Donnerstag, 29. September 2011

Der Streber

Seine Familie kann man sich genauso wenig aussuchen wie seine Sitznachbarn im Flugzeug. Mit ersterem habe ich, so ist mir spätestens nach diesem Amerika-Aufenthalt gewiss, großes Glück gehabt. Mit den Sitznachbarn schaut es weniger gut aus. Dabei bleibt freilich offen, ob es sich bei diesen Menschen wirklich um Ungustln bzw. unangenehme Personen per se handelt, oder ob sie für mich nur durch den Umstand, neben mir zu sitzen, dazu werden.

Gut, ich habe wenigstens einen Sitz am Gang erwischt, habe also quasi nur einen Sitznachbar, als ich mich in die Delta-Maschine zurück nach München setze. Das Flugzeug ist halbvoll mit Amerikanern, einige davon auf dem Weg zum unvermeidbaren Oktoberfest. Die andere Hälfte sind Deutsche auf dem Weg in die Heimat, wo sie sicherlich besser hinpassen, als nach Amerika. Behaupte noch einer, Amerikaner würden sich oft unästhetisch kleiden und schnuddelig daherkommen, dem seien diese deutschen Touristen gezeigt mit ihren allzu deutschen, vom Urlaub gepeinigten Gesichtern und ihrer Sprache, die niemals jener der ARD-Nachrichtensprecher ähnelt, sondern immer sächsischer, niederbayerischer, schwäbischer oder irgendein anderer, nur schwer zu ertragender Dialekt ist. Sie schlurfen ungekämmt und ungewaschen in Trainingsanzügen durch die Flughafenhallen und jammern über alles, als hätten sie selbst – und nicht etwa die Österreicher – das Jammern erfunden.

Ich sitze neben einem Amerikaner. Sollte er sich auf dem Weg zum Oktoberfest befinden, wird es sicherlich kein allzu lustiges. Es handelt sich um eine vollkommen humorlose Person. Eigentlich handelt es sich um einen Streber. Er gibt sich Mühe, besonders aufrecht zu sitzen, hat eine Brille, die ihm zwar nicht passt, aber wahrscheinlich unheimlich „praktisch“ ist, seine Frisur ist, wenn schon nicht schön, dann jedenfalls „pflegeleicht“. Er hat Finger mit sehr kurzen Nägeln, sie sehen irgendwie aus wie Ingenieursfinger. Mit solchen Fingern tippt man auf Taschenrechnern herum oder hält Lineale, keinesfalls verwendet man sie zum Gitarre Spielen oder für obszöne Gesten.

Der Streber hält einen Kindle in der Hand. Ja, auch irgendwie vernünftig, denke ich mir, der hat sich den sicherlich aus Gründen der Umweltfreundlichkeit gekauft. iPad ist ihm unvernünftig zu teuer und andere Tablets sind ihm suspekt; daher Kindle: die vielen Bäume, die nicht gefällt werden! Gänzlich unsympathisch ist mir die Kunstlederhülle seines Kindles. Er klappt sie auf und hält sie so, als würde er ein tatsächliches Buch in der Hand halten. An der Seite seiner Kindle-Hülle ist eine Leselampe befestigt, die er eifrig über den Bildschirm biegt und einschaltet, als das Licht in der Kabine gedimmt wird. Die Leselampe sieht aus wie ein Fühler eines Glühwürmchens und irgendwie finde ich es drollig, wie stolz der Streber auf dieses Lämpchen offensichtlich ist.

Bei der Stewardess bestellt er überraschenderweise Wein. Was mich zuerst ein wenig stutzig macht, offenbart sich bald als eine Geste des eingebildeten Geschmacks. Tatsächlich trinkt er den Wein so, als handelte es sich dabei um etwas ganz Besonderes. Als hätte er keinen viel zu vollen Plastikbecher in der Hand, sondern ein Kristallglas. Als wäre es kein Tetra-Pak-Wein, sondern ein ganz besonders feinen Tropfen. Wieder finde ich das irgendwie lieb und überlege mir, was ich bestellen könnte, um ihn sich noch feiner fühlen lassen zu können. Bier möchte ich keines, sonst fällt mir nichts ein, also bestelle ich nichts. Das scheint den Streber ein wenig zu verunsichern. Asketismus, so kommt mir vor, dass er mich spüren lassen will, ist doch eigentlich seine Domäne!

So setzt sich der Streber noch ein wenig aufrechter hin und beschließt insgeheim, die ganze Flugzeit von 9 Stunden nicht aufzustehen. Das sollte ihm tatsächlich gelingen, denn sein nun praktizierter Asketismus lässt anscheinend sogar seinen Harndrang verstummen. Ich muss zugeben, dass ich am Ende des Fluges ein klein wenig beeindruckt war.

Die meiste Zeit liest der Streber, nur selten unterhält er sich mit seinem Begleiter, der links neben ihm sitzt. Mit mir unterhält er sich gar nicht und ich bin eigentlich sehr froh darüber. Ein gelegentliches Schielen auf seinen Kindle verrät mir, dass er einen Krimi liest. Ja vielleicht sogar eher einen Agenten-Roman, jedenfalls etwas furchtbar Geschmackloses. Meine neugierigen Ausflüge auf sein Display zeigen mir einen Dialog, in dem jemand aufgefordert wird, irgendwelche „Dokumente“ zu beschaffen. Ich erfahre außerdem, dass jemand für den KGB arbeitet, dass es einen Romanov gibt und dass jemand von Solothurn (gute Agentengeschichten müssen irgendwann immer auch in der Schweiz spielen) nach Frankfurt fahren muss und das in einem schwarzen Jaguar tut.

Ich glaube gar nicht, dass der Streber seinen Roman sonderlich gut findet. Vielmehr hat er ihn sich auf seinen Kindle geladen, weil er erstens so enthusiastisch seines vermutlich neuen E-Readers wegen war, und weil er zweitens der Meinung ist, dass man sich für einen langen Flug ein Buch kaufen sollte. Weil er sonst nichts liest, und sich von einem Spionage-Thriller (?) garantierte Unterhaltung erwartet hat, hat er sich dieses Buch gekauft. Und was er sich gekauft hat, das liest er auch. Denn das gehört sich so.

Was sich allerdings nicht gehört, ist, dass der Streber etwa alle 40 Minuten einen Puh lässt. Ich möchte mich gerne bei ihm beschweren, aber was ist leichter, als die Urheberschaft eines Flatus abzustreiten, noch dazu eines leisen? So begnüge ich mich damit, jedes mal, wenn mir eine seiner Entweichungen zur Nase steigt, wiederholt den Kopf zu schütteln. Mir ist bewusst, dass es sich hierbei um ein lächerliches Verhalten handelt, und ich weiß auch gar nicht, ob der Streber meinen Ausdruck verständnislosen Widerwillens zur Kenntnis nimmt. Aber wie soll ich mir sonst behelfen? Aha, denke ich mir, vorgeben, ein Asket zu sein und dann die ganze Zeit einen Puh lassen müssen! Eine solche Hybris lässt mich dann einfach ganz automatisch den Kopf schütteln...

Der falsche Asket verzichtet auch auf sein Frühstück. Vermutlich möchte er durch diesen Stop der Nahrungsaufnahme seinen Flatulenzen Einhalt gebieten. Oder er möchte wirklich beweisen, dass er einen 9 Stunden langen Flug ohne Frühstück und ohne aufs Klo zu gehen aushält. Ich merke, er will es mir beweisen. Und ich wünschte, er würde doch endlich aufstehen und auf die Toilette gehen, damit wenigstens mit dem unsäglichen Puh-Lassen Schluss ist. Doch er verweigert und liest sichtlich gelangweilt weiter seinen Agenten-Roman auf seinem Kindle mit dem lieben Leselicht, das er mit seinen Ingenieursfingern so ausrichtet, dass es möglichst effizient das Display ausleuchtet. In mir steigt eine kleine Wut hoch. Ich versuche, mir die Zeit mit Mahjongg-Spielen zu vertreiben, spiele hektisch ungefähr 50 Partien – irgendwie muss die Zeit doch totgeschlagen werden.

Als sich am Ende des Fluges der Streber erhebt und das Flugzeug verlässt, bin ich erleichtert. Ich bleibe sogar noch ein wenig sitzen, um sein Verschwunden-Sein noch etwas genießen zu können. Während sich bei mir ein paar Oktoberfest-Bayern vorbeischieben und mir wieder die anderen widerlichen Fluggäste einfallen, wird mir plötzlich klar, warum mir der Streber als Sitznachbar sozusagen gesandt wurde: Er sollte mir den Abschied von Amerika besonders leicht machen! Mission erfüllt, Ingenieur Puh!

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