Dienstag, 23. August 2011

Viva die Unterhaltung! Viva Las Vegas!

Wir fahren in einem Mietwagen den Strip entlang. In der Vormittagshitze, die gerade im Begriff ist, zur Mittagsglut zu werden, tummeln sich drei Elvisse am Gehsteig. Sie lassen sich zwar bereitwillig von ob dieser munteren Maskerade vergnügten Touristen fotografieren, sind jedoch eigentlich gerade dabei, zu rauchen. Aber als King hat man keine Freizeit und schon gar nicht in Las Vegas, wo Leute voller Erwartung den ganzen Tag herumrennen, um genau dich zu sehen. Dich wollen sie, den King, zwar nicht den echten, aber einen, der sich so anzieht, seine Haare so trägt und ein wenig mit den Hüften wackelt, während er mit verstellter Stimme „Heartbreak Hotel“ in den viel zu hohen Kragen murmelt. Da hilft alles nichts; wenn du der King sein willst, musst du spuren!

Die drei Elvisse aber sind durchaus zu Faxen aufgelegt. Duldsamkeit ist die oberste Tugend im Umgang mit schon vormittags betrunkenen Touristen. Schließlich kann man es sich als Elvis auch nicht leisten, verprügelt zu werden. Und das soll was heißen, denn als Elvis kann man sich gerade in Vegas so einiges leisten! Tatsächlich genießt man als Elvis mehr Privilegien als etwa der stumme Michael Myers, seines Zeichens grausiger Protagonist der „Freitag, der 13.“-Horrorfilme, der traurig und unbewegt auf einem Sockel steht. In der prallen Sonne und so exponiert erschreckt er hier wohl niemanden, auch das blutverschmierte Messer in seiner Hand vermag das nicht zu ändern. Da er, wie so viele Figuren in Horrorfilmen, für gewöhnlich stumm zu Werke geht, ist es ihm auch nicht erlaubt, mit den Passanten zu sprechen, was aber nichts ausmacht, denn wer will sich schon mit einem Michael Myers unterhalten?

Mickey Mouse hingegen ist zum Freundlich-Sein verdammt, was ihren Handlungsspielraum ebenso erheblich einschränkt. Auch ein Iron Man klopft sich höchstens stolz auf die Brust und reckt die Faust martialisch in die Höhe; seine geringe Körpergröße aber lässt diese Gesten lächerlich erscheinen. Müsste ich es mir aussuchen, wen ich auf dem Las Vegas Strip verkörpern wolle, ich würde mich also für Elvis entscheiden. Der kann auch einmal eine Zigarette rauchen, ohne dabei unanständig zu wirken oder aus der Rolle zu fallen und damit seine Fans zu enttäuschen.

Werden einem die Straßenfiguren zu langweilig, begibt man sich eben zu Madame Tussauds ins Wachsmuseum. Ich muss zugeben, dass ich vorher noch nie in einem solchen war, weder in London, noch sonst irgendwo. Der Attraktionsgehalt von Wachsfiguren, zumal Nachbildungen von teilweise noch lebenden Menschen, erschien mir immer zu gering. Diesmal machte ich eine Ausnahme, ich wollte doch sehen, worum denn da so ein Bahoi gemacht wird, und auch interessierte mich der amerikanische Wachsfigurenkanon.

Tatsächlich kommt einem ein solches Kabinett, das im Grunde eine sonderbare Ansammlung von Absurditäten ist, in Las Vegas seltsam natürlich vor. Das stumme, einfache Dasein dieser Figuren beruhigte mich sogar ein wenig und erschien mir als angenehmer Kontrast zum sonstigen Treiben in den Hotels und Casinos. So machte ich brav ein paar Fotos von mir mit wahren und zweifelhafteren Berühmtheiten und war etwas enttäuscht, als ich das Museum wieder verlassen musste und draußen sich bewegende, lärmende und überhaupt nicht berühmte Menschen zu sehen.

Das Wachsmuseum aber bringt ein Wesensmerkmal von Las Vegas auf den Punkt: Das scheinbar zusammenhangslose Zusammenstellen seltsamer Artefakte zum Zweck des Bestaunt-Werdens. Die Beziehung der Figuren im Museum entspricht der Beziehung der Hotels zueinander außerhalb des Museums: Jedes ist anders, aber im Grunde sind sie doch alle ziemlich gleich. Und sie beeindrucken durch ihre bloße Anwesenheit. Dieses angenehm beliebige Konglomerat hat – wenn man so will – etwas Postmodernes. Trotzdem bleibt einem alles erstaunlich zugänglich, weil es doch auch den Gesetzen des Pragmatischen dienen muss. Jedes Hotel, jede Wachsfigur, jeder Spielautomat, jedes Restaurant, jedes Geschäft ist für sich vollkommen leicht verständlich und benutzerfreundlich (wie es der Tourist bzw. der „Amerikaner an sich“ will). Erst der Blick auf das Ganze (mit dem man sich in Las Vegas zugegebenermaßen nicht sehr lange aufhält) enthüllt die Ungereimtheiten, das Sinnlose im System, die absolute Beliebigkeit des ganzen Unternehmens, der ganzen Stadt.

So ist Las Vegas vielleicht eine Metapher für den allzu modernen Hang zum Universalentertainment. Es ist eine Stadt der kurzfristigen, vollkommenen Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit des Besuchers mit dem Preis, dass die übergeordnete Sinneinheit verborgen bleibt, d.h. man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Und das macht überhaupt nichts, weil man an dem Wald gar nicht interessiert zu sein braucht. Es ist Unterhaltung um der Unterhaltung willen – ein allgegenwärtiges Unterhaltet-Werden-von-etwas anstatt eines Unterhaltet-Sein-bei-etwas. So verlässt man die Stadt wieder und fragt sich etwas später: „Was war denn das nun eigentlich?“ Und dann hört man ein bisschen Elvis Presley, weil man vor lauter Elvissen total vergessen hat, wie sich der echte Elvis eigentlich anhört.

Ich würde Sin City weiterempfehlen, wenn ich mich dabei nicht schuldig machte...

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