Montag, 11. Juni 2012

Eine Anstrengung gedanklicher Natur

So eine EM hat es in sich. Vor allem die Gruppenphase beanstrengt den geneigten Fußball-Seher ungemein: Zunächst, wenn das Turnier also endlich begonnen hat und die Vorfreude zur Freude wird, hat man es jeden Tag mit vier Teams zu tun, die man sich ansehen, die man beurteilen muss. Am Ende des Tages stehen zwei Ergebnisse da, die man zu interpretieren hat, die Hoffen und Bangen für die nächsten Spiele erzeugen und die Erwartungen erfüllen oder enttäuschen. Aber lange kann man sich damit nicht aufhalten, denn schon am nächsten Tag sieht man vier neue Mannschaften und das Rad beginnt sich wieder von neuem zu drehen.

Nebenbei zappt man sich durch das televisionäre Fußball-Angebot, vergleicht ORF mit den deutschen Sendern, sieht von Hickersberger über Schinkels, Mählich, Kahn, Scholl und schließlich den unvermeidbaren Herbert Prohaska so viele mehr oder weniger ahnungsvolle Fußball-Gesichter, die einem entweder alle das gleiche, oder gar immer etwas anderes erzählen, dass man am liebsten ganz darauf verzichtet und sich Meinungen und Analysen viel lieber später im Internet holt. Da gibt es schließlich auch für jeden was: von der fundierten, hoch komplexen Taktik-Analyse bis zum Boulevard-Interpretatorium á la Bild mit Fotostrecken zum Durchklicken und dumpfen Schulnoten-Bewertungssystemen. Das heißt: Für den wirklichen EM-Afficionado beginnt der Fußball nicht um sechs und hört um elf auf, sondern bemächtigt sich auch mittendrin der Freizeit und des gedanklichen Fokus des Fans.

Es ist also anstrengend (sofern man die Zeit aufbringen kann und will) und deswegen sind dann immer alle froh, wenn die Gruppenphase in ihre letzte Runde geht – leider in der Form von Parallelspielen, die das ganze dann noch einmal so verdichten, dass man schlussendlich gezwungen wird, auf ein Spiel zu verzichten, weil man es nicht bloß aus zeitlichen Gründen nicht schafft, sondern weil es schlichtweg unmöglich ist; weil man eben im Leben oft erkannt hat, dass man zur selben Zeit sich nicht an unterschiedlichen Orten aufhalten kann. Die postmoderne Zeit hat dieses Dilemma zumindest ansatzweise durch multiple Endgeräte in Public-Viewing-Spelunken und die Technik der Übertragungsaufzeichnung in den Griff bekommen. Trotzdem: Als übermedialisierte Unterhaltungslemminge wissen wir, dass nur live zählt, und dass es praktisch unmöglich ist, uns eine Information wie das Endergebnis eines EM-Spiels vorzuenthalten, um das Spiel später daheim anzusehen und so zu tun, als wäre nicht längst alles vorbei und entschieden.

Erschöpft und ausgezehrt bekommen wir dann nach den letzten Gruppenspielen einen Tag Pause, bevor die Playoff-Phase beginnt. Ein Tag ist eigentlich lächerlich wenig verglichen mit dem Fußball-Overkill, den wir die vielen Tage zuvor zu 'erleiden' hatten. Aber man nehme einem Süchtigen auch nur einen Tag sein Suchtmittel und sehe, was passiert: Wir werden uns am Abend des (spielfreien) 20. Juni zu irgendeinem Zeitpunkt fragen, ob und wieso denn heute kein Fußball zu sehen ist. Traurig müssen wir dann feststellen, dass das Turnier schon bald vorbei ist, und wir trösten uns mit der Spannung, die der Modus des KO-System für uns bereit hält. Nur kurz haben wir Zeit, einen ausgeschiedenen persönlichen Favoriten zu betrauern und in Gedanken ein Kerzerl für jene anzuzünden, die während der Gruppenphase in Schönheit oder Eleganz untergegangen sind. Nur kurz dürfen wir uns an die schönen, hässlichen und kuriosen Situationen erinnern, mit denen unsere nie weichende Aufmerksamkeit von dieser Europameisterschaft belohnt wurde. Dann geht es schon wieder weiter, Schlag auf Schlag, KO auf KO.

Aber noch sind wir ja mitten drin, in der Gruppenphase, noch ist nichts – überhaupt nichts! - entschieden; es ist erst angerichtet. Ja, angerichtet ist es: Das Besteck wurde ausgelegt, die Speisekarten verteilt und nun wartet in der Küche schon der erste Gang. So eine EM fängt nämlich immer mehrmals an. Streng genommen ja in der Vorbereitung zur Qualifikation, aber auch die Endrunde selbst hat mehrere Anfänge: Die Eröffnungszeremonie, das erste Spiel, der erste Kracher, dann die ersten Vor-Entscheidungen, dann der Beginn der KO-Phase. Und alles läuft zum Endspiel hin, von dem ausgehend dieses ganze Brimborium erst erdacht wurde. Faszinierend, was sich alles aus der Idee ergibt, dass irgendwer irgendwann wissen wollte, wer eigentlich den besten Fußball in Europa spielt, und dass aus diesem simplen Gedanken dann jene gedankliche Anstrengung wurde, der wir jetzt tagtäglich ausgesetzt werden – und für die wir auch noch dankbar sind.

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