. Natürlich haben sie ganz Recht, aber erstens sind die Sachen, die ein Souvenirgeschäft so verkauft es gar nicht wert, sie einem ästhetischen oder qualitativen oder sonst irgendeinem Urteil auszusetzen, und zweitens sind ja auch viele dieser Dinge ganz absichtlich so gemacht, dass man sie "Scheiß" nennen kann. Gemacht für genau solche Menschen, die diesen Scheiß dann auch kaufen, nicht weil er ihnen gefällt, sondern weil sie ihn irgendwie witzig finden. Oder sie kaufen ihn, weil sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, so einfach ist das. Auch diese jungen Holländer werden vermutlich am nächsten Tag, ausgenüchtert, am Nachmittag durch die Stadt schlurfen und in solchen Geschäften solchen "Scheiß" kaufen. Angebot und Nachfrage: frage lieber nicht!

Vor dem Zigarettenautomat ist es meistens ruhig, denn seit man nur noch mit einer Bankomatkarte Zigaretten kaufen kann, ist das den Touristen zu kompliziert geworden. Abgesehen davon sind viele Touristen gar keine Raucher mehr und die, die noch welche sind, zünden sich in den Lokalen immer ganz scheu die Zigaretten an, etwa so, wie ein Griechenlandreisender zum ersten Mal einen Teller auf den Boden wirft, weil man sich in einem Bereich befindet, wo das Verbotene auf einmal geboten oder, wenn es schon nicht erwartet, so doch geduldet wird. Die Pinzgauer rauchen noch fleißig - ich glaube, das kann man ganz allgemein sagen. Österreichische Jugendliche rauchen sowieso viel, und dass gerade bei uns die besseren und weniger rauchenden Jugendlichen wären, das hält man einfach mal so für unwahrscheinlich.
Dass diese Zigaretten auch immer nach Orten benannt sein müssen, wenn ihnen nichts Besseres einfällt, denke ich mir, als ich eine Schachtel Parisienne wähle, für die man, lässt man sie in Paris am Tisch offen liegen, neugierig angeschaut wird. Memphis-Zigaretten in Memphis zu rauchen wäre auch sowas. Nur, dass man sich mit Memphis prinzipiell schämt, egal wo man ist. Memphis hat etwas Prolliges und das goldene Papier innen erinnert an 70er-Jahre, Schnauzbart, Goldring und sehr behaarte Unterarme. Will man nicht rauchen. Kratzt auch im Hals, aber erst am nächsten Tag.

Im Lokal ist dann eher wenig los, man hört nur vor der Türe in den Gassen die Holländer schreien. Es kommt der "echte Pinzgauer" herein - so nennt er sich selbst. Ich nenne ihn den Lodenbeidl und weiß nicht warum. Er ist gern "trachtig" gekleidet, wie er sagt, aber das eigentlich nur zu besonderen Anlässen wie dem Mittwochsfest, dem Seefest oder irgendeinem anderen Fest, dessen genauer Anlass eigentlich eh jedem wurscht ist. Der Lodenbeidl redet immer vom Pinzgau und wie es ist, ein "echter Pinzgauer" zu sein. Etwas anderes redet er nie. Er sieht auch aus wie ein Pinzgauer, auch wenn er nicht trachtig gekleidet ist, das muss man ihm lassen. Er hat eine Pinzgauer Physiognomie, aber das sagt man ihm besser nicht. Erstens müsste man es anders formulieren, sonst fühlte er sich angegriffen und zweitens weiß man nicht, ob ihm das Recht ist, denn so naiv zu sein und zu glauben, einem "echten Pinzgauer" wäre es quasi eine Ehre, sagte man ihm, er habe eine Pinzgauer Physiognomie, soweit will man dann doch nicht gehen - weil es riskant ist.

Ich sage es ihm trotzdem. Und zwar genau nachdem er mir mitteilt, dass er ein echter Pinzgauer sei. "I bin da Peda und i bin a richtiger Pinzgaua", sagt er. Er legt eine leichte Betonung auf das Wort "richtiger" und sieht mich dabei mit etwas zusammengekniffenen Augen an. Ich fühle mich sofort als unechter Pinzgauer und sage "Mhm... Schaust owa a so aus!". Jetzt kneift er die Augen noch mehr zusammen und stößt ein scharfes "Wieso?" aus. "Naja, du schaust aus, als wärst du ein erdiger Typ.", sage ich. Das war nicht schwer. Der Lodenbeidl grinst zuerst, lacht dann kurz auf und sagt "Jojo... mei. A echter Pinzgauer hoit!". Ich will nicht mehr mit ihm reden, doch da sagt der Lodenbeidl schon "Woher bist oft du?!". Da ist er, der alles entscheidende, der entsetzliche Satz. Hätte Goethe im Pinzgau gelebt, dann hätte Faust eine ganz andere Gretchenfrage gestellt bekommen.
Das „Gespräch“ ist jetzt in einer kritischen Phase, denn einerseits fühle ich mich, als hätte ich einen Trumpf im Ärmel, doch andererseits weiß man nie, welchen Effekt die Antwort haben wird. Deswegen entscheide ich mich dafür, während ich "Schmitten" sage, das Kinn anzuheben und den Kopf noch etwas bedeutungsschwer nachschaukeln zu lassen. Das macht die Pause zwischen meiner Antwort und der Reaktion des Lodenbeidls lange. Gerade, als ich einen Schluck von meinem Bier nehmen will, wie zur Bestätigung des gerade Gesagten, sagt der Lodenbeidl, der mich die ganze Zeit fixiert hat, auf einmal: "Geh!?... Aha...", und dann trinkt auch er von seinem Bier. Geschafft. Schmitten kennt er, aber nicht zu genau als dass er fragen könnte, wie ich heiße und so weiter. "Wüde Hundt, die Schmittinga." setzt er nach. Ich sage nur "Jaja, haha!" und für den Lachnachsatz schäme ich mich gleich.

Irgendwas passt ihm nicht, dem Lodenbeidl, das merke ich ganz genau. Ich sehe wahrscheinlich nicht aus wie ein Pinzgauer. Mein im Gespräch mit ihm absichtlich verstärkter Dialekt scheint zwar seine Wirkung nicht ganz verfehlt zu haben, aber anscheinend passt der auch nicht so ganz zu mir, deswegen sagt der Lodenbeidl "Ausschaun tuast owa du wiara Stodinga!". Jetzt nicht nervös werden! Leider neige ich in solchen Situationen zur Spitzfindigkeit und sage: "Najo, Zell is ja auch eine Stadt...", diesmal traue ich mich gar nicht zu lachen und das ist auch gut so, denn jetzt scheint der Lodenbeidl böse zu werden. Er schüttelt heftig den Kopf und sagt "Jo, na geh..." und es klingt irgendwie wütend und beleidigt und man weiß nicht, ob er einem wie ein Kind vorkommt oder wie ein böser, betrunkener Mann oder beides. "Wiara Soizbuaga schaust du ma her!" ... Jetzt hat er mich. Jetzt hat er mich doppelt, nein dreifach.
Ich könnte mich jetzt im Stillen über die Formulierung "jemand schaut jemandem wie etwas her" aufregen, die ich immer schon mehr dumm als charmant fand. Das ist aber jetzt unmöglich, da ich ja selber die ganze Zeit versuche, dem Pinzgauer Dialekt möglichst treu zu bleiben. Die zweite Möglichkeit wäre die, zu behaupten, man wäre ja eh ein Salzburger, um nach einigem Hin und Her dann dem Lodenbeidl zu erklären, dass man das Bundesland gemeint hat und nicht die Stadt. Das ist aber eine selbst dem Lodenbeidl gegenüber recht freche und eigentlich hundsgemeine Geschichte, die nur Zwietracht sät. Ich entscheide mich für Möglichkeit Nummer drei, die ohnehin einen empfindlichen Nerv trifft, denn ich mag die Stadt Salzburg schon nicht und für einen Salzburger gehalten zu werden, empfinde ich als schwere Beleidigung. Jetzt aber Vorsicht, nicht zu emotional werden, sonst ergibt sich zum Schluss noch eine schön ausgebettete, mit vielen Beleidigungen gegen die Stadt Salzburg geschmückte und wohlig gemachte Gesprächsbasis. Das Böse kommt auf leisen Sohlen, erst recht wenn es um Salzburg geht!

Ich also - leicht entrüstet, aber nicht zu entrüstet, mit einer ordentlichen Prise Verwunderung, die, bevor ihre Wirkung verfliegt, sich in einer beleidigten Miene zu setzen sucht: "Wos!? Naaa!" Es braucht nicht viele Worte, um in dieser Gegend Kommunikation zu führen, aber man benötigt schon ein Geschick in Sachen Intonation, Wortwahl und vor allem mimischer Gesprächsführung. Ein Zucken im Mundwinkel, während man ein freundlich-beleidigtes Gesicht zu machen versucht, und das Ganze gleitet entweder in etwas Feindseliges oder etwas Harmloses ab. Beides kann ungute Folgen haben. Mir gelingt mein Wos?-Na!-Gesicht ganz gut und der Lodenbeidl lacht zufrieden - offenbar gefällt ihm meine leichte Entrüstung. Seine Skepsis aber weicht nicht, ich bin ihm immer noch nicht urig genug. Sein Gesicht verlangt nach Erklärung und ich muss jetzt ganz schnell von mir ablenken, hin zu den fürchterlichen Salzburgern und ihm irgendwie zu Verstehen geben, dass ich mit denen überhaupt nichts am Hut habe und das auch gar nicht haben will.

Der Lodenbeidl hält ja viel auf Äußerlichkeiten. Deswegen hat er eine bäuerliche Frisur, einen missglückten Ziegenbartversuch im Gesicht, eine recht geschundene Haut und seine Kleidung ist von proletarischer Eleganz. Viel Pinzgauerisches hat er heute nicht an, seine Bodenständigkeit signalisiert er durch ein Holzhackerhemd, das er unter einem hellbraunen Pullover trägt, dazu Jeans und Schuhe, die ich noch nie zuvor gesehen habe - nicht, weil sie besonders extravagant wären, sondern eher ihrer wenig galanten Unscheinbarkeit wegen. Ich hingegen habe eine "gemachte Frisur", wie man sagt, hab ein einfärbiges Hemd und graue Jeans an, sehe also "sauber" aus und darüber hinaus habe ich lange, dünne Finger - auf die hat der Lodenbeidl schon missmutig geschielt. Alles in allem bin ich also eine optische Provokation für ihn und genau da muss ich ihn packen, das ist das, was ihm auffällt, ihn stört, ihn misstrauisch macht. "Die Salzburger schaun ja ganz anders aus.", sage ich. Jetzt habe ich ungefähr drei Sekunden Zeit zu überlegen, was ich darauf folgen lasse. Der Lodenbeidl schaut verwundert, ich merke, dass er sich irgendwie zu freuen scheint, dass ich auf seinen Zug aufgesprungen bin, aber natürlich erwartet er jetzt eine Argumentation, dass es ihm die seltsamen Schuhe auszieht - da dürfen jetzt keine Fragen offen bleiben. "Wia leicht?", fragt der Lodenbeidl und verschränkt die Arme vor der Brust. Er hat sich jetzt im Gespräch eingehakt, da gibt es kein Aufs-Klo-Gehen, kein Am-Bier-Nippen oder Zigarretten-Anzünden, das mich aus dieser Zwickmühle herausbringt. Mir raucht der Kopf, ich sage mir selber, dass ich nie wieder auf solche Gespräche einsteige und wie das überhaupt passiert sei, wie schnell das gegangen ist, das wundert mich, keine 4 Sätze gewechselt und schon ist man in so einer Situation, wo ein Pinzgauer mit verschränkten Armen vor einem steht und auf eine Erklärung wartet, die man vorgegeben hat zu haben, die man sich aber jetzt doch aus den Studentenfingern saugen muss. Ich schaue kurz auf meine Hände, ja nicht einmal Risse haben die von der Kälte, oft sind sie im Winter wenigstens ein bisschen trocken und schauen nicht gar so gepflegt aus. Ich verschränke auch schnell die Arme, um die Finger nicht mehr sehen zu müssen und hol mir das Bild eines Salzburgers vor das innere Auge, von einem richtig unangenehmen Salzburger, den letzten, der mich richtig unangenehm aufgefallen ist... Ja, da ist er schon.

"Naja, die ziehen sich ja meistens so an, als wären sie recht kernig", sage ich, während ich daran denke, wie der letzte unsympathische Salzburger, den ich getroffen habe und bei dem ich mir gedacht habe "Wah, ein richtiger Salzburger ist das", wie der mich also gefragt hat, woher ich komm und ich habe gesagt "Aus Zell am See" und dann hat er so komisch geschaut. Der hatte ein rot-weiß-kariertes Hemd an. So eines, das sich einer zum Fasching anzieht, wenn er einen Bauern darstellen will oder einen Tiroler Schilehrer im Sommer und so weiter. Man ist ja selber nie vor Vorurteilen sicher, denke ich mir, während der Lodenbeidl nachdenkt, was ich mit meinem Satz gemeint habe. Aber gut, in dieser Situation helfen mir die Vorurteile, die der Salzburger gehabt hat, als er sich das Hemd gekauft hat, weil er dachte "Damit sehe ich kernig aus". Er war aber überhaupt nicht kernig, sondern eher glitschig oder pampig. Oben eher glitschig und dann so ab der Nase oder ab dem Mund pampig. Das denk ich mir, während mich der Lodenbeidl immer noch anschaut - er denkt gerade nach. Und was hatte der Salzburger für eine Hose an? War das nicht so eine Pseudo-Lederhose? So eine, die aussieht, als wäre sie eine echte Lederne, die aber einen höheren Tragekomfort hat, weils doch kein echtes Leder ist, aber sicher fast genausoviel kostet, weil der das in einem Laden in der Getreidegasse oder was weiß ich wo gekauft hat. So Läden, wo Country-Style-Sachen verkauft werden. Wo reiche Stadtmenschen so tun können, als würden sie in Wahrheit am Land wohnen, ein bissl urig, aber schon modern. Wo man einfach besser aussieht, wenn man im Land Rover drinsitzt.

"Mhm.", sagt der Lodenbeidl. "Jojo, do host scho recht", setzt er nach. Und ich bin erleichtert und auch etwas verwundert. Hat er jetzt wirklich verstanden, was ich meine? Er mustert mich und als wäre es Gedankenübertragung, scheint er mich mit meinem inneren Bild des Salzburgers verglichen zu haben - und der Vergleich ist gut ausgegangen für mich. "Wiara Hotelier schaust du aus", sagt er drauf und spricht „Hotelier“ so aus, dass es sich auf „Fakir“ reimen würde. Damit kann ich leben, denn damit ist jetzt auch bewiesen, dass ich wie ein Zeller aussehe, denn Hoteliers gibt es hier genug. Ich frage mich noch, ob ich mit ihm darüber diskutieren soll, ob man "Hotlier" oder "Hoteljee" sagen soll oder darf, aber dann fürchte ich mich davor, eventuell noch die Frage präsentiert zu bekommen, die ich ohnehin als nächste erwartet hätte: "Wos tuast oft du?"
Doch da bis zur nächsten Frage im Pinzgau in etwa die Zeit eines halben kleinen Bieres zu vergehen hat - außer es ist großes Misstrauen im Spiel, und dieses habe ich ja jetzt auf ein für den Lodenbeidl erträgliches Maß reduziert - entkomme ich diesem Fallstrick, denn gerade geht die Tür auf und herein kommt Uwe, der ganz und gar unpinzgauerische Koch eines relativ ungustiösen Lokals in Zell am See. Uwe, ein Deutscher, riecht immer sehr nach Fett und nicht nur deswegen unterhalten sich die Leute nur ungern mit ihm. Der Lodenbeidl aber, der unterhält sich liebend gern mit dem Uwe, weil dem kann er erzählen, was richtig Pinzgauerisch ist und was nicht.
Ich denke mir gerade, ob es das Wort "faschistofetischistisch" geben sollte, wer daran Gefallen fände und wie es aussehe, wenn es stenographiert würde, da höre ich den Lodenbeidl schon zu Uwe sagen "I bin a richtiga Pinzgaua!" und Uwe sagt "Ach ne?", bestellt ein Bier und ich proste ihm zu, denn dem Uwe möchte ich nicht die Hand geben. Das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun, denn wenn einer so unhöflich ist und sich nach einem langen Tag in der Küche nicht wäscht und stinkend in ein Lokal geht, dann bin ich auch so unhöflich und gebe ihm nicht die Hand. Nur wegen seiner Faulheit will ich keinen Fettgestank an den Fingern haben. Und da sehe ich, wie der Lodenbeidl dem Uwe die Hand gibt und sie vor lauter Rausch gar nicht mehr auslässt. Die klobigen Hände vom Lodenbeidl saugen sich richtig an mit dem Fett an den Händen vom Uwe, so kommt es mir vor und ich frage mich, ob das gut für den Feuchtigkeitshaushalt der Haut ist, wenn die Hände in Fett getränkt werden, kann mir aber irgendwie nicht vorstellen, dass etwas intuitiv Grauenhaftes irgendwie gut sein soll. Uwe packt seine Zigarretten aus, er raucht York, und ich frage mich, ob die Leute wissen, dass selbst die Marlboro-Zigarretten nach einer Londoner Straße benannt sind und was Reisen mit Rauchen zu tun haben könnte. "Morgen gehe ich Schifahren", denke ich, trinke aus, zahle und geh.

Freitag, 29. April 2011

Zeller Weisheit

"Z'Ostan is a oiwei no schee auf da Schmittn. Muasst hoit gonz in da Friah geh, wei nochand wirds oft boid scho batzig."

Der Trichter

Böse Zungen behaupten ja, der Franz würde seine Schnäpse, die er im Lokal verkauft, mit Wasser verdünnen. Tatsächlich soll es vorgekommen sein, dass der eine oder andere Gast einmal ein Schnapserl bestellt hat, das dann weniger stark als zuerst angenommen war. Da kann es dann natürlich vorkommen, dass sich der eine oder andere Gast beschwert, weil er sich ... wie soll man sagen ... vom Franz hinters Licht geführt vorkommt. Mit einem schnöden "Der ist ja g'wassert!" kommt man aber dem Franz nicht bei. Mit so einem Vorwurf konfrontiert, setzt er nämlich das entsetzteste Gesicht auf, das er im Repertoire hat, schüttelt den Kopf und sagt nur "Nein, nein!". Dann räumt er meist irgendwelche Gläser von einem Regal in's andere oder geht Bestellungen aufnehmen - auch bei Tischen, die er gerade eben erst mit Getränken versorgt hat.

Einmal hat uns der Franz auf ein Stamperl eingeladen (was selten genug vorkommt). Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, sagt man, und trinkt also den Gurktaler dankbar aus, wundert sich diskret über den gar so leichten Geschmack und grinst die übrigen Mittrinkenden wissend an. Ich habe mich dieses eine Mal erfrecht, dem Franz zu sagen, dass sein Gurktaler wohl der mildeste in ganz Graz sei. Da hat der Franz kurz ein wenig erschreckt geschaut, aber als ich ihm dann freundlich in's Gesicht gelacht habe, da hat der Franz auch lachen müssen.

Es ist eine stille Übereinkunft mit dem Franz, dass man über seine Schnapserl nicht redet. Günstig genug sind sie ja. Man stelle sich vor: Manchmal, wenn es auf den Straßen und Gassen in der Grazer Innenstadt sehr zugeht, verirrt sich der eine oder andere Klogänger in das Lokal vom Franz. Höflicherweise danach gefragt, ob man seine Toilette benutzen dürfe, entgegnet der Franz immer: "Freilich, das kostet aber einen Euro. Dafür gibt's einen Gratis-Schnaps!" Geradezu vergnügt nimmt jeder Klogänger diesen Handel an, drückt dem Franz eine Münze in die Hand, geht aufs Klo und erfreut sich nach erledigtem Geschäft über das Gratis-Schnapserl, das dann schon fertig auf der Theke steht. Darauf, dass sie im Lokal als zahlende Kunden die Toilette benutzt haben, kommen die wenigsten. Alle denken sich nämlich, dass sie für's Klogehen einen Euro bezahlt haben, was sie als einen fairen Preis erachten, und zusätzlich von dem netten Wirten einen Schnaps gratis bekommen haben. Manche gehen daraufhin sogar mehrmals aufs Klo, nur des Schnapserls wegen.

Aber auch sonst bewirbt der Franz seine Stamperl mit dem knackigen Slogan "Jeder Schnaps einen Euro, jeder doppelte zwei Euro!", dem man sich zugegenermaßen nur schwer entziehen kann. Wie der Franz seine Schnapserl zubereitet, darüber gibt es nur Spekulationen. Manch einer soll sogar schon einen wirklich starken bekommen haben. Berichte wie diese sind aber rar und man soll ja auch nicht immer gleich alles glauben, was die Leute erzählen. Fakt ist: Beim Franz holt man sich nur sehr unwahrscheinlich eine Alkoholvergiftung - und das ist ja auch irgendwo löblich.

Manchmal sieht man den Franz hinter der Theke mit allerlei Flaschen hantieren, die Etiketten tragen, die man noch nie vorher irgendwo gesehen hat. Er füllt dann um, leert aus, schraubt auf und wieder zu, irgendwie ist es, als sehe man einem Hütchenspieler zu und man wartet nur darauf, dass der Franz einen plötzlich fragt: "Wo ist jetzt der Alkohol drin?" Das passiert aber freilich nie, denn so dreist ist der Franz nicht. Wenn der Franz also mit diesen Flaschen hantiert, ist immer auch ein Trichter dabei. Das ist natürlich sinnvoll, weil sonst würde er ja zum Schluss noch einen guten Schnaps oder einen seiner vielen vorzüglichen Weine verschütten. "Der Trichter ist dein wichtigstes Arbeitsgerät, gell?", habe ich ihn einmal - wiederum frecherweise - gefragt. Da hat er wieder so komisch erschreckt geschaut, aber gleich auch wieder gelacht. "Jaja", hat er gekichert, "der Trichter ist schon wichtig." Wenn er so etwas sagt, will man aber natürlich immer noch mehr wissen, ohne jetzt unbedingt gleich mit der Tür ins Haus fallen zu wollen. Also habe ich nur gesagt: "Wie heißt es immer? Wo kein Trichter..." "... da kein Richter!", hat mich der Franz ergänzt und gleich sein spitzbübisches Lachen, nämlich das eines älteren Herren, das nur er kann, erklingen lassen.

Wo kein Trichter, da kein Richter. Was das jetzt wieder heißen soll, was man aus dem Spruch herauslesen kann oder will, das bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Vielleicht hält man es am besten so, wie der Franz es selber mit vielen Dingen hält. Er sagt nämlich oft: "Ich will es gar nicht so genau wissen."

Donnerstag, 28. April 2011

Zeller Weisheit

"Wonns am Hundtstoa scho zuaziagg, nochand weaschts neama long dauan biss a in Zöi renng!"

Das zweite Tor

"Hast du das gesehen, wie der FC Messi die Madrilenen weggeputzt hat?" Die roten Wangen vom Franz sind noch ein bisschen röter als sonst, er grinst über beide Ohren. Das ist einer jener Momente, in denen der Franz aufrichtig glücklich ist. Ich aber stehe nur verdattert im Eingang des Lokals und kann nicht glauben, dass ich in den zehn Minuten, die ich vom Cafè Sonnenschein hierher brauche, beide Tore versäumt habe. "Nein, nix hab ich gesehen!", sag ich dem Franz, der aber schon wieder auf das kleine, flimmernde Fernsehgerät aus den frühen 90ern schaut, das er auf dem ungenützten, noch giftiger flimmernden Spielautomaten (geschätztes Baujahr: 1985) platziert hat. Ich weiß jetzt, dass mein Bier, das ich noch nicht einmal bestellt habe, noch länger dauern wird als sonst.

Schon ruft der Franz begeistert: "Der macht heute noch den lupenreinen Hattrick!", und er meint natürlich "seinen" Lionel Messi, wie er immer wieder sagt. "Hast du das zweite Tor gesehen!?", ruft er in Richtung Fernseher, meint aber mich. "Nein!", sage ich wieder, "nix habe ich gesehen, ich war ja grad auf dem Weg und da haben die alle beiden Tore geschossen." Der Franz dreht sich um und schaut mich entgeistert an. Seine Teddybäraugen sind ein bisschen feucht, ich weiß nicht, ob es am Rauch liegt oder am ehrlichen Entzücken über den argentinischen Fußballer. Da fällt mir auf, dass niemand raucht, dass außer mir überhaupt nur einer im Lokal sitzt, und der sitzt noch ziemlich gerade auf seinem Hocker, scheint also nicht betrunken zu sein: Ein schlechter Abend für den Franz, möchte man meinen. Aber das Glänzen seiner feuchten Augen, das er sonst nur hat, wenn jemand eine Lokalrunde bestellt, verrät, dass heute das leere Lokal nicht so wichtig ist. "Das erinnert an einen Maradona!", ruft er mir ins Gesicht. Der zweite Gast kichert, er hat den Satz heute bestimmt nicht zum ersten Mal gehört.

Der Franz aber, Wirt vom alten Schlag, erkennt sofort, dass ich etwas trinken will und setzt diesen seltsamen Blick auf, eine Mischung aus Mitleid und Verständnis, und fragt ganz ruhig: "Willst ein Kleines?" "Ja, bitte", antworte ich ihm und weiß, dass ich warten muss bis es einen Abstoß gibt oder ein harmloses Foul, jedenfalls irgendetwas, das dem Franz erlaubt, kurz aufzustehen und das Bier zu machen. "Der Messi ist der Größte - obwohl er so klein ist!", gluckst der Franz als Real Madrid gerade in Ballbesitz ist und keinerlei Anstalten macht, einen gefährlichen Angriff zu starten. Da macht der Franz mein Bier, zumindest das erste Drittel. Denn der Franz ist einer, der macht das Bier für gewöhnlich langsam, dafür hat es dann die schönste Schaumkrone von Graz. Wenn man ein schnelles Bier will, geht das auch, das muss man aber extra erwähnen. Oft, wenn man ein "Schnelles" bestellt, wiederholt der Franz die Bestellung, sagt aber "ein Rasches, bittesehr!", und man weiß, dass man wirklich lieber "rasch" als "schnell" sagen sollte, weil sich die Wörter im Lokal in den letzten 30 Jahren so wenig wie die Einrichtung verändert haben.

Das Spiel ist bald zu Ende, Messi hat keinen Hattrick mehr gemacht, auf dem Spielfeld gibt's noch Rangeleien, aber der Franz redet nur vom zweiten Tor. "Das erste war aber auch schön, wie er den so geschickt reingelenkt hat, da hatte der Verteidiger keine Chance", sagt der andere Gast. "Jaja", sagt der Franz mit seiner ruhigen Stimme, "auch schön, auch schön..." Ich merke, dass der Franz lieber über das zweite Tor reden würde, also frage ich: "Und das zweite Tor, das war echt so schön?" Da ist der Franz wieder hellwach: "Wie einst Maradona, ich sag es dir! Wie einst Maradona! Wie das Solo gegen Brasilien damals." "Gegen England!", sagt der andere. "Nein, gegen Brasilien!" - "Nein, das war gegen England!" - "Gegen England war das?", fragt der Franz mit seinem seltsamen kritischen Blick, bei dem er dich mit zusammengekniffenen Augen anschaut, während er die Mundwinkel nach unten zieht - eine mimische Kombination, die ich bei keinem Menschen zuvor gesehen habe und die man nur zusammenbringt, wenn man sein Gegenüber zum Narren halten will. "Gegen England oder gegen Brasilien.", sagt der Franz vor sich hin. Ich frage mich, ob nicht beides möglich wäre, da Maradona bekanntermaßen mehr als ein Solo in seiner Karriere gemacht hat. Freilich, da gab es dieses eine Solo, das weltberühmte, aber das wüsste ich jetzt auch nicht, wann und wo und gegen wen das war. Mir kommt die Einsicht, dass Maradona nur zwei Tore geschossen hat. Das eine war mit der Hand und das andere war das Solo. Und dann denke ich mir, dass das auch bitter ist für den größten Fußballer aller Zeiten, wenn von dir nur zwei Tore übrig bleiben, von denen eines irregulär war. Obwohl das natürlich Blödsinn ist, weil Maradona viele geniale Tore gemacht hat. Nur waren die meisten davon ohnehin Soli, kommt mir halt so vor, wieso sich also auf eines festlegen?

Herbert Prohaska analysiert gekonnt die zweite Hälfte, sagt, dass Barcelona aufgrund der zwei Tore die torgefährlichere Mannschaft war und ich muss lachen, werde aber gleich wieder ernst, weil ich einsehen muss, dass er da natürlich auf eine sehr banale Weise Recht hat. Dann zeigen sie die beiden Tore. Das erste wird vom zweiten Gast heftig beklatscht, er sagt nur "Super! Super!" und "Siehst du, wie der das geschickt macht? Da kann der Verteidiger gar nicht... da hat der keine Chance, da kommt er nicht hin..." "Ja! Aber jetzt!", unterbricht ihn der Franz, "Jetzt kommt das zweite Tor!" Er dreht sich zu mir und sagt: "Schau dir das an! Wie der die ganze Abwehr ausspielt!" "Wie der Maradona immer, gell?", sage ich. "Ja, wie der Maradona gegen Brasilien!" "England!", schreit der andere. Und dann kommt das zweite Tor. Und es ist wirklich schön.

Wie das aber immer so ist mit den Erwartungen, gefällt mir das zweite Tor dann doch nicht so. Ich habe nämlich kurz nachdem ich in das Lokal gekommen bin, eine SMS von einem Freund erhalten, in der er das zweite Tor überschwänglich lobt. Dass einer so etwas in so einem Spiel und auf diesem Niveau zusammenbrächte sei eine Erleuchtung oder so ähnlich. Da habe ich mich natürlich wieder geärgert, weil ich zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich gerade in der Sporgasse beim Hergehen ob der kühlen Abendtemperatur gefroren habe. (Jetzt habe ich noch einmal nachgeschaut. Er hat geschrieben: Gegen die Weltbesten so einen Knödel ins Tor reinschieben ist ja wohl ein Witz!) Ich habe ihm geantwortet, dass ich gerade auf dem Weg in ein Lokal war und ich es deswegen versäumt habe. Er schreibt zurück, ich solle es mir unbedingt anschauen, egal wie. Jetzt habe ich es also gesehen, das zweite Tor, und es gefällt mir schon ganz gut. Aber eben nicht soo gut. Hätte ich es live mitbekommen, hätte ich vermutlich gesagt, dass wir gerade das Tor des Jahres gesehen haben. Aber jetzt waren meine Erwartungen natürlich schon sehr hoch und jetzt ist das Tor halt "nur" genial. Ich bin enttäuscht und im selben Moment denke ich mir, dass es absurd ist, von so einem Tor enttäuscht zu sein, weil man sich noch mehr erwartet hatte. Also schäme ich mich ein bisschen.

Inzwischen ist der Franz aber, nachdem er mir das fertige Bier mit anständiger Schaumkrone hingestellt hat, in den Keller gegangen. Jedes Mal, wenn er da hinuntergeht, hoffe ich im Stillen, er möge auch wieder zurückkehren. In seinem Alter die engen, dunklen Kellerstiegen... also ich hab da immer ein bisschen Angst um den Franz. Er kommt aber gleich wieder herauf und hat ein gerahmtes Bild in der Hand. Es ist eine Karikatur, die den Franz zeigt, wie er in der Franziskanergasse steht. Neben ihm steht Bode Miller und auf seinem Arm sitzt Lionel Messi. Die Karikatur ist wirklich gut, ein bekannter Karikaturist hat dem Franz das Bild einmal zum Geburtstag geschenkt. Stolz zeigt der Franz die Karikatur in die kleine Runde. "Jetzt ist es Zeit, dass du das einmal aufhängst!", sage ich zum Franz. Der Franz grinst und ich sage noch, das Bild kommentierend: "Der größte Wirt von Graz und der größte Fußballer der Welt!", und grinse den Franz an. "Obwohl er eigentlich der kleinste ist!", lacht der Franz.

Mittwoch, 27. April 2011

Zeller Weisheit

"Wonns vo da Schmittn a gou a so schwoschz owaschaut, moggst dein Beagjanka glei wieda inn'd' Truchn eichirama, wei den brauchst heid neama!"

Landmarken: Das Altenmarkter Lagerhaus

Wenn man bei Altenmarkt im Pongau vorbeifährt, dann fällt einem sofort ein Gebäude auf, dessen solide Grazie sich auf die natürlichste Weise ins Landschaftsbild einfügt. Nicht so wie der Pongauer Dom zu St. Johannis, der ein bisschen protzig wirkt da auf seiner Anhöhe droben, wo er herrisch über den mickrigen Gemeindehäuseln thront - wie ein kleiner St. Stephan für ehemalige Bergbauerndörfer.
Nein, in Altenmarkt geht es subtiler zu, da wird mit dem feinen Strich gearbeitet. Im Übrigen ist es keine Kirche, die sich da so ästhetisch hervortut, wie es in den meisten Gegenden der Fall ist. Man denke hier nur an St. Georgen im Pinzgau, wo ein liebes kleines weißes Kircherl eine gar malerische Anhöhe schmückt. Aber in Altenmarkt ist es auch keine Burg, kein Schloß oder eine Ruine, die einen daran erinnert, dass hier früher einmal wichtige Persönlichkeiten ansässig waren. Beispiele: Kaprun, Mittersill, Werfen und auch Rottenmann mit der Burg Strechau, deren strenger Name nicht darüber hinweg täuschen kann, dass es sich bei dieser Burg um die einzige Perle des Paltentals handelt, der sogenannten "Selbstmördergegend" um Trieben und Treglwang.

Zurück zu Altenmarkt und seiner architektonischen Perle. Es ist der Turm vom Lagerhaus, der sich nahe der eigentlichen Hauptstraße befindet - der Salzburger Straße nämlich, welche die wichtigste Straße in Altenmarkt ist, weil sie am Orstkern vorbei und nicht etwa hinein führt wie die irrtümlich so bezeichnete "Hauptstraße", die tatsächlich so heißt und geradewegs ins Verderben, nämlich nach Altenmark hinein, dafür aber auch näher am Lagerhaus vorbei führt. Egal, zu nahe will der geübte Lagerhaus-Connaisseur dem Objekt der Begierde auch gar nicht kommen. Wie man sich vor einem schönen Gemälde in einem zweckvollen Respektsabstand positioniert, so kann man auch erst die raffinierte Schönheit des Lagerhausturms vor der Kulisse der Altenmarkter Radstädter Tauern ganz begreifen, wenn man ihn von der Salzburger Straße aus betrachtet.

Dass die Salzburger Straße dann geradewegs nach Radstadt führt, nach dem die Tauern in dieser Gegend benannt sind, ist vielleicht Zufall. Jedenfalls haben es die Altenmarkter nicht gern, wenn man von Radstadt spricht, von jener selbsternannten Sportstadt, deren Wahrzeichen mittlerweile nicht mehr die vollkommen durchschnittliche romanischgotische Elendskirche ist, sondern die Brücke, die über die Straße führt, auf der ein Willkommensgruß und eine Internetadresse sowie der Titel "Sportstadt" derart verwirrend einander den Rang um Geltung ablaufen, dass man, wenn man unter der Brücke durchfährt, nicht weiß, ob man sich in Radstadt, in Sportstadt oder auf einer Webseite befindet. Ansonsten gilt für Radstadt nur: Geradeaus geht's nach Kärnten, rechts geht's nach Graz und Wien.

Ja, der Lagerhausturm von Altenmarkt, er geht einem nicht mehr aus dem Sinn, hat man ihn einmal gesehen: eine gelblich-braune Fassade und ein Abschluss aus Holz, dessen Form an einen Wachturm erinnert. Wir fragen uns, wer hier wohl über wen wachen mag. Der Bauernbund über die Gemeinde? Das Lagerhaus über die im Haus gelagerten Sachen? Für den Vorbeifahrenden, das Lagerhaus aus sicherem Abstand bewundernden Kenner bedeutender Landmarken, hat diese Wachturmästhetik zunächst etwas Beunruhigendes. Doch die relative Ödnis, von der das Altenmarkter Lagerhaus umgeben ist, lässt wissen: Hier gibt es nichts zu befürchten, nichts zu beobachten, ergo nichts zu überwachen. Vielmehr ist das Bauwerk Selbstzweck, es zieht die Blicke auf sich selbst, anstatt neugierigen oder überwachenden und strafenden Köpfen Ausblick zu sein.

So fährt man ein wenig wehmütig am Altenmarkter Lagerhausturm vorbei und malt sich aus, wie es denn dort an einem Samstag Vormittage zuginge, wenn um Punkt 12 von der Feuerwache herüber die Sirene ertönt und sich die jüngeren Altenmarkter gegenseitig angrinsen und feixen, dass das jetzt das Zeiche wäre, dass das Lagerhaus zusperre, während vor dem Lagerhausturm die Bauern noch die sogenannten "letzten Besorgungen" erledigen, ehe das Wochenende ihnen die Seele trübe macht. Sicher laden sie noch geschwind säckeweise Dünger auf die Anhänger ihrer Steyr-Traktoren (einige Pongauer Rednecks ließen sich vielleicht auch zu einem amerikanischen Fabrikat, einem grünen John Deere, überreden), haben noch Zeit für den einen oder anderen kühnen Spott über die Landwirtschaft, die Frau oder eben auch das Gefährt des Kompagnons und verabreden sich schließlich, den Traktor anstartend und deswegen laut gegen die sprotzelnden Motorengeräusche anschreien müssend, zum Stammtisch.

Doch meist liegt das Lagerhaus still da, wie ein Mahnmal aus früheren Zeiten. Und der Turm steht einsam in der Landschaft, mehr zum Hohn als zum Gedächtnis. Böse Zungen behaupten, er ähnle jenem unsäglichen Türmlein, das aus der Mitte des Schlosses Trautenfels bei Pürgg im Ennstal wie ungefragt herausragt und dessen Optik tatsächlich an die "bösen Zeiten" erinnert, als Wachtürme noch von grimmigen Wärtern besetzt waren und ihre traurige Funktion zu erfüllen hatten. Doch mit diesem "KZ-Turm", der das Schloss Trautenfels so grausig entstellt, hat der Lagerhausturm in Altenmarkt nichts gemein. Er steht für die stumme Einfalt des ländlichen Lebens, für die Idylle einer kleinen Marktgemeinde, deren Ruhm, welchen ihr das Skigebiet Altenmarkt-Zauchensee eingetragen hat, einst gemischte Gefühle unter der Bevölkerung weckte. So gesehen ist das Lagerhaus samt Turm die letzte Bastion des ehrlichen Altenmarkters: Ort des Rückzugs und der Besinnung gleichermaßen und zudem ein Blickfang in der sonst eher langweiligen, autobahnzerfahrenen Landschaft. Gott schütze unser Lagerhaus und besonders das Lagerhaus in Altenmarkt!