Dienstag, 28. Juni 2011

Skizzen zu Wimbledon

Es regnet in Strömen - schwerer, prasselnder, englischer Regen. Da man aus den Regenpausen des allzu langen Herren-Finales von 2008 zwischen Roger Federer und Rafael Nadal gelernt hat, ist der Centre Court mittlerweile überdacht. Drinnen stehen sich an diesem Nachmittag Sabine Lisicki und Marion Bartoli gegenüber. Die Atmosphäre ist eigenartig: Man hört ein konstantes dumpfes Rauschen, das in regelmäßigen Abständen von anständigem britischen Applaus, erstaunten Uuuhs und Ooohs sowie gelgentlichem Lachen unterbrochen wird. Die Schläge der Spielerinnen hört man nur selten. Aufschläge und Smashes sind zu hören, aber schon die durchaus kraftvollen Drives von der Grundlinie gehen im Lärm unter, den der auf das Dach fallende Regen verursacht. Für die Spielerinnen ist das nicht einfach, vor allem, wenn es draußen donnert.

Sabine Lisicki hat für eine Frau ein ungewöhnlich schnelles Service. Bartoli ist anfangs von Lisickis Kraft überrascht. Lisicki schlägt auf, kurz darauf donnert es. Lisicki muss lachen. Das Publikum muss lachen. Bartoli lacht nicht. Bartoli hoppst nur herum; so konzentriert sie sich, so erhält sie ihren Flow aufrecht. Für Zuschauer wirkt das lächerlich und es nervt sogar ein bisschen.
Der Regen wird noch stärker. Mittlerweile kann man den Applaus der Zuschauer vom Regenrauschen nicht mehr unterscheiden. Man hat das Gefühl, der Applaus ist nicht enden wollend. Lisicki gewinnt den ersten Satz mit einer wunderbaren Inside-Out-Rückhand. Bartoli hoppst enttäuscht zur Bank und der Regen schwillt an. Nein, es ist doch das Klatschen, das anschwillt.

Vor dem Centre-Court-Stadion befindet sich der Henman Hill, jene Anhöhe, auf der sich jeden Tag hunderte Fans sammeln, die keine Tickets für die Stadien haben und auf einer großen Leinwand das Spielgeschehen verfolgen. Letztes Jahr hat man den Henman Hill kurzerhand in Murray Mountain umbenannt - natürlich nicht offiziell. Die Engländer dachten, das nähme etwas von dem Druck, der auf der britischen Nummer 1 Andy Murray lastet. Er soll jedes Jahr aufs neue Wimbledon gewinnen und damit der erste Brite seit 1936 sein, als Fred Perry als letzter sein Heimturnier gewann. Heuer hat noch niemand vom Murray Mountain gesprochen, obwohl es - wie jedes Jahr vor dem Viertelfinale - gut für Murray aussieht.
Jedenfalls sitzen auf dem Henman Hill an diesem Nachmittag im strömenden Regen einige Dutzend Fans in Regencapes. Das ist insofern bemerkenswert, als dass für den heutigen Tag keine Herren-Einzel angesetzt sind. Als sie sich selbst auf der Großbildleinwand sehen, schreien und klatschen sie. Auch die Zuschauer drinnen applaudieren, als ihnen die im Regen sitzenden Tennisfans gezeigt werden.

Das Gras am Henman Hill ist noch etwas grüner als jenes, das den Centre Court ziert. Nach der ersten Woche wurden vor allem die Stellen an und hinter der Grundlinie schon sehr in Mitleidenschaft gezogen. Dieses sandige Grau des beanspruchten Torfs, die Weiße Kreide der Linien, das noch satte Grün in den Aufschlagfeldern (am Centre Court wurde offensichtlich noch kein Doppel gespielt), die sonnengelben Bälle, das Himmelblau auf den Hemden der Linienrichter, das Grün und Lila des Wimbledon-Logos, welches auf den Spielfeldbegrenzungen prangt... Das ergibt eine in der Tenniswelt geradezu royale Farbpalette, die jeden noch so abgebrühten Profi demütig das Haupt senken lässt, wenn er den Rasen des Centre Courts betritt. Sogar Andy Murray, als er gestern auf das Spielfeld kam und sich vor der Royal Box verneigte, in der William und Kate saßen. Murray sagte anschließend, dass er, hätte er gewusst, dass die beiden anwesend sein würden, sich noch rasiert hätte. Ich glaube, dass Murray sich nicht für viele Leute extra rasiert...

Montag, 27. Juni 2011

Zeller Weisheit

"Wonnst Ofong Juli oiwei no nid bohn geeh moggst, oft weaschd des koa gscheida Summa nid! Oda a bsundass hoassa, so gwies ko ma des a nid sogn."

Sonntag, 19. Juni 2011

Landmarken: Das Metnitztal II

Es wandert sich im Metnitztal vortrefflich, sofern man weiß, wohin man muss. Wir haben den Vorteil, mit Ortskundigen unterwegs zu sein und so können wir es auch riskieren, der Warnung unseres Gastgebers zu trotzen und den Weg ohne wasserfeste Schuhe anzutreten. Die Wiesen sind noch feucht, ja, aber so schlimm wird es auch nicht werden, sind wir uns sicher. Ganz und gar nicht nach der Art des Wanderers gekleidet, stehen mein Beifahrer und ich achselzuckend vor dem Haus und sehen uns die Bergschuhe der übrigen Wanderteilnehmer an. Ich sehe aus wie ein Jogger, trage eine dunkelblaue Adidas-Trainingsjacke, eine lange Jogginghose und brandneue Nike-Laufschuhe, die ich an diesem Wochenende eingehen wollte. Respekt vor neuen, sauberen Schuhen ist mir fremd. Sie sollen bald so aussehen, als hätte man sie auch reichlich getragen. Mein Beifahrer steht mit beiden Händen in den Hosentaschen seiner Jeans da, er trägt zwar ein Wanderhemd, aber die Sneakers an seinen Füßen sprechen eine andere Sprache. Die Brille, mit der man ihn sonst nur auf seiner Couch an langen, verregneten Fernsehtagen liegen sieht, steckt lässig im Ausschnitt seines Hemdes. Irgendwie sieht er aus wie ein Ornithologe, der sich erst einmal einen ungefähren Überblick über die im Metnitztal heimischen Vogelarten verschaffen will, bevor er seine Forschung richtig angeht. Wir werden ob unserer lässigen Wanderausrüstung natürlich ausgelacht – was wir aber einsehen.

Zunächst geht es mit den Autos in irgendeinen Hinterwinkel eines Seitentals. Dort wohnt der „Alkfred“, wie man ihn hier scherzhaft nennt. Vom Haus des Alkfreds werden wir auf einem Anhänger über Waldwege gezogen. So lange, bis man nur noch mit einem Traktor weiterfahren könnte. Das Mitfahren auf dem Anhänger macht Spaß, aber der Spaß weicht bald der Verunsicherung: Keiner von uns weiß, wo wir sind und was mit uns passieren wird. Plötzlich beschleichen einen Gedanken der absonderlichsten Art. Man fragt sich, wie gut man den Gastgeber eigentlich kennt, sieht den anderen Einheimischen ins Gesicht, ob man ihnen trauen kann. Aber alle haben den gleichen gutmütigen kärntnerischen Gesichtsausdruck, der nichts verrät. Man steigt also vom Anhänger und verdrängt die bösen Gedanken, versucht sich auf die Wanderung zu freuen.

Etwas Anderes bleibt einem auch nicht übrig, denn man folgt hier keinem ausgewiesenen Wanderweg, sondern dem Ortskundigen. So geht man einfach quer in den Wald hinein, nach zehn Minuten kommt man auf eine Forststraße, die man ein bisschen entlang geht, bevor man wieder irgendwo in den Wald einbiegt. Am Boden erkennt man ungefähre Trampelpfade, die aber höchstens hie und da von Förstern beschritten werden, kein deutscher Wandertourist hat hier jemals seinen Fuß auf den Waldboden gesetzt – ein Gefühl, das man als Bewohner einer Tourismusregion zu schätzen weiß. So weht ein Hauch von Pioniergeist durch die Metnitzer Wälder, während wir uns Meter für Meter durch den Wald kämpfen.

Die Stimmung unter den Wandernden ist zwar gut, eine schöne Aussicht (Grundingredienz jeder Wanderung) ist jedoch nicht vorhanden. Zu schwer hängt der Morgennebel in den Tälern, zu schwach ist die Metnitzer Junisonne, um die Wälder dauerhaft vom Dunst zu befreien. Manchmal kann man einen blauen Streifen am Himmel erkennen, die Hoffnung auf schönes Wetter ist jedoch nicht von Dauer. Wir erreichen, nachdem der Wald durchquert wurde, eine breite Wiese, die uns zum letzten Anstieg führt, bevor wir den 2047m hohen Hirschstein erklimmen. Oben angekommen erwartet uns eine fast mystische Stimmung. Der Wind bläst den Nebel scharf von der Seite zwischen den zwei großen Felsen hindurch, die der steileren Flanke des Berges entwachsen und ihm, so versichert uns ein Einheimischer, den Namen eingetragen haben. Von unten sehen die zwei Felsen nämlich aus wie ein Hirschgeweih. Ganz sicher ist sich der Einheimische zwar nicht, wir glauben es aber dankbar.

Wir trinken ein Gipfelbier und machen uns, als wir ein tiefes Donnern aus dem Nebel heraus vernehmen, schnell wieder auf den Weg zurück ins Tal. Im großen Rucksack des Gastgebers scheppern die leeren Bierflaschen, ich und mein Beifahrer haben nasse Füße, was uns aber egal ist, denn wir haben mehr oder weniger bewiesen, dass man für den Hirschstein keine Bergschuhe braucht – nasse Füße hin oder her. Beim Haus des Alkfreds wieder angekommen, gibt es noch ein Bier. Am Weg vom Alkfred zu unserer Unterkunft, den wir abermals mit dem Auto zurücklegen, sehe ich einen alten Mann, der vor einer Hausmauer sitzt und schaut. Er sieht aus, als säße er hier schon Jahrzehnte. Er schaut unseren Autos nach, aber viele Autos kommen an seinem Haus nicht vorbei. Ansonsten schaut er geradewegs auf die bewaldeten Hügel vor ihm. Etwas Zufriedenes strahlt er aus, obwohl sich in seinem Leben nicht mehr so viel tut.

Später dann, bei der Grillerei, die unser Gastgeber veranstaltet, gibt es dann noch mehr Bier. Sorgenlos und ein bisschen müde sitzen wir auf überdachten Bierbänken. Es fängt an zu regnen, aber die Gesichter der Kärntner trübt das nur wenig. Es scheint, als könnte nichts diese Gesichter trüben. So mag es im Metnitztal vielleicht nie richtig warm werden, seine Bewohner aber tragen die Sonne im Herzen. Die einen sagen, das sei das Hirterbier. Die anderen sagen, das sei das Murauer Bier. Wieder andere meinen, das läge in der Kärntner Natur.

Zeller Weisheit

"Wonnst recht fü gwondat bist und da d'Haxn weh tann, hüft da oiwei a Fronzbronntwei oda a Manggeisoim!"

Freitag, 17. Juni 2011

Landmarken: Das Metnitztal I

Wir können, von der Murtalschnellstraße kommend, entweder über Murau oder über Friesach nach Metnitz fahren. Was sich zuerst anhört wie eine Entscheidung zwischen Skylla und Charybdis, entpuppt sich letztlich als Frage des Geschmacks. Da wir aber, wie wir hören, auf die eine Seite des Metnitztals müssen (Richtung Flattnitz nämlich), sei es gescheiter, über Murau zu kommen, wohingegen es, wenn man wieder aus Metnitz rausfährt, besser sei, den Weg über Friesach zu wählen – das sollten wir aber dann erst am nächsten Tag herausfinden.

Wir kommen also über Murau nach Metnitz bzw. dorthin, was alles als Metnitz gilt. Die Straße von Murau nach Metnitz ist lang und schmal, sie schlängelt sich über Anhöhen durch Wälder, von denen wir noch genug sehen sollten. Interessant ist, dass bis zur Grenze zwischen Steiermark und Kärnten die Straße recht schlecht ist, sobald man aber in das gelobte Land eingefahren ist, sie den Eindruck macht, als wäre sie erst vor wenigen Wochen asphaltiert worden. Hat dies mit dem vielen Geld zu tun, das die Kärntner haben? Oder hat es damit zu tun, dass die Metnitzer lieber nach Murau fahren als die Murauer nach Metnitz? Dass die Metnitzer also alles daran setzen, den Weg nach Murau möglichst schön und angenehm zu halten, wohingegen die Murauer froh sind, wenn sie nicht nach Metnitz müssen, und deswegen auch die Straße dorthin ein wenig vernachlässigen? Ich sollte später erfahren, dass die Kärntner Seite nur momentan die bessere sei, dass die zwei Gemeinden alle paar Jahre die Straße sanieren, und daher einmal der steirische, und ein dann wieder der kärntnerische Abschnitt neuer sei. Ich solle einmal im Winter die Strecke fahren, da sehe man, dass die Steirer ihren Abschnitt viel besser vom Schnee befreien, als es die Kärntner auf ihrer Seite tun.

Zuerst müssen wir aber zum Oberhofer Sportplatz. Den finden wir, so lautet jedenfalls die Anweisung, indem wir, an der Hauptstraße angekommen, in Richtung Flattnitz fahren – der Sportplatz komme dann irgendwann einmal auf der linken Seite. Seitdem wir aber von Murau weggefahren sind, schaut es gar nicht so aus, als käme irgendwann noch einmal irgendwas – von einem Sportplatz ganz zu schweigen! Jedenfalls finden wir die Hauptstraße und tatsächlich macht uns ein Schild auf jene Richtung aufmerksam, in welcher die Flattnitz liegt. Also biegen wir rechts ab und fahren. Wir fahren auf und ab, immer weiter in den Wald hinein, dann wieder aus dem Wald heraus, irgendwann sogar an einem Haus vorbei. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass da irgendwann noch einmal ein Sportplatz daherkommt“, murmle ich vor mich hin. Ob wir falsch sind? Andererseits können wir uns auch nicht vorstellen, dass, hätten wir irgendeine andere Richtung eingeschlagen, dort irgendwo ein Sportplatz aufgetaucht wäre. Seit gut 25 Minuten fahren wir nur zwischen Wäldern umher – ein Sportplatz scheint uns hier so undenkbar wie eine Würstelbude in der Sahara.

Dann aber, nach einer Linkskurve, erspähe ich plötzlich ein altes, graues Gebäude und davor, direkt an der Straße, das dunkle Grün eines vollgeregneten Fußballrasens. „Das muss es sein“, sage ich und werde langsamer. Mein Beifahrer meldet Zweifel an. Das könne es nicht sein, das sei doch kein Sportplatz. Ich entgegene, dass ich nicht glaube, dass wir noch etwas Sportplatzigeres finden würden als eben diesen kleinen Fußballplatz vor der Bruchbude, die sich als ehemalige Volksschule zu erkennen gibt. Oberhalb des Platzes, fast hinter der Schule, stehen ein paar Gestalten und irgendwo raucht es. Ich bin mir sicher, dass wir richtig sind, und tatsächlich haben auch schon unsere Gastgeber von uns Notiz genommen. Ich parke das Auto vor der Schule und wir steigen aus.

Es ist eisig. Dass sich Wälder im Sommer als kühle Zufluchtsorte für Hitzegeplagte eignen, hat im Metnitztal den Effekt, dass es hier vor lauter Wald gar nie warm wird. Zugegeben, es hat einen Temperatursturz gegeben und es ist bewölkt und feucht. Trotzdem ist es Mitte Juni und man fühlt sich vom Wetter ein wenig betrogen. Auch die Einheimischen meinen, dass es recht kalt sei. Ob es denn im Sommer nie richtig heiß werde, frage ich, halb im Spaß. Nein, so richtig heiß werde es eigentlich nie, sagt man mir. Ob auch das ein Scherz ist, kann ich den kärntnerischen Gesichtern nicht entnehmen, denn diese sind immer froh, und freundliche Gesichter sind schwer zu durchschauen. Wir stehen jedenfalls ein wenig bibbernd im Schlamm neben der Schule, etwas oberhalb des Fußballfeldes. Es hat geregnet und es ist wie gesagt ziemlich kalt, was aber die gute Laune der Kärntner ganz und gar nicht trübt.

Es hat am Nachmittag nämlich ein Fußballturnier stattgefunden. Oberhof I hat gegen Oberhof II gespielt. Ich glaube, auch eine dritte Mannschaft war dabei. Daraus muss sich dann der Turniercharakter ergeben haben. Wer gewonnen hat, weiß ich auch nicht, aber im Hintergrund singen ein paar Leute irgendein Jubellied. Seit dem Ende des Turniers wird gefeiert. Man hat neben der Schule ein Standl stehen, an dem Bier ausgeschenkt wird. Noch etwas weiter oben stehen ein paar Bierbänke und eine alte Tonne, aus der es herausraucht. Man hat sie mit Brennholz gefüllt und es steht eine Gruppe Männer um sie herum - sie wärmen sich. Das Bild erinnert mich an Obdachlose in einer amerikanischen Großstadt, es fehlen ihnen eigentlich nur die Fellmützen und die fingerlosen Handschuhe. Natürlich fehlt dem Bild auch die Großstadt. Stattdessen Wald, Wald, Wald, Fußballplatz, Werkstätte auf der anderen Straßenseite, alte Volksschule und wieder Wald. Forstwirtschaft sei wichtig in Metnitz, sagt mir jemand. Ich glaube es ihm.

Die Anwesenden sind alle ziemlich betrunken. Ein paar Mädels rutschen über den vollkommen verschlammten Abhang. Sie kichern und ziehen sich gegenseitig immer wieder in den Dreck. Der Rest steht herum und trinkt Bier; irgendwann gibt jemand eine Runde Jägermeister aus. Auch wir trinken Bier. Metnitz ist nämlich biertechnisch gesegnet, sagt man. Die Hirter- und die Murauerbrauerei liegen beide gleich in der Nähe. Egal was auch passiert, den Metnitzern geht das Bier so schnell nicht aus, da können die Sommer kalt sein, wie sie wollen. Uns wärmt das Bier nur wenig, trotzdem müssen wir noch ein zweites trinken, bevor wir uns zum Haus unserer Gastgeber begeben. Wo sie denn genau wohnen würden, frage ich den einen. „Do hinten oben im Wold“, sagt er mir. „Aso!“, sage ich und schaue in den Wald, während ich mir denke, dass diese Ortsangabe ja praktisch auf jedes Haus im Metnitztal zutreffen müsste.

Fortsetzung folgt...

Mittwoch, 8. Juni 2011

Knackiges von Kleist

Ein Kleist'scher Satz aus der Erzählung Der Zweikampf:

"Nun litt Herr Winfried eben, am Tage der Ankunft des Schreibens, an einer schweren und schmerzvollen Unpäßlichkeit des Alters; er wankte, in einem äußerst gereizten Zustande, an der Hand seiner Tochter im Zimmer umher, das Ziel schon ins Auge fassend, das allem was atmet gesteckt ist; dergestalt, daß ihn, bei Überlesung dieser fürchterlichen Anzeige, der Schlag augenblicklich rührte, und er, indem er das Blatt fallen ließ, mit gelähmten Gliedern auf den Fußboden niederschlug."

Ein anderer würde schreiben: "Als er dies gelesen hatte, traf Winfried der Schlag."

Dienstag, 7. Juni 2011

Zeller Weisheit

"Bittsche gou schee - schneid eam d'Hou schee! Kimmb a eh scho awiarasoa Fock daher."

Samstag, 4. Juni 2011

Gebrocktes (Ein Kulturbegriff)


„Ich habe mich schon sehr viel mit dem Thema Kultur auseinandergesetzt!“, krächzt eine tiroler Stimme aus der Ecke. Irgendwie glaube ich dem Mann, dem die Stimme gehört, nicht. Er sagt dann aber: „In den meisten Lexikonartikeln habe ich aber lauter Definitionen gefunden, mit denen ich nichts anfangen konnte“. Das glaube ich ihm! Der Mann sieht nicht aus, als habe er meterweise Lexika daheim stehen. Aber benevolenter Weise schenkt man ihm erst einmal Glauben. „Also habe ich mir selber was dazu überlegt“, fährt der Tiroler fort. Ein wenig Stolz schwingt in seiner Stimme und ich bin jetzt auch gespannt, was da jetzt kommt. Auch die anderen Anwesenden im Forsthaus lauschen gespannt, einige beugen sich sogar etwas vor, um den Mann besser hören zu können. Auch der Herr Professor, der gerade eben ein Kurzreferat zu einem Allerweltsthema gehalten hat, hebt erwartungsvoll die Augenbrauen.

„Schauen Sie, wenn sie da einen Apfelbaum haben, dann ist das noch nichts. Also es ist schon etwas, aber Natur halt. Und wenn jetzt...“, hier macht der Tiroler eine äußerst geschickte Pause. Alle Anwesenden wollen jetzt natürlich wissen, was mit dem Apfelbaum geschieht und wo die Kultur ins Spiel kommt. „Wenn jetzt der Mensch hergeht und den Apfel brockt...“
Wieder eine Kunstpause, der Mann, so denke ich mir, krächzt zwar wie ein alter tirolerischer Bauerntisch, er weiß aber seine Pausen zu setzen! „Also der Mensch geht her und brockt den Apfel...“
Aha, es handelte sich also um keine Kunstpause, sondern um eine Pause der Formulierungsnot, der Tiroler weiß nicht, wie er das, worüber er sich so lange Gedanken gemacht hat, nun im Eifer des Gefechts, in der Hitze der Diskussion, auf den Punkt bringen soll.
„Naja, also der Mensch nimmt den Apfel und macht dann was daraus. Das ist dann Kultur.“
Soso, denke ich mir, da hat wohl einer vom Baum der Erkenntnis genascht!

Welche Lexika der Mann wohl konsultiert hat? Dass er da nirgendwo auf den Unterschied zwischen Kultur und Natur getroffen sein soll, glaube ich ihm nicht. Dass er das Beispiel mit dem Apfel selber gefunden hat, das glaube ich ihm schon. Der Professor ist entzückt, denn jetzt kann er wieder das sagen, was er vorher schon gesagt hat, was in etwa das war, was er schon vor einer halben Stunde gesagt hat, wahrscheinlich war es eh das, was er immer schon und sowieso seine ganze Hochschulkarriere lang behauptet hat. Was das war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Dass er irgendwann einmal auf Kant verwiesen hat, das weiß ich aber noch. Ich kann mich aber auch erinnern, dass ich nicht wusste, was das, worüber der Professor geredet hat, jetzt genau mit Kant zu tun haben sollte. Insofern bin ich auch nicht viel gescheiter, weil ich gar nicht mehr weiß, was der Professor gesagt hat und ich weiß auch nicht, was das mit Kant zu tun haben soll. Aber dass der Professor etwas gesagt hat, das weiß ich gewiss und wie er es gesagt hat - nämlich mit akademischer Bedeutsamkeit in der Stimme - das weiß ich auch noch.

Wie aber das jetzt mit der Kultur und der Natur ist? Der Tiroler hat es eh ganz gut beschrieben, die Kultur ist im Grunde das, was der Mensch selbst hervorbringt - und nicht bloß vorfindet. Was aber hat Kant über die Kultur gesagt? Dass sie die „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken“ ist? Das hat aber wiederum der Professor nicht gesagt. Oder dass sie die Fähigkeit des Menschen ist, sich selbst Zwecke zu setzen? Das hat der Professor auch nicht gesagt. Aber „Kant“ hat er gesagt, ganz sicher! Wenn er nicht sogar „Immanuel Kant“ gesagt hat, der Herr Professor. Egal, was der Professor gesagt hat, der Kulturbegriff des krächzenden Tirolers schwebt noch Minuten nach der Rede des Professors in den Räumen des Forsthauses umher. Es kommt mir vor, als würden viele Besucher jetzt andächtiger die dargebrachten Speisen bestaunen, ihr Glas zärtlicher umfassen und die Architektur des Forsthauses genauer wahrnehmen, ganz in dem Bewusstsein, dass da ein Mensch hergegangen ist und etwas gemacht hat. Dabei ist nur ein Tiroler hergegangen und hat etwas gesagt.

 Links: Kirschen in Schale (Natur); rechts: Guglhupf unter Glocke (Kultur). Foto von Ricarda S. Kreindl

Donnerstag, 2. Juni 2011

Der Wirt

Der Wirt ist ein Wirt in zweifacher Hinsicht. Einerseits ist er ein Wirt, weil er nicht nur ein Wirtshaus, sondern auch, weil er einen richtigen Wirtsbauch hat. Der Bauch, so scheint es, ist an ihm befestigt oder sieht aus wie umgehängt. Insofern ist der Wirt der Wirt seines Bauches und seines Hauses. Der Bauch ist, wie die Gäste des Wirten, eigentlich ein Schmarotzer, deswegen ist der Wirt nicht nur von Berufs wegen ein Wirt, sondern auch biologisch gesehen ist er ein regelrechter Wirt. Auch die Gäste des Wirten sind, wie gesagt, einerseits Schmarotzer, andererseits werden sie vom Wirt ausgenommen. Denn es gibt zweierlei Gäste: Die einen sind die, zu denen sich der Wirt dazusetzt. Dazusetzen heißt aber nicht nur, am Tisch der Gäste Platz zu nehmen, sondern vor allem, diese auch zu unterhalten und hie und da ein sogenanntes Schnapserl zu servieren, auf Kosten des Hauses, auf Kosten des Wirtes, auf Kosten des Wirtshauses also. Der Wirt wäre aber kein solcher, wenn er nicht sparen würde wo es geht. Also spart er auch bei diesem Schnapserl, das meist ein zusammengepanschtes alkoholhaltiges, aber niemals ein alkoholisches Getränk im herkömmlichen Sinn ist, das dann in möglichst kleinen Einheiten serviert wird. Gäste, die zu solchen Ehren kommen, nämlich zu der Ehre, dass sich der Wirt zu ihnen „dazusetzt“ und zu der Ehre, ein „Schnapserl“ serviert zu bekommen, nennt der Wirt dann seine „Stammgäste“. Die Stammgäste erkennt man daran, dass sie an einem großen Tisch sitzen, auf dem sogenannten Stammtisch, der durch einen riesigen Aschenbecher geziert wird, auf dem auch ein gusseisernes Schild angbracht ist, wo wiederum „Stammtisch“ draufsteht, sodass jeder erkenne: Hier tagt der Stammtisch, hier sitzen die Stammgäste und hier setzt sich der Wirt hie und da auch einmal dazu. Die Stammgäste mag der Wirt aber meistens gar nicht. Er mag sie als Kunden, aber nicht als Menschen. Eigentlich mag der Wirt überhaupt niemanden als Menschen, sondern nur als Kunden. Selbst wenn man als Kunde beim Wirt, ganz menschlich, die Toilette aufsuchen will, schaut der Wirt schon verzwickt, weil das kostet alles wieder Geld. Und alles, was kostet, das ist schlecht. Alles was nichts kostet, ist gut. Menschen kosten, Kunden kosten nichts. Also sind Kunden gut.
Der Wirt zählt gern. Wenn ich den Wirt sehe, zähle ich aber nur die Knöpfe an seinem Hemd, die sich oberhalb der Lederhose, die den Wirtsbauch beherbergt, gefährlich mir entgegen streben. Es sind vier. Die oberen Knöpfe sind nicht gefährlich, sie schmücken auch nicht den strammen Wirtsbauch, sondern schützen des Wirten haarige Brust, die ganz und gar abscheulich ist und kein Herz in sich trägt. Sie schützen die kalte Brust vor dem noch kälteren Wind, der am Abend durchs Tal in die Stadt hinunter pfeift. Am Abend, das ist jene Stund, zu welcher der Wirt wieder zu zählen anfängt. Er zählt Kunden und Tische. Er zählt dabei reale Kunden und fiktive Kunden, wieviele fiktive Kunden noch auf wievielen fiktiven Tischen Platz hätten und wieviele fiktive Getränke er dann noch verkaufen könnte. Aber während der Wirt zählt, schreien die Stammgäste schon wieder nach ihm und er soll ihnen neuen Schnaps bringen oder „die Luft aus dem Glas lassen“, wie die Stammgäste oft sagen. Immer wenn die Stammgäste so etwas sagen, dann lachen sie und der Wirt lacht auch. Sonst hat der Wirt nicht viel zu lachen. Meistens grinst er nur. Der Wirt grinst, je nach Situation und Laune, einmal dreckig, dann wieder falsch, oft grinst er auch hämisch. Lachen tut er nie, denn er hat ja nichts zu lachen und das ist auch das, was er immer allen erzählt, dass er nichts zu lachen habe; dass man nämlich als Wirt überhaupt nie irgendwas zu lachen habe, ja dass man „in diesem Geschäft“ – damit meint er die Wirtszunft – prinzipiell und von vorneherein nichts zu lachen habe. Und wenn er das sagt, dann grinst er – zweideutig.
Wenn der Wirt richtig gezählt hat, dann hat der Wirt gegenüber einen Tisch mehr auf der Terrasse stehen als er selbst. Wenn der Wirt das bemerkt, dann wird er nervös und er grinst nicht mehr. Dann wird er hektisch und schafft seinen Arbeitern an, doch gefälligst noch zwei, drei Tische aufzustellen. Dass auf der Terrasse kein Platz mehr ist, das interessiert den Wirt nicht, denn Platz kann man nicht zählen. Nur Plätze, die kann man zählen. Und Tische und Stühle kann man zählen. Ein Tisch mit drei Stühlen, das sind drei Plätze, vielleicht vier, wenn man noch einen kleinen Stuhl dazustellt oder ein verliebtes Paar erwischt, wo es sich das Mädchen auf dem Schoß des Burschen bequem macht, weil es ja gar so ein gemütlicher Abend ist und weil es ja eh keine Plätze gibt und noch weniger Platz auf den Plätzen. Aber der Platz auf den Plätzen und der Platz für die Plätze, das interessiert den Wirt ja alles gar nicht. Er will mehr Stühle und mehr Tische als der Nachbarwirt. Menschen brauchen Platz, Kunden brauchen Plätze, denkt sich der Wirt. Eigentlich denkt sich der Wirt nur das mit den Kunden, denn das mit den Menschen will er gar nicht wissen. Also versucht der Wirt das Paradoxe, nämlich auf immer weniger werdenden Platz immer mehr Plätze zu schaffen. So wird der Wirt zum Vollzieher des Paradoxen und bekommt selber von seiner hohen Kunst gar nichts mit.
Irgendwann ist die Terrasse so weit ausgedehnt, dass die ganze Fußgängerzone schon Terrasse ist. Dem anderen Wirt gegenüber sind die Tische ausgegangen und jetzt hat unser Wirt mehr Tische draußen stehen als der gegenüber. Da grinst der Wirt hämisch. Da sieht ihm aber der Wirt gegenüber in die Augen und auf einmal wird das hämische Grinsen ein falsches, und der andere Wirt gegenüber grinst auch falsch, man versteht sich ja. Da hat der gegenüber aber schon ein Handy am Ohr und bestellt Tische nach: jemand solle doch vom Lager noch ein paar Tische holen, es sei zwar kein Platz mehr, aber Plätze brauche man schon noch ein paar. Mittlerweile sitzen in der Fußgängerzone schon mehr Leute als überhaupt durchgehen können. Von Fußgängern kann keine Rede mehr sein, die Mehrheit sitzt, die anderen stehen, weil alles so eng ist und nichts weitergeht. Denn viele wollen sich auch hinsetzen und warten vor den vollen Tischen, bis irgendwo was frei wird. Denn der Wirt winkt sie schon heran in der Hoffnung, dass bald ein bereits abgefertigter Kunde zahlt und irgendwo ein Tisch frei wird. „Möchten Sie noch etwas?“, fragt der Wirt mit gezückter Kellner-Geldtasche und grinst falsch. Und hinter dem Wirt sieht man schon die gierigen Gesichter der nächsten Kunden, was die noch Sitzenden beängstigt und sie schnell zahlen lässt. Und noch bevor der letzte alte Kunde aufgestanden ist, sitzen die neuen schon da und der Wirt nimmt ihnen schon die Bestellung ab. Aber Schnapserl bekommen sie keines, denn sie sind keine Stammkunden und werden es auch nie werden.
Inzwischen sind beim Wirt gegenüber die Tische angekommen und werden schon aufgestellt. Es sind alte Klapptische aus den 60er Jahren, aber „immer noch gut, ja eigentlich besser als das neumoderne Glump“, wie der Wirt gegenüber behauptet. Während die alten Klapptische hektisch aufgestellt werden – man arbeitet sich gassenaufwärts – kommen von oben schon die Kellner vom dritten Wirt mit anderen Klapptischen. Denn bei der Gasse handelt es sich um eine regelrechte Gasse der Dreifaltigkeit und da sind zwei Wirte nicht genug, da muss sich auch noch ein dritter Wirt entfalten. Deswegen kämpfen jetzt die Kellner des Wirten gegenüber mit den Kellnern des Wirten oberhalb um die letzten freien Meter in der Fußgängerzone. Die beiden Wirte stehen vor ihren Eingängen wie Feldherren auf Hügeln und beobachten die Arbeit ihrer Leute kritisch, feuern sie an, sie mögen doch schneller klappen und stellen. Dann ist die Fußgängerzone voll und der obere Wirt hat gewonnen, weil er einen Tisch mehr draußen stehen halt als der andere. Aber am meisten Tische hat der grimmigste Wirt, unser Wirt mit dem besten Wirtsbauch und den besten Stammgästen. Denn er muss sich seine Seite der Gasse mit keinem anderen Wirt teilen. Und Tische auf die andere Seite der Gasse zu stellen, das traut sich noch keiner. Das ist ein ungeschriebenes Kriegsgesetz. Deswegen hat der Wirtsbauchwirt die strategisch günstigste Position, weil er auf seiner Seite quasi allein ist. Die Position hat er geerbt, weil das Wirtshaus ein sogenanntes Traditionsgasthaus ist, das schon lange Zeit im Familienbesitz ist und also immer von irgendeinem Familienmitglied geführt wurde.
Weil der Wirt einen traditionellen Familienbetrieb leitet und weil der Wirt so angesehen ist, vor allem bei seinen Stammgästen, hat er irgendwann gemeint, er müsse sich „in der Gemeindepolitik engagieren“. Und wenn ein Wirt sich in der Gemeindepolitik engagiert, dann ist das meistens eine eher einseitige Geschichte, denn dann sitzt der Wirt im Gemeinderat und versucht auch dort mehr Plätze zu schaffen, während er falsch grinst. Dann und wann erhebt er seine Stimme und schreit dann im Gemeinderat so wie wenn er in die Küche seines eigenen Betriebs hineinschreien würde. Weil aber die anderen Leute im Gemeinderat nicht seine Angestellten sind und ihm also nicht gehorchen wollen und weil zu wenige Stammgäste in der Gemeinde sitzen, ist der Wirt bald frustriert und „fertig mit der Politik“, wie man ihn dann sagen hört. Dann beschränkt er sich wieder auf sein Territorium in der Fußgängerzone und versucht, möglichst viele lokale Politprominenzen in sein Lokal zu bekommen, womöglich Stammgäste werden zu lassen, denn es werde ja vor allem im Wirtshaus Politik gemacht, meint der Wirt. Und dann lacht er und sein Wirtsbauch lacht hüpfend mit, obwohl er ja eigentlich nie was zu lachen hat, der Wirt.