Montag, 31. Oktober 2011

Der Berg als Stein des Anstoßes

Letztens wurde in einem Seminar diskutiert, warum Menschen auf Berge steigen. Mit allen möglichen Antworten kamen da die Seminaristen daher, die einen mehr, die anderen weniger überzeugend. Gewiss kann man hier viele Motive geltend machen, mir aber schien just Francesco Petrarcas (1304-1374) "Brief an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro in Paris" den treffendsten Beweggrund zu nennen. Er sei, so schreibt Petrarca, den Mont Ventoux hinaufgestiegen, nicht nur um die "ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen", sondern vor allem weil der Berg ihm "fast immer vor Augen" steht. Seit seiner Kindheit sei er ihm im Weg gewesen...

An Österreich und der Schweiz merkt man, wie Bewohner eines gebirgigen Landes mit jenen Erhebungen umgehen, die sie von jeher eingrenzen: Sie steigen drüber hinweg oder graben durch sie hindurch. Das reine Hinaufsteigen des Schnapserls wegen, das man beim Gipfelkreuz trinkt, ist eine Nebenerscheinung, die freilich heutzutage als das populärere Motiv gelten mag. Aber im Grunde will man die "Scheißberg" aus dem Weg haben. Zumindest kurzfristig. Nach dem Be- und Übersteigen kann man ja ohnehin wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren und sich wohlig eingesperrt fühlen. Das Bewusstsein aber, dass man schon oben und drüber hinweg war, das bleibt und beruhigt ein wenig.

Etwas wenigstens einmal getan zu haben, damit das Gewissen eine Ruh' gibt: Das ist der Keim des menschlichen Fortschritts. 90% der Menschen machen 90% der Sachen, die sie einmal ausprobieren, sowieso nie wieder. Andere verlieren sich hoffnungslos in der Sucht nach der Tätigkeit, die sie für sich entdeckt haben und gehen vielleicht sogar daran zu Grunde. Nicht selten ist der Stein des Anstoßes eine simple Störung bzw. ein Gestört-Sein-von-etwas, das zu einer Ausgleichshandlung führt, die dem Handelnden nicht selten einige Mühe kostet. Irgendwo mischt sich da noch Ehrgeiz dazu, irgendwo ein sportlicher Gedanke (was ist das überhaupt?) und schon hat man ein Projekt, das es zu bearbeiten und abzuschließen gilt. Und bevor man das nicht gemacht hat - oder gründlich daran gescheitert ist - gibt es nichts Anderes oder Wichtigeres.

Petrarca hat mit Mühen den Gipfel erklommen und hat sich dann selbst daran erinnert, dass er lieber wieder heimgehen und den Augustinus lesen sollte, er sich nicht mit den rein äußerlichen Dingen beschäftigen, sondern das Auge lieber auf die geistigen Gebirge richten sollte. Dass ihm aber der Ausblick gefallen hat, muss er dennoch - fast schon beschämt - zugeben. So erinnert mich der italienische Literat irgendwie an meinen letzten Berggang, und dass ich, nachdem ich endlich oben war, es doch ein bisschen genießen konnte, obwohl ich zuerst nur hinaufsteigen wollte, um zu erkennen, dass sie nicht alle gänzlich unüberwindbar sind, die Berge.

Ich frage mich nur, wie oft die Bergmenschen auf die Berge hinaufrennen mussten, bis sie kapiert haben, dass das, was man da oben sieht, nicht nur betrachtenswert, sondern eben auch bestaunenswert ist. Denn die Anschauungsweise eines Georg Simmel war wohl nicht von Anfang an kulturelles Gemeingut (nicht nur, weil sie sich aus der Differenz zwischen alpinen und nicht-alpinen Raum-Erleben speist).
Jedenfalls sollte man beim nächsten Berggang auch einmal versuchen, das Gefühl einzufangen, das man abseits des Wohlgefallens an der Gegend und dem befriedigten Ehrgeiz verspürt: Jenes nämlich, dass man den "Scheißberg" endlich aus dem Weg hat.

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Wenn das die Alten wüssten!

"Goethe! Schiller!", schreit der Bollwerk-Bub unermüdlich. Er habe sie gelesen, sagt er. Zum Beweis zitiert er den Anfang von Faust "Habe nun ach! Philosophie...", dabei reißt er seine Augen samt erweiterten Pupillen weit auf. So hat sich das der Goethe nicht vorgestellt, denke ich mir. Dass da einer mit blondierten Haaren, Ohrringen, tätowiert und mit New-Yorker-Klamotten in einem Lokal steht und ihn zitiert. Oder vielleicht schon - vielleicht würd ihn ein moderner (noch lebender) Goethe als eine zeitgenössische Werther-Figur akzeptieren. Ich habe da aber so meine Zweifel.

"Faust - der Tragödie erster Teil!", verkündet der Bub. Ich frage ihn, ob er auch noch was anderes könne, weil sowohl "Faust - der Tragödie erster Teil" als auch der Beginn von Fausts erstem Monolog, das sei beides vorne und hinten auf dem Reclam-Hefterl zu finden. Um das zitieren zu können, sage ich ihm, reiche es, wenn man das Bücherl nur lange genug unaufgeschlagen vor sich liegen hat und einfach nur draufstarrt - am Klo zum Beispiel. Natürlich bin ich ihm nicht böse und tatsächlich sage ich "Hefterl" und "Bücherl", benutze also ganz bewusst Diminutive, die man Kindern zumuten kann. Das klingt lieb und verständnisvoll, verfehlt aber seine Wirkung, denn der Bub ist irgendwie ganz erbost über meine Anschuldigungen.

"Auerbachs Keller!", sagt er und weiter nichts. Ich fasse zusammen: Bis jetzt hat der Bub die Namen von Goethe und Schiller zitiert, behauptet, er habe beide gelesen (meint er - in metonymischer Wendung - beider Gesamtwerk?), dann hat er die Vorder- und Rückseite des Reclam-Hefterls zitiert. Auerbachs Keller kennt er auch. Man hat es also anscheinend mit einem Experten zu tun! Leider stellt sich bei genauerer Nachfrage heraus, dass sich das Expertentum des Buben auf das Sozialgefüge im Bollwerk beschränkt. Goethe und Schiller habe er in der Schule (sic!) gelesen. Es habe ihm aber gefallen.

Jemand sagt ihm, dass ich Germanist sei, also bittet er mich, ihm weitere Lektüreempfehlungen zu geben. Ich zähle ihm widerwillig alles auf, den ganzen Kanon, rate ihm davon ab, irgendwas zu lesen, was früher als im 18. Jahrhundert geschrieben wurde, sage ihm, dass die Traditionslinien des Realismus im 20. Jahrhundert interessanter sind als der bürgerliche Realismus, dass er sich selbigen also sparen könne, außer er erhebe Anspruch auf Vollständigkeit. Besonders empfohlen habe ich ihm natürlich Büchner, Kleist, Kafka und Musil - sie alle kennt er nur vom Hörensagen, seine Augen leuchten. Lyrik wolle er auch lesen, ich warne ihn also vor Hölderlin, spreche von einem "Wagnis", gleichzeitig auch von einer "lohnenden Herausforderung" - ich komme mir ganz deppert vor.

Abschließend sage ich ihm, dass es aber auch Leute gebe, die behaupten, dass, wenn man nur Goethe und Schiller gelesen habe, es eigentlich reichen würde. "Goethe! Schiller!", könne er dann den Rest seines Lebens brüllen und mit der entsprechenden Lektüreerfahrung würde er sich damit auch nicht gänzlich lächerlich machen. "Man kann ja nicht alles wissen wollen", sage ich ihm noch aufmunternd. Der Bub scheint mir das nicht ganz glauben zu wollen und das, obwohl er den Faust gelesen hat...
Ich bin froh, das leidige Gespräch zu einem versöhnlichen Abschluss gebracht zu haben und der Bub erzählt mir, wie er am Jakominiplatz von drei Bollwerk-Typen verprügelt worden ist. Dass er weggerannt sei, nachdem er zwei davon KO geschlagen hat, dass er aber selber eine gefangen habe und ich damit rechnen müsse, dass jeden Moment ein Dübel aus seiner Stirn wachse.

Zwei Stunden später, bevor der Bub das Lokal verlässt, überprüfe ich seine Stirn - kein Dübel weit und breit, nicht einmal rot ist es irgendwo. Ein bisschen enttäuscht bin ich schon. Gleichzeitig aber empfinde ich aufgrund des Gedankens, dass da draußen ein Goethe lesender vorgeblicher Bollwerk-Prügler seine Kreise zieht, dankbare Behaglichkeit.

Daheim muss ich auf facebook lesen, wie sich jemand über den Satz "Das Nichts nichtet" amüsiert (*lol* ;-) *gg*). Den Satz habe man damals einmal bei "Echt fett" gehört.
Wenn Goethe schon nicht wegen des Bollwerk-Werthers im Grabe rotiert, so würde zumindest der Heidegger ein griesgrämiges Gesicht ziehen, wenn er erführe, dass die Jugend seine Sätze aus einem situationskomödiantischen Fernsehprogramm mit dem Namen "Echt fett" kennt und sie mit Emoticons und äußerste Heiterkeit anzeigenden Internet-Akronymen versieht. Wenn die das alles wüssten...

Dienstag, 11. Oktober 2011

Über das Wetter

"Komisch warm" sei es heute gewesen, so die Leute. Ich kann da nur zustimmen, wenn mir auch im Bezug auf das Wetter der Humor immer ein wenig unterbeleuchtet vorkommt. Überhaupt kennen die Leute beim Wetter wenig Spaß. Wollte einer einmal das allgemeine Phänomen der Unzufriedenheit erklären, er müsste untersuchen, ob sein Ursprung nicht im Wetter - besser gesagt im Reden über das Wetter - zu finden ist.

Freud und Leid hängen ja immer sehr eng mit dem zusammen, was eintrifft, vor der Folie dessen, was man sich erwartet hat. Bei meteorologischen Phänomenen kommt hinzu, dass die bescheidene Prognostizierbarkeit uns das Gefühl gibt, das Wetter missverhalte sich, wenn es nicht so wird wie vorhergesagt. Das ist dann ein "blödes Wetter", eines nämlich, das man nicht einschätzen kann. Über ein solches regt man sich auf, denn es macht einem die Kleidungswahl oder die Entscheidung, ob man einen Schirm mitnehmen soll oder nicht, schwer - im extremen Fall unmöglich. (Dass es kein schlechtes Wetter gebe, sondern nur schlechte Kleidung, das ist eine allzu deutsche Weisheit, deren praktische Unbrauchbarkeit bei aller schlaumeierischer, nach außen getragener Breitbrüstigkeit wir in solchen Situationen gleich erkennen.)

Wir mögen es auch nicht sonderlich, wenn sich das Wetter nicht entscheiden kann. Wenn es uns früh morgens noch Sonnenschein verspricht, es sich dann zu Mittag anders überlegt und uns einen fröhlichen Platzregen beschert, nur um danach wieder Hoffnungen zu wecken, dass es "doch noch besser" werde. Dann aber keimt Wind auf und es bleibt bedeckt, vielleicht regnet es noch ein, zwei Mal. Hach, das regt einen auf!

Gerne machen wir uns die Vorstellung von einem saisonalen Wetterverlauf, demgemäß es im Winter kalt und im Sommer gefälligst warm zu sein hat. Die Übergangsperioden dazwischen nehmen wir einfach so hin, manchen Phänomenen geben wir eigene Namen. "Aprilwetter" zum Beispiel (aber wehe, wenn das schon im März eintritt oder gar erst im Mai!) oder "Altweibersommer". Gibt es dann Schnee im Juli oder fängt selbiger im Februar schon an zu schmelzen, dann "spielt das Wetter verrückt". Gott sei Dank gibt es jetzt den Klimawandel, der uns einander apokalyptisch zunickend sagen lässt "Jaja, die Zeiten ändern sich!"

Warum aber war es heute "komisch warm"? Es hatte doch vor etwas weniger als einer Woche noch ein äußerst warmes Herbstwetter, mit welchem verglichen es heute wahrscheinlich "etwas kühler" gewesen wäre. Nur war da der Kälteeinbruch, ein Temperatursturz von mehreren Graden Celsius, der uns hoffen machte, dass nun der Herbst richtig beginne. Dass die "kalte Jahreszeit" anbrechen würde - mit Wind, Regen und herumwirbelnden Blättern. Jetzt hat es sich das Wetter also doch wieder anders überlegt? Oder war das nur ein kurzer Jux, ein schlechter Schmäh, eine Finte, die uns auf die falsche meteorologische Fährte führen sollte?

Um diese Frage zu beantworten, muss man ironischerweise wieder einmal den Wetterbericht konsultieren. Jene allgemeine Dienstvorschrift für das Wetter also, der wir prinzipiell nicht trauen, von der aber immer alles abhängt: Entweder das Wetter verhält sich nicht entsprechend (es ist wärmer/schöner als gedacht), oder die Meteorologen sind Lügner (es ist kälter/schlechter als gedacht). Weil sich also hier die Katze wieder in den Schwanz und der Wetterfühlige in den Arsch beißt, möchte ich hier die Empfehlung abgeben, sich mit dem Wetter im Diskurs gar nicht mehr auseinanderzusetzen. Dabei üben wir nämlich bloß das Belegen von uns unerklärlichen Situationen mit unpassenden Adjektiven und grämen uns über Dinge, die keinen Gram - ein edles, allzu menschliches und deshalb schützenswertes Gefühl - wert sind. Kant hat nämlich, so viel ich weiß, nicht viel über das Wetter zu sagen. Das allein soll uns schon ein gewisser Hinweis sein...

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Freuen würde ich mich, fände irgendwer ein Kant-Zitat zum Thema Wetter!

Freitag, 7. Oktober 2011

Keine Zeit für Lyrik?

Da stellt man sich hin und wieder die Frage, was eigentlich mit der Lyrik los ist, ob das noch jemanden interessiert, ob es da noch Leute gibt, die sinnvolle Lyrik produzieren und überhaupt... Und dann bekommt ein unbekannter schwedischer Lyriker, dessen Werk aus 11 schmalen Gedichtbänden besteht, den Literaturnobelpreis zugesprochen. Ich finde das toll und irgendwie auch schade. Toll, weil es zeigt, dass Lyrik also doch noch da ist und es anscheinend noch beachtenswerte Lyrik gibt. Schade, weil das Lesen gerade von Lyrik-Übersetzungen ein zweifelhaftes Vergnügen mit fragwürdigem Wert ist.

Das Schöne an Lyrik ist ja, dass sie uns mit relativ wenigen Worten viel sagen kann. In einer Welt, in der uns andauernd mit möglichst vielen Worten im Grunde überhaupt nichts gesagt wird, ist das Gedichte-Schreiben zu einer Tugend verkommen, der höchstens noch idealistische Jungschriftsteller die Stange halten. Oder aber ältere Schriftsteller, die es sich leisten können bzw. die ihr Werk sowieso nicht allzu ernst nehmen. Freilich ist dieser Umstand auch der grundsätzlichen Frage nach den Konsumenten von Lyrik geschuldet: Wer liest denn noch Gedichte?

Vielfach wurde Poplyrik als die moderne Form des Gedichts ausgemacht. Vor allem mit dem Hinweis auf die liedhaften Ursprünge der Lyrik schien es, als wären die Texte zeitgenössischer Popsongs die verdienten Nachfolger der letzten großen lyrischen Bemühungen, die sich irgendwann in die 70er, vielleicht auch noch in die 80er Jahre datieren lassen. Nicht-Germanisten sind aus dieser Zeit höchstens noch Erich Fried oder Hans Magnus Enzensberger ein Begriff. Beides Dichter, die zu diesem Zeitpunkt den Zenit ihres lyrischen Schaffens schon mehr oder weniger überschritten hatten.

Was leisten aber Popsongs nun wirklich auf lyrischem Gebiet? Freilich gibt es da oder dort die eine oder andere knackige Zeile, einen Vers, der einen Gedanken ziemlich auf den Punkt bringt. Das taugt dann für ein Facebook-Statusupdate oder als Sinnspruch, den sich Studenten gegenseitig auf Mappen oder Taschen kritzeln. Auch wenn es die bekannten Ausnahmen gibt (ich erinnere an den jedes Jahr aufs neue als Favorit auf den Nobelpreis geltende Bob Dylan), das gros der Liedertexter versteht sich in erster Linie als Musiker. Und jenen Musikern, die ihr lyrisches Handwerk tatsächlich zu verstehen scheinen, die also eigentlich in erster Linie Dichter sind, ist nur bescheidener kommerzieller Erfolg vergönnt. So viel zum Thema Breitenwirksamkeit von moderner Poplyrik.

Ich möchte so weit gehen und dem großen Pumuckl widersprechen, der gemeint hat, dass alles, was sich reime, gut sei. So bewies eine Wochenendausgabe des Standard vor ein paar Jahren, wie platt (wie unlyrisch) die Songtexte der damaligen Sommerhits eigentlich sind: Ein paar angesehene Germanisten (allen voran der mittlerweile verstorbene Obergermanist Wendelin Schmidt-Dengler) analysierten – freilich mehr oder weniger ironisch – für den Standard besagte Texte. Das Ergebnis war weder für die Lyriker (Christina Stürmer et.al.) noch für die österreichische Germanistik besonders schmeichelhaft. Für geschätzte 90% der zeitgenössischen Songtexte gilt leider – auch wenn sich alles schön reimt und das Versmaß stimmig ist –: Es ist zu wenig da. Liedertexter sind keine Dichter, weil sie selten etwas verdichten. Meistens ziehen sie einen einzelnen Gedanken unnötig in die Länge und bedienen sich dabei des einfachsten und unaufregendsten sprachlichen Materials.

Dabei ist Lyrik das genaue Gegenteil: Sie ist das Vermitteln von Etwas über Sprache, ohne dabei besonders kommunikativ sein zu müssen. Das ist oft mühsam, weil schwer bis gar nicht verständlich (Hölderlin!). In den meisten Fällen aber lohnt sich der Aufwand für den Leser. Lesen wir Lyrik, so lernen wir am meisten über Sprache und wie sie funktionieren kann (oder auch nicht funktioniert). Das bewusst gesetzte Wort, die bis zur Unkenntlichkeit verschobene Metapher, die einen einzelnen Gedanken zu packen und nie mehr loszulassen vermag, ein Rhythmus, der den Leser stolpern lässt, um ihn gleichzeitig unaufhaltsam weiterzuschleifen; und all das auf kleinstem Raum mühevoll und sorgfältig hingeschrieben: das ist Lyrik – kleine Sprachkunstwerke, die wir immer und immer wieder lesen können, ohne dass uns dabei langweilig würde.

Das Lesen von Büchern ist noch lange keine ausgestorbene kulturelle Praxis. Im Gegenteil scheint es mir oft, als würden die Leute immer mehr und immer dickere Bücher lesen. Kindle und Co. verbinden das Mühsal mit dem Vergnüglichen und bringen Menschen dazu, wieder Texte zu lesen, die länger sind als ein Scrollen mit der Maus nach unten. Aber doch schwappt es von allen Seiten auf Leser wie Nichtleser ein. Textlawinen überrollen uns täglich – so genau wollen wir das, was uns da aufgetischt wird, gar nicht wissen. Wir picken das heraus, was unseren bescheidenen Hunger nach Information still. Platz für eine achtsame Auseinandersetzung mit Sprache bleibt da nicht. Lyrik ist irgendwie unmodern, obwohl sie knapp und kurz – also tweetig – ist.

Freilich gibt es zeitgenössische Lyriker, die zeitgenössische (oft sogar relevante) Gedichte schreiben. Aber gibt es auch den zeitgenössischen Leser, der sich Zeit für Lyrik (es muss ja gar nicht die moderne sein) nimmt? Sich mit einem Text auseinanderzusetzen, über die Erfassung, der vom Text angebotenen basalen Information, hinaus, ist unpopulär, schwierig, langweilig. Mag sein, dass das Lesen von Gedichten unzeitgemäß ist. Aber die bewusste Auseinandersetzung mit Sprache, ihren Mitteln und Wirkweisen schult nicht nur das Denken, sondern auch den eigenen Sprachgebrauch und die Sprachkritik. Das kann uns nicht nur helfen, im gegenwärtigen Informationsdschungel den Überblick zu bewahren, sondern auch das Wahre, Schöne, Gute vom restlichen Datenmüll zu unterscheiden.

Das Schreiben und Lesen von Gedichten ist eine intellektuelle wie auch eine ästhetische Schule. Daher kommt auch die damit verbundene Mühseligkeit. Aber es handelt sich um eine Mühseligkeit, die sich bezahlt macht. Dass ein Lyriker den Nobelpreis erhalten hat (ob gerechtfertigt oder nicht, spielt keine Rolle), soll uns daran erinnern, dass Literatur auch (oder vor allem) im Stillen, Kleinen und Sorgfältigen stattfindet, und nicht nur im ewig gleichförmigen Plätschern der Wörter und Floskeln.

facebook

 Manchmal blättert
– eigentlich scrollt - man
durch die Liste von
Freundschaftsvorschlägen.

Sei es, weil man sich,
gepiesakt von echten Menschen,
einsam und ungeliebt fühlt.
Oder sei es, weil man sich einfach gerne
durch fremde Gesichter und Namen wühlt.

„Ach, wie nett“,
denkt man sich dann,
und klickt die bekannteren
Köpfe an.

Doch meistens
erspäht man die miesen Visagen
von Quälgeistern, Deppen
und völlig nutzlosen
Loiseln und Seppen:

Den einen gemieden,
vom ander'n geschieden,
die eine vermisst,
die and're geküsst...

So viele andere, fremdere Leben,
die mit dem eig'nen facebook-Profil
nichts mehr zu tun haben mögen!

Die Freundschaftsvorschläge also bleiben
- bei aller künstlicher Netz-Hawarie -
eine äußerst traurige Galerie!

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Bescheidener Beginn eines Semesters


Als angehender Doktorand meint man ja manchmal, arrogant sein zu können. Deswegen ist man ein wenig enttäuscht, wenn man die Studien- und Prüfungsabteilung betritt und sich dort anscheinend alles um die blutigen Anfänger dreht. Um die 11er-Matrikelnummern nämlich. "Erstinskription" steht über fast jedem Schalter. Nirgendwo steht "Nur für Doktoranden" oder "Mag. only". Für's Anstellen ist man sich zu schade, daher verlässt man den Raum wieder und geht lieber einen Kaffee trinken. Da man mit der Inskription noch bis 20. Oktober oder gar länger Zeit hat, beschließt man, erst übermorgen wieder hinzugehen. Dann allerdings früher, und nicht erst um halb elf, wenn die Primetime für studentische Langschläfer, die sich fälschlicherweise als Frühaufsteher begreifen, beginnt.

Über den Campus schreitend - mit Magistertitel schreitet man vermeintlich, vorher schlurfte man - betrachtet man abschätzig das so genannte Studentenpack, vor allem jene Exemplare, welche die Individualität zu Ungunsten der Ästhetik ausleben und also besonders studentisch aussehen (wollen). Dann ärgert man sich über sich selbst und seine falsche und völlig unbegründete, noch wichtiger aber: vollkommen unlegitimierte Arroganz, und fragt sich, was aus einem geworden ist.

Wenig später sitzt man in kurzen Hosen und ohne T-Shirt an einem unaufgeräumten Schreibtisch und isst halb verbrannte Fertigpizza. Dann die große Epiphanie: So kann es nicht weiter gehen, es muss sich etwas ändern, etc. (Kennt man ja aus den vorigen Semestern!)
Man erinnert sich an das halbfertige Bachelorstudium und sucht im Online-Katalog der Lehrveranstaltungen nach dieser Einführungsvorlesung, die man seit neuestem machen muss und die man selbst noch nicht gemacht hat. Die Lehrveranstaltungsinformation macht darauf aufmerksam, dass die mitzubringenden Voraussetzungen "Maturaniveau und gesunder Hausverstand" sind. Man weiß nicht, ob man sich über diese Mitteilung wundert, oder eher darüber, dass eine solche nicht überhaupt in jeder Lehrveranstaltungsbeschreibung zu finden ist. "Schlecht wäre es sicher nicht", denkt man schon wieder mit der Arroganz eines Magisters, der sich obendrein noch zu Schade ist, diesen peinlichen Titel im Namen zu führen.

Man informiert sich noch, was es sonst neues an der Fakultät gibt (man denkt ja jetzt transinstitutionell) und fragt sich, ob man für einen "einmaligen finanziellen Zuschuss für StudentInnen in aktuellen psychosozialen Notlagen" infrage kommen könnte. "Was es heutzutage alles gibt!", sagt man sich altklug, so als hätte man selbst noch die Zeiten erlebt, in denen man in Hörsälen rauchen durfte und es im Winter durch die geschlossenen Fenster schneite. Da das Chaos auf dem Schreibtisch aber nicht Ausdruck einer psychosozialen Notlage ist, sondern noch von den schwierigen Zeiten des ausgehenden Magisterstudiums zeugt, beruhigt man sich bald und sieht ein, dass sowohl die Arroganz des Magisters wie auch die Zukunftsangst des Doktoranden vorerst unbegründet sind.
Dann fällt einem noch der Anfang der DDR-Hymne ein: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt..." So sammelt man sich und macht reinen (Schreib)tisch. Möge das Semester beginnen!

Dienstag, 4. Oktober 2011

Heimkehr: Ein Berggang

Den unendlichen Weiten des amerikanischen Landesinneren entrissen, sitze ich im schönen Schmittental nahe des Zeller Sees am Balkon und starre auf die Berge. Unüberwindbar kommen sie mir vor, unglaublich grün, fast schon pervers bewaldet und irgendwie hinterlistig. Der Volksmund sagt ja, Bergmenschen würden sich oft eingesperrt fühlen und deshalb besonders gerne auf die Berge hinaufwandern, um diesen Gefühl wenigstens kurzfristig zu entfliehen; oder sie würden sich des Einsperrt-Seins wegen „wegtun“. Letzteres soll heißen: Aufgrund der wenigen Sonnenstunden in manchen Innergebirgstälern und des psychologischen Gefühls der Bedrängnis würde in den Bergmenschen oft ein suizidaler Drang entstehen. Selbst wenn das so wäre: Heutzutage fahren solariumgebräunte Menschen aus sogenannten Selbstmördertälern in schnellen Sportwagen hinaus ins Salzburgische oder Münchnerische und zelebrieren dort das heitere Leben. Umbringen tun sie sich dabei höchstens beim Zu-schnell-um-die-Kurve-Fahren: zu viel Schampus, zu viel Koks. Aber herrje, das soll sogar höchstrangigen Politikern passieren, und das alles hat mit Trübsinn und hohen Bergen nur ganz wenig zu tun...

Je länger ich auf die Berge schaue und je länger ich über die Bergmenschen nachdenke, desto mehr möchte ich auf einen dieser Berge wenigstens ein bisschen hinaufwandern. Es ist einen ja doch ins Blut „geschrieben“, dass ein Berg zum Hinaufgehen da ist und zum Von-oben-Herunterschauen. Flink habe ich meine Turnschuhe angezogen, die mir schon bei meiner Wanderung im Metnitztal gute Dienste erwiesen haben, und wähle eine unpopuläre Route auf die Sonnenalm, einem Forstweg im entlegensten Graben folgend, wo es abwechselnd nach Schnittholz und Forstmaschinen riecht.

Ich quäle mich durch den Wald den Berg hinauf, bleibe stehen, schaue auf die Uhr, blicke Hilfe suchend rings umher, überlege gar auf halbem Wege umzukehren. Aber starrköpfig sind sie ja auch, die Bergmenschen, also schleppe ich mich weiter. Letztes Jahr, so erinnere ich mich zurück, bin ich diesen Weg noch hinaufgeschritten, im reinsten Jägerschritt. Heute torkle ich halb bewusstlos vor Erschöpfung von Kehre zu Kehre und richte mein Wort an den Herrn, er möge den Weg bald flacher werden lassen.

So schäme ich mich vor mir selbst, als ich plötzlich ein Knacksen höre und weiter oben zwei Wanderer erblicke, die mir flotten Schrittes entgegen kommen. Da ich mit einem Blick erkennen kann, dass es sich bei den beiden um Deutsche handelt, reiße ich mich zusammen, wische mir den Schweiß aus dem vermutlich hochroten Gesicht und eile den steilen Forstweg hinauf, so als ob ich immer schon so gegangen wäre und auch vorhätte, den Rest des Berges sehr eilig bezwingen zu wollen (zu können). Da Deutsche es immer sehr gern haben, wenn man sie mit einem herzig herzhaften „Grüß Gott“ begrüßt (sie meinen nämlich, man würde sie als ebenbürtig akzeptieren, wenn man das tut), mache ich selbiges, um von meiner offensichtlichen Erschöpfung abzulenken.

Es stellt sich heraus, dass es sich um Sachsen handelt. Das beruhigt mich insofern, als mir die Sachsen als ein kerniges und tüchtiges Volk bekannt sind, die das Wandern noch als eine Tugend begreifen und nicht als ein leidiges Mühsal. „Kommen wir hier zur Jaga-Alm?“, fragt mich der Sachse freundlich. Wie immer amüsiert mich die bundesdeutsche Aussprache des Wortes „Jaga“, diesmal um eine sächsische Intonation bereichert. In solchen Situationen ist der Bergmensch bemüht, allen Klischees gerecht zu werden, und also lache ich kurz auf, bevor ich antworte. Dieses Lachen ist eine Mischung aus verwunderter Erheiterung und milder Nachsicht und will geübt sein – ich beherrsche es (so unbescheiden darf ich sein) perfekt. Daraufhin erkläre ich ihm in grober, aber für das Deutsche Ohr gerade noch verständlicher Mundart, dass er sich „ganz auf der falschen Seite“ des Berges befinde. Er sei wohl von oben her kommend rechts abgebogen? Das bestätigt der Sachse mit einem überaus sächsischem „Jawoll!“. Die Jaga-Alm befinde sich aber auf linken Seite, erkläre ich ihm. „Aha!“, sagt der Sachse ein wenig enttäuscht. Ich tue so als ob ich ihn und seine Frau begutachten würde und sage ihnen aufmunternd, dass mir scheine, dass sie beide gut „beinander“ seien und, unten angekommen, den Weg zur Jaga-Alm vom Tal aus angehen könnten – es seien von unten ja nur 20 Minuten. Der Sachse verzieht etwas den Mund. „Für Sie 15!“, füge ich noch hinzu, um sein Misstrauen ein wenig zu zerstreuen. Da grinst er, bedankt sich und wünscht mir noch einen guten Tag.

Ich eile weiter, bleibe aber, sobald ich die Sachsen aus meinem Blickfeld verloren habe, sofort stehen um Luft zu holen. Dabei verfluche ich den amerikanischen Lebensstil, der mir jegliche Kondition verkümmern ließ, und den versuche, das Brennen in meinen Beinen als wohliges Gefühl zu interpretieren. Dann erinnere ich mich aber daran, dass ein Amerikaner nie aufgeben würde und ich jetzt hier nicht als Österreicher auf den amerikanischen Lebensstil schimpfen und gleichzeitig auf gut österreichisch aufgeben kann. Deshalb quäle ich mich weiter.

Oben dann die gewohnt schöne Aussicht. Ja, toll ist es hier und staunen muss man schon, dass es einen solchen Flecken Erde usw... Ein wenig versöhnt mich der Blick ins Tal wieder mit meiner Heimat. Noch einmal kommt mir der Sachse in den Sinn, der die Jaga-Alm nur deshalb verfehlt hat, weil er den unwahrscheinlicheren Abstieg gewählt hat. Weil er eine Route gewählt hat, die sonst niemand wählt, ja, die die wenigsten überhaupt finden. Und Sachsen, die in unseren Wäldern unwahrscheinliche Wege beschreiten, gehören zu der Heimat genauso dazu wie der schöne Blick ins Tal und die geheimnisvollen Gerüche des Waldes. Dass das Fremde zur Heimat gehört, das wissen nur die Bergmenschen in den Tourismusgebieten. Und mag auch der eine oder andere darüber schimpfen, bestreiten kann es keiner, denke ich mir und beginne meinen knieweichen Abstieg.

Wieder unten angekommen, sitze ich erneut am Balkon und starre auf die Berge. „Das Erhabene!“, denke ich mir und muss lachen, weil ich immer an Immanuel Kant denken muss, wenn ich an „das Erhabene“ denke (was bei Gott nicht oft der Fall ist!). Und dann fällt mir ein, wie dieser Kant einmal behauptet hat, dass es überhaupt nur zwei Dinge gebe, die sein Herz berühren oder was auch immer: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, so er. Ich lache über die pathetische Übertriebenheit seines Satzes, obwohl mir klar ist, dass ich gerade auf die Berge schaue wie der Kant damals auf die Sterne und irgendetwas fühle. Auch, wenn es nicht das „moralische Gesetz in mir“ ist, ist es irgendetwas Wichtiges, etwas Beruhigendes. „Der Kant, der alte Depp“, sage ich mir. „Wenn der je aus Königsberg hinaus gekommen wäre und die Berge gesehen hätte, dann wäre ihm das moralische Gesetz auch wurscht gewesen.“

Und weil ich mich selbst dabei ertappe, wie ich in Gedanken Berge und Heimat mit dem Kant vermische, habe ich das Gefühl, wieder zu Hause und irgendwie bei mir selbst angekommen zu sein. Und das erheitert mich genauso wie es mich be(un)ruhigt.