Montag, 24. Juni 2013

Grazer Reminiszenzen 1: Kulturangebot und -nachfrage

Graz ist vorbei. Aus, vorüber. Für mich zumindest. Nach vielen Jahren des aktiven und passiven Siechtums in der steirischen Landeshauptstadt, der Stadt der Menschenrechte und der Volkserhebung, der City of Design und vor allem der Kulturhauptstadt (so steht es auf der Autobahn!) verlasse ich nun endgültig ihre Gefilde. Obwohl die Zeiten gute waren, bin ich weder mir noch der Stadt böse, dass es nun vorbei ist. Alles hat immer zwei Enden - auch wenn die Wurst in Graz nur eines zu haben scheint (das zweite steckt unsichtbar in einem von einer Metallstange ausgehölten Hotdog-Brötchen). Also muss ich mich doppelt verabschieden. Schließlich bin ich auch doppelt angekommen. Aber dazu an anderer Stelle mehr...
Teil 1 eines kleinen Rückblicks auf die Grazer Jahre:

Als europäische Kulturhauptstadt habe ich Graz im Jahr 2003 kennengelernt. Toll, dachte ich mir, aus dem provinzlerischen und kulturell nicht kolonialisierten Innergebirg kommend. Bei uns war eine Theateraufführung an einer Schule schon ein Happening von Warhol'schem Format. Einzig das Saalfeldener Jazzfestival ließ die Pinzgauer mit geduldiger Regelmäßigkeit ein wenig Weltgeist schnuppern. Graz nun also mit seinem Kunsthaus, der futuristischen Murinsel (wie lächerlich sich das jetzt in der Retrospektive anhört!), dem steirischen herbst, der Diagonale usf. Was es da alles zu entdecken gab! Ich war zunächst nur beruhigt in einer Stadt zu leben, in der es sogar ein eigenes Literaturhaus gibt.

Wenn man dann nach gut zehn Jahren mehr oder weniger intensiven Aufenthalts Bilanz ziehen muss, fragt man sich, ob man von dem vielen Tollen, das man an Graz immer geschätzt hat, eigentlich immer nur das kulturelle Potenzial genutzt hat, oder ob man auch tatsächlich regelmäßig im Theater, im Museum oder in der Oper war. Nach kurzem überschlagsartigem Nachzählen kommt man drauf: Es hätte mehr sein können. Das geht aber fast jedem so, habe ich gehört. Ist aber auch egal, denn wichtig ist nur, dass man die prinzipielle Möglichkeit gehabt hätte, theoretisch, im Falle des Falles also, jeden Abend in eine andere Veranstaltung zu gehen. Wie oft man diese Gelegenheiten tatsächlich genutzt hat, ist ja einerlei.

Tatsächlich fand ich mich auf der einen oder anderen merkwürdigen Veranstaltung wieder, war nachher froh, dort gewesen zu sein, hatte aber größtenteils das Gefühl, eine lästige Pflicht abgeleistet zu haben. Wenn diverse kulturelle Veranstaltungen auch oft ein netter Zeitvertreib waren, die essentiellen Erkenntnisse stellten sich da selten ein. Das ist übrigens auch so etwas, was man glaubt, wenn man den Schritt an die Hochschule tut bzw. was einem im Gymnasium irgendwie versucht wurde einzureden: Dass sich der Mensch durch den alleinigen Besuch kultureller Veranstaltungen zum Besseren ändere. Ich hab sie ja alle gesehen, die Studenten in Cord-Sakkos und Karohemden, die vor Bildern stehen und mit Daumen und Zeigefinger ratlos Verständnis vorschützend ihre Kinn- und Mundpartie umspielen! Ich war ja selber schon so weit, wenngleich auch nicht in Cordsakko und Karohemd!

Dann aber die harte Erkenntnis: Dass sich im Kopfe nichts tut, wenn das Hirn sich nicht rühre. Und dazu bedarf es erstmal keiner Ausstellungen oder Vorführungen, sondern des Verständnisses für das Einfache und Klare. Die Einsicht, dass die einfachen Sätze erstmal kapiert werden müssen und nicht bloß rezitiert. "Ich weiß, dass ich nichts weiß" zum Beispiel. Der Satz kann als Ausrede für eine mangelhafte Prüfungsvorbereitung genauso herhalten wie für die letzte Conclusio am Sterbebett. Man muss sich diese Sätze aber aneignen, für sich und seinen Verstand geltend machen. Und das lernt man nicht im Museum oder im Theater. - und schon gar nicht im Seminarraum (obwohl einen der in manchen Fällen dabei ein wenig helfen kann). Das lernt man am Tresen!

Im Grunde besteht das Spannende an einem ausgeprägten "kulturellen Umfeld" nur darin, dass die Chance, Leute zu treffen, die sich irgendeine Art von Gedanken machen, etwas höher ist als in einem kulturfeindlichen oder -resistenten Milieu. Leider liegt da auch der Hund begraben, denn ein sogenanntes "kulturelles Umfeld" zieht auch eine Menge Scharlatane und Spinner an. Das liegt zum einen an der Kunst selbst, weil sie eben zutiefst menschlich ist (manche sagen nicht zu Unrecht, sie sei das Menschliche überhaupt); zum anderen liegt es an dem, was ich unter einem absichtlich so schwammig gewählten Begriff wie dem eines "kulturellen Umfelds" verstehe: Es gibt da einen geographischen Raum, in dem überdurchschnittlich viele Menschen Kultur betreiben, vertreiben, konsumieren und sich obendrein auch noch dazu verhalten, es sich also auf die Fahnen schreiben und sich darauf etwas einbilden. Klingt widerlich, ist es auch irgendwie. Aber es geht halt anscheinend nicht anders. Yin und Yang, woast scho? Der Kuhfladen ist den Fliegen ein Haus, aber mir ein Graus, etc.

Wie ist das also jetzt? Hat mich Graz verändert, was das sogenannte "Kulturelle" betrifft? Ich denke, ich bin im selben Maße, wie ich der Kultur gegenüber aufgeschlossen gemacht wurde, ihr gegenüber unsensibler oder zynischer geworden. Das hat vielleicht mit Graz per se nichts zu tun, aber ein kulturelles Überangebot verlangt vom potenziellen Konsumenten ein gewissen Grad an Ignoranz. Ganz schnell kommt es zur Ausbildung eines "Geschmacks", dessen Fundament weniger ästhetische Reflexion als das ermüdende Trübsal einer unkreativen Freizeitgestaltung ist: "Wos isn heit? ... Najo, schauma uns des hoit on. Is wahrscheinlich eh wieda a Schas...", sprachs und schlurfte zur Kulturveranstaltung. Echtes Interesse kann ein Überangebot also nicht ersetzen, aber es besteht zumindest die Chance, neue Interessen zu entdecken oder zu vertiefen. Auch hier würde ich aber sagen, dass nichts ohne den persönlichen Austausch geht (ob an der Theke oder nicht), womit wir wieder bei den Menschen wären, die Kultur machen, vertreiben und konsumieren. So waren es also nicht die Veranstaltungen und Veranstaltungsorte, sondern die Grazer Menschen,die mich da beeinflusst und teilweise sogar inspiriert haben. Klingt kitschig, ist aber durchaus wahr. Reminiszenzen, zumal solche zu Graz, kommen eben ohne Kitsch nie aus.

Graz ist keine Kulturhauptstadt, das Schild auf der Autobahn lügt. Aber es ist eine Stadt mit vielen ambitionierten (teilweise überambitionierten) Leuten, die sich etwas antun und sich ein paar Gedanken machen. Man muss deswegen nicht zu allen deren Veranstaltungen rennen. Aber es beruhigt irgendwie, dass sie da sind. So wie auch ein Kuhfladen ohne Fliegen eine zutiefst traurige Angelegenheit ist.