Dienstag, 4. Oktober 2011

Heimkehr: Ein Berggang

Den unendlichen Weiten des amerikanischen Landesinneren entrissen, sitze ich im schönen Schmittental nahe des Zeller Sees am Balkon und starre auf die Berge. Unüberwindbar kommen sie mir vor, unglaublich grün, fast schon pervers bewaldet und irgendwie hinterlistig. Der Volksmund sagt ja, Bergmenschen würden sich oft eingesperrt fühlen und deshalb besonders gerne auf die Berge hinaufwandern, um diesen Gefühl wenigstens kurzfristig zu entfliehen; oder sie würden sich des Einsperrt-Seins wegen „wegtun“. Letzteres soll heißen: Aufgrund der wenigen Sonnenstunden in manchen Innergebirgstälern und des psychologischen Gefühls der Bedrängnis würde in den Bergmenschen oft ein suizidaler Drang entstehen. Selbst wenn das so wäre: Heutzutage fahren solariumgebräunte Menschen aus sogenannten Selbstmördertälern in schnellen Sportwagen hinaus ins Salzburgische oder Münchnerische und zelebrieren dort das heitere Leben. Umbringen tun sie sich dabei höchstens beim Zu-schnell-um-die-Kurve-Fahren: zu viel Schampus, zu viel Koks. Aber herrje, das soll sogar höchstrangigen Politikern passieren, und das alles hat mit Trübsinn und hohen Bergen nur ganz wenig zu tun...

Je länger ich auf die Berge schaue und je länger ich über die Bergmenschen nachdenke, desto mehr möchte ich auf einen dieser Berge wenigstens ein bisschen hinaufwandern. Es ist einen ja doch ins Blut „geschrieben“, dass ein Berg zum Hinaufgehen da ist und zum Von-oben-Herunterschauen. Flink habe ich meine Turnschuhe angezogen, die mir schon bei meiner Wanderung im Metnitztal gute Dienste erwiesen haben, und wähle eine unpopuläre Route auf die Sonnenalm, einem Forstweg im entlegensten Graben folgend, wo es abwechselnd nach Schnittholz und Forstmaschinen riecht.

Ich quäle mich durch den Wald den Berg hinauf, bleibe stehen, schaue auf die Uhr, blicke Hilfe suchend rings umher, überlege gar auf halbem Wege umzukehren. Aber starrköpfig sind sie ja auch, die Bergmenschen, also schleppe ich mich weiter. Letztes Jahr, so erinnere ich mich zurück, bin ich diesen Weg noch hinaufgeschritten, im reinsten Jägerschritt. Heute torkle ich halb bewusstlos vor Erschöpfung von Kehre zu Kehre und richte mein Wort an den Herrn, er möge den Weg bald flacher werden lassen.

So schäme ich mich vor mir selbst, als ich plötzlich ein Knacksen höre und weiter oben zwei Wanderer erblicke, die mir flotten Schrittes entgegen kommen. Da ich mit einem Blick erkennen kann, dass es sich bei den beiden um Deutsche handelt, reiße ich mich zusammen, wische mir den Schweiß aus dem vermutlich hochroten Gesicht und eile den steilen Forstweg hinauf, so als ob ich immer schon so gegangen wäre und auch vorhätte, den Rest des Berges sehr eilig bezwingen zu wollen (zu können). Da Deutsche es immer sehr gern haben, wenn man sie mit einem herzig herzhaften „Grüß Gott“ begrüßt (sie meinen nämlich, man würde sie als ebenbürtig akzeptieren, wenn man das tut), mache ich selbiges, um von meiner offensichtlichen Erschöpfung abzulenken.

Es stellt sich heraus, dass es sich um Sachsen handelt. Das beruhigt mich insofern, als mir die Sachsen als ein kerniges und tüchtiges Volk bekannt sind, die das Wandern noch als eine Tugend begreifen und nicht als ein leidiges Mühsal. „Kommen wir hier zur Jaga-Alm?“, fragt mich der Sachse freundlich. Wie immer amüsiert mich die bundesdeutsche Aussprache des Wortes „Jaga“, diesmal um eine sächsische Intonation bereichert. In solchen Situationen ist der Bergmensch bemüht, allen Klischees gerecht zu werden, und also lache ich kurz auf, bevor ich antworte. Dieses Lachen ist eine Mischung aus verwunderter Erheiterung und milder Nachsicht und will geübt sein – ich beherrsche es (so unbescheiden darf ich sein) perfekt. Daraufhin erkläre ich ihm in grober, aber für das Deutsche Ohr gerade noch verständlicher Mundart, dass er sich „ganz auf der falschen Seite“ des Berges befinde. Er sei wohl von oben her kommend rechts abgebogen? Das bestätigt der Sachse mit einem überaus sächsischem „Jawoll!“. Die Jaga-Alm befinde sich aber auf linken Seite, erkläre ich ihm. „Aha!“, sagt der Sachse ein wenig enttäuscht. Ich tue so als ob ich ihn und seine Frau begutachten würde und sage ihnen aufmunternd, dass mir scheine, dass sie beide gut „beinander“ seien und, unten angekommen, den Weg zur Jaga-Alm vom Tal aus angehen könnten – es seien von unten ja nur 20 Minuten. Der Sachse verzieht etwas den Mund. „Für Sie 15!“, füge ich noch hinzu, um sein Misstrauen ein wenig zu zerstreuen. Da grinst er, bedankt sich und wünscht mir noch einen guten Tag.

Ich eile weiter, bleibe aber, sobald ich die Sachsen aus meinem Blickfeld verloren habe, sofort stehen um Luft zu holen. Dabei verfluche ich den amerikanischen Lebensstil, der mir jegliche Kondition verkümmern ließ, und den versuche, das Brennen in meinen Beinen als wohliges Gefühl zu interpretieren. Dann erinnere ich mich aber daran, dass ein Amerikaner nie aufgeben würde und ich jetzt hier nicht als Österreicher auf den amerikanischen Lebensstil schimpfen und gleichzeitig auf gut österreichisch aufgeben kann. Deshalb quäle ich mich weiter.

Oben dann die gewohnt schöne Aussicht. Ja, toll ist es hier und staunen muss man schon, dass es einen solchen Flecken Erde usw... Ein wenig versöhnt mich der Blick ins Tal wieder mit meiner Heimat. Noch einmal kommt mir der Sachse in den Sinn, der die Jaga-Alm nur deshalb verfehlt hat, weil er den unwahrscheinlicheren Abstieg gewählt hat. Weil er eine Route gewählt hat, die sonst niemand wählt, ja, die die wenigsten überhaupt finden. Und Sachsen, die in unseren Wäldern unwahrscheinliche Wege beschreiten, gehören zu der Heimat genauso dazu wie der schöne Blick ins Tal und die geheimnisvollen Gerüche des Waldes. Dass das Fremde zur Heimat gehört, das wissen nur die Bergmenschen in den Tourismusgebieten. Und mag auch der eine oder andere darüber schimpfen, bestreiten kann es keiner, denke ich mir und beginne meinen knieweichen Abstieg.

Wieder unten angekommen, sitze ich erneut am Balkon und starre auf die Berge. „Das Erhabene!“, denke ich mir und muss lachen, weil ich immer an Immanuel Kant denken muss, wenn ich an „das Erhabene“ denke (was bei Gott nicht oft der Fall ist!). Und dann fällt mir ein, wie dieser Kant einmal behauptet hat, dass es überhaupt nur zwei Dinge gebe, die sein Herz berühren oder was auch immer: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, so er. Ich lache über die pathetische Übertriebenheit seines Satzes, obwohl mir klar ist, dass ich gerade auf die Berge schaue wie der Kant damals auf die Sterne und irgendetwas fühle. Auch, wenn es nicht das „moralische Gesetz in mir“ ist, ist es irgendetwas Wichtiges, etwas Beruhigendes. „Der Kant, der alte Depp“, sage ich mir. „Wenn der je aus Königsberg hinaus gekommen wäre und die Berge gesehen hätte, dann wäre ihm das moralische Gesetz auch wurscht gewesen.“

Und weil ich mich selbst dabei ertappe, wie ich in Gedanken Berge und Heimat mit dem Kant vermische, habe ich das Gefühl, wieder zu Hause und irgendwie bei mir selbst angekommen zu sein. Und das erheitert mich genauso wie es mich be(un)ruhigt.

1 Kommentar:

  1. Dass das Fremde zur Heimat gehört, das wissen nur die Bergmenschen in den Tourismusgebieten. Und mag auch der eine oder andere darüber schimpfen, bestreiten kann es keiner, denke ich mir und beginne meinen knieweichen Abstieg.

    Da spricht ja direkt Weisheit aus dem Herrn! Wird Zeit, dass du deinen Doktor schreibst - am besten über Kant, das krumme Hölzlein, und Erhabene...

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