Montag, 1. August 2011

Ein Priester in Daytona


Das Oyster Pub in Daytona Beach ist ein modern eingerichtetes Ess- und Trinklokal und dient vornehmlich dem Zweck des gesellschaftlichen Zusammenseins bei gleichzeitiger Beiwohnung sportlicher Groß- und Kleinereignisse. Diese werden auf ca. 30 Bildschirmen gezeigt, die sich über der Bar, an den Wänden und in kleinen Nischen neben den Tischen befinden. Schon beim Betreten der Bar fühlt man sich sehr sportlich.
Ich verfolge ein Baseballspiel der Atlanta Braves, die sich gegen Cincinnatti alle Mühe geben, nicht das zweite Spiel in Folge zu verlieren. Von Baseball hatte ich so gut wie keine Ahnung. Als aufgeschlossener Europäer, der zu sein ich gezwungen bin vorzugeben, interessiere ich mich aber freilich für allerhand Sachen, und so auch für Baseball. Also hat mir mein Onkel die grundlegenden Prinzipien des Spiels erklärt, was mir erlaubt, an diesem Abend im Oyster Pub das Spiel zu verfolgen, ohne mit einem Ausdruck der vollkommenen Unverständnis auf meinem Gesicht dasitzen zu müssen.



Während des dritten Innings betritt ein rundlicher Mittvierziger das Lokal. Es gibt in den USA vermutlich nicht viele Mittvierziger, die nicht zumindest rundlich sind – die meisten in diesem Alter sind ja bereits fett. Der freundliche Herr setzt sich zu mir an die Bar und wir beginnen ein Gespräch. Er weiß, wo Österreich ist. Er kennt auch den Unterschied zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er weiß sogar, dass man in allen drei Ländern Deutsch spricht. Und er kennt Bayern und weiß, dass es sich dabei um ein Bundesland im Süden von Deutschland handelt. Der Mann ist mir höchst suspekt. Er sagt, er sei erst vor ein paar Monaten nach Daytona gezogen und er finde es sehr langweilig. Der Strand, so er, verliere seine Attraktivität schnell, vor allem, wenn man kein ausgesprochener Strandmensch sei, und das sei er eben nicht. Ich finde seine Ausführungen einleuchtend und er sagt mir, dass man mit mir gut reden könne, weil ich ein Intellektueller sei. Jetzt fühle ich mich elend.



Ich frage ihn, was er mache. Er sei ein Priester, sagt er, und schüttelt dabei den Kopf, als ob er gerade in diesem Moment die Absurdität seiner Profession erkannt hätte. Er lächelt aber gleich wieder und sagt, dass er ursprünglich aus New Jersey stamme und dort auch seinen Beruf ausgeübt habe, dass er von seinem Vorgesetzten aber in den Süden versetzt wurde. Das hört sich alles sehr nach einer Strafversetzung an. Als höflicher Europäer frage ich aber nicht weiter nach. Ich erfahre, dass er ein griechisch-katholischer Priester ist und dass seine Gemeinde nur etwa 40 Mitglieder hat. Zudem seien fast alle seiner Kirchgänger relativ alt, was für ihn bedeutet, dass er neben den Gottesdiensten vornehmlich mit Begräbnissen und Hochzeitsjubiläen beschäftigt ist. Seine Kirche befindet sich irgendwo im Nirgendwo und weil er neben dem Priesteramt keine anderen Verpflichtungen hat, langweile er sich sehr. Ich denke mir, ob man diese Langeweile als gerechte Strafe Gottes interpretieren könnte, frage ihn aber nicht danach. Nun weiß ich aber auch, dass es quasi sein Job ist, Leute sich elend fühlen zu lassen.



Er bestellt ein geschmackloses Bier und ein Philly Cheese Sandwich. Dabei lobt er die Erzeugnisse deutscher Brauereien und er erklärt mir noch ein paar Feinheiten des Baseballspiels. Er habe keine Freunde, sagt er, und das sei so, weil er weit weg von der Stadt wohne. Seine Familie ist in New Jersey und als katholischer Priester darf er natürlich keine eigene gründen. Er tut sich selbst leid - und auch mir ein bisschen. So ist es tröstlich, dass alle 5 Minuten irgendwelche Leute, welche die Bar betreten, den Priester erspähen und ihn freundlich begrüßen. Ich sage ihm, dass er doch viele nette Leute kenne. Das gibt er zwar zu, an seinem Selbstmitleid ändert das aber wenig. Er schickt mir noch im Lokal eine Freundschaftsanfrage auf Facebook, was mich geradezu dazu zwingt, sie umgehend anzunehmen.



Mein Onkel ruft an und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich danke ihm für die Nachfrage und ja, es sei alles in Ordnung. Er schiebt die Schuld für diesen Anruf seiner Frau in die Schuhe: Sie sei besorgt gewesen. Ich sage ihm, dass er ihr ausrichten könne, ich befände mich in der Gesellschaft eines Priesters, es sei also alles in bester Ordnung. Mein Onkel lacht, weiß aber, dass diese Auskunft meine Tante sicher besänftigen wird. Auch der Priester lacht und bestellt noch ein Bier. Meinem Onkel verschweige ich, dass es sich um einen griechisch-katholischen Priester handelt. Zwar weiß ich nicht, ob der protestantisch-amerikanische Grundsatz, dass Katholiken fluchen und trinken, auch für griechisch-Katholische gilt, aber sicher ist sicher.



Weil mich der Priester bald langweilt und mir schon alle Fotos auf seinem iPhone gezeigt hat, verlasse ich das Oyster Pub und suche mir ein Taxi. Der Taxifahrer ist sehr freundlich, was später dazu führen soll, dass er „nur noch sehr wenig Wechselgeld“ hat. Ja, Österreich kenne er, da war er schon Skifahren, und zwar auf der Zugspitze. Er sei ein pensionierter Air Force Pilot, ein Desert Storm Veteran, und er sei mehrere Jahre in Würzburg stationiert gewesen. Was er dann sagt, verstehe ich nicht. Ich bitte ihn, das eben Gesagte zu wiederholen und verstehe wieder nichts. Er sagt mir, dass das Deutsch sei. Erst beim vierten Wiederholen verstehe ich ungefähr, was er sagen will. Irgendetwas mit „Mädchen“, „Bratwurst“ und „Hähnchen“. Jetzt wird mir klar, dass ich nicht besorgt sein muss, die Bedeutung des englischen Wortes „hention“ nicht gekannt zu haben. Auch in der Schweiz sei er gewesen, besonders gut habe ihm dort Innsbruck gefallen. Ja, sage ich launig, Innsbruck sei toll, besonders der See habe es mir angetan. Er nickt und sagt, dass er auf dem See Wasserski gefahren sei.



Die Zeit in Deutschlang sei sehr schön gewesen und habe ihm erlaubt, Deutsch so zu erlernen, dass er es jetzt mündlich und schriftlich fließend beherrsche. Ich zeige mich beeindruckt und gebe ihm mehr Trinkgeld als er sich eigentlich verdient hat. Der Grund für sein weniges Wechselgeld ist vermutlich, dass er als Veteran und ehemaliger Helikopterpilot meist mehr Trinkgeld bekommt als ein gewöhnlicher Taxifahrer. Von einem Österreicher sollte er sich das aber nicht erwarten, finde ich. Trotzdem bin ich gnädig, irgendwie war er ja auch sehr unterhaltsam. „Aff Wiersahn!“ sagt er, und dann noch „Schuss!“. Ich sage „Pfiati“ und steige aus.

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