Montag, 8. August 2011

Ein Schuss Lebensgefühl


Chester sitzt auf der Veranda und beobachtet die Futterstation, die er für die Kolibris aufgestellt hat. In den letzten Tagen haben größere Vögel das Kolibrifutter für sich entdeckt und laben sich seitdem frech daran, was die kleinen Kolibris natürlich abschreckt. Chester aber hat sich zum Ziel gesetzt, die großen Vögel zu vertreiben und so den Kolibris zu ihrem Futter zu verhelfen. Deswegen sitzt er auch mit einem Revolver in seinem Schaukelstuhl, um im „Ernstfall“ auf die Vögel schießen zu können. Die Vögel aber wissen, womit sie es zu tun haben und halten sich fern. Also geht Chester wieder ins Haus zurück und legt den Revolver hinter die Couch, als ob er ihn vor den Vögeln verstecken wollte. Kaum im Wohnzimmer, sieht er sie vor dem Fenster schon wieder herumflattern. Er schleicht zur Couch, holt den Revolver wieder hervor, stellt sich an die Tür und öffnet sie einen Spalt breit. Die Vögel fliegen davon.

Chester, ein Ex-Green-Beret und Vietnam-Veteran, scheint mir keineswegs einer dieser Eichhörnchen schießenden Rednecks zu sein, die es hier im Süden tatsächlich gibt. Deswegen frage ich ihn, womit die Waffe geladen sei. Es handelt sich um Gummigeschosse – die Streuung, so Chester, mache es einfacher, die Vögel zu treffen. Die Gummimunition habe er sich besorgt, nachdem er vor ein paar Wochen einen Hasen habe ziehen lassen müssen. Das Vieh sei schwer zu treffen gewesen, und er wollte nicht das Haus oder Auto eines Nachbarn treffen. „Oder gar den Nachbarn selbst“, ergänze ich. Chester lacht, ja, das wäre natürlich ganz schlecht gewesen.

Die selbstverständliche Allgegenwärtigkeit der Schusswaffen ist gewöhnungsbedürftig. So erschrak ich letztens regelrecht, als ich in den Keller ging, um das Modem neu zu starten, und ich, als ich das Licht eingeschaltete, direkt vor dem verglasten Waffenschrank stand. Schrank und Waffen erinnerten mich an eine Columbofolge – ich weiß nicht mehr welche. Jedenfalls ist der Schrank mit allerlei Kostbarkeiten der Gewehrskunst bestückt, Pistolen enthält er allerdings keine. Dabei hätte mich die unregistrierte Pistole interessiert, die mein Onkel vor ein paar Wochen gekauft hat. Das Wort „unregistriert“, das ich in Zusammenhang mit Waffen bisher nur aus diversen Fernsehserien kannte, hat mein Onkel dabei besonders betont. Mit unregistrierten Pistolen begeht man Morde, nach welchen man die Tatwaffe in einem See, einem Fluss oder in einer Bucht (je nach geographischer Gegebenheit) versenkt. Das hat mein Onkel freilich nicht vor, aber natürlich weiß er das und so bereitet ihm die unregistrierte Pistole ein besonderes Vergnügen, dessen Reiz für mich nur bedingt nachvollziehbar ist.

Als wir an einem der letzten Wochenenden in Alabama – ich war dort bei meinem Cousin und meiner Cousine auf College-Besuch – zu einem Liquor Store fahren wollten, begab ich mich auf den Rücksitz eines verantwortungsvoll scheinenden jungen Herren. Zwischen Fahrersitz und Mittelkonsole sah ich eine Pistole stecken. Ich fragte ihn, ob er vorhabe, damit den Laden auszurauben. Er lachte und schüttelte den Kopf. Er sei gerade vom Schießen gekommen, erklärte er mir, außerdem habe er eine Lizenz. Hätte er keine Lizenz, dachte ich mir, würde die Pistole auch nicht in einem Holster neben der Mittelkonsole stecken, sondern ohne Holster im Handschuhfach liegen. Sie würde wahrscheinlich auch unregistriert sein, und er würde keine Lizenz dafür haben. „Oh, es ist übrigens eine Glock“, sagte der verantwortungsvolle junge Herr, „aus Österreich, richtig?“ „Ja“, nickte ich, „die sind aus Österreich.“ Wenn sie auch oft nicht wissen, dass es in Österreich keine Kängurus gibt, dachte ich mir, wissen doch die meisten, dass Glock eine österreichische Firma ist. „Hervorragendes Erzeugnis“, lobte der junge Herr die Glock. Ich stimmte ihm zu, ohne dass ich einen Vergleich gehabt hätte – meine Schießerfahrung beschränkt sich schließlich auf die Waffen des österreichischen Bundesheeres. Wir raubten den Liquor Store schließlich nicht aus. Im Gegenteil: Wir mussten warten, bis alle von uns, die den Laden betreten hatten, ihren Ausweis gezeigt haben, und da eines der Mädchen ihren daheim vergessen hatte und also erst wieder nach Hause fahren musste, um den Ausweis zu holen, verbrachten wir ca. 15 Minuten wartend an der Kassa des Schnapsladens. Ich betrachtete zum Zeitvertreib die Überwachungskamerafotos jener „Kunden“, die sich als Diebe entpuppten und deshalb jetzt einen prominenten Platz in der Galerie über der Eingangstüre haben.


Irgendwie freue ich mich schon auf die nächsten Erlebnisse mit Schusswaffen, obwohl das etwas seltsam klingt. Interessant ist die Sache aber allemal. Die angebliche Waffenvernarrtheit der Amerikaner hielt ich nämlich immer für eine unsaubere Übertragung von Wildwest-Romantik in die heutige Zeit und also für eine Übertreibung. Im Süden allerdings scheint mir das Bild des allzeit bewaffneten Amerikaners ein adäquates zu sein. Die zahlreichen Waffengeschäfte entlang der Highways bestätigen mir diesen Eindruck. (Witzigerweise scheinen diese Läden auch nicht von der „schlechten Wirtschaftslage“ betroffen zu sein, von der hier dauernd die Rede ist.) „You gotta have a gun down here“, ist ein Satz, den ich schon ein paar Mal gehört habe. Haus, Autos, Boot, Gewehr, Klimaanlage, Kreditkarte: Das sind die Grundingredienzen des Südstaaten-Lebensstils, an die man sich gewöhnen muss, wenn man hier leben will. Und an die Sprache, die bisweilen durchaus kein Englisch ist. Aber davon ein andermal...


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