Freitag, 7. Oktober 2011

Keine Zeit für Lyrik?

Da stellt man sich hin und wieder die Frage, was eigentlich mit der Lyrik los ist, ob das noch jemanden interessiert, ob es da noch Leute gibt, die sinnvolle Lyrik produzieren und überhaupt... Und dann bekommt ein unbekannter schwedischer Lyriker, dessen Werk aus 11 schmalen Gedichtbänden besteht, den Literaturnobelpreis zugesprochen. Ich finde das toll und irgendwie auch schade. Toll, weil es zeigt, dass Lyrik also doch noch da ist und es anscheinend noch beachtenswerte Lyrik gibt. Schade, weil das Lesen gerade von Lyrik-Übersetzungen ein zweifelhaftes Vergnügen mit fragwürdigem Wert ist.

Das Schöne an Lyrik ist ja, dass sie uns mit relativ wenigen Worten viel sagen kann. In einer Welt, in der uns andauernd mit möglichst vielen Worten im Grunde überhaupt nichts gesagt wird, ist das Gedichte-Schreiben zu einer Tugend verkommen, der höchstens noch idealistische Jungschriftsteller die Stange halten. Oder aber ältere Schriftsteller, die es sich leisten können bzw. die ihr Werk sowieso nicht allzu ernst nehmen. Freilich ist dieser Umstand auch der grundsätzlichen Frage nach den Konsumenten von Lyrik geschuldet: Wer liest denn noch Gedichte?

Vielfach wurde Poplyrik als die moderne Form des Gedichts ausgemacht. Vor allem mit dem Hinweis auf die liedhaften Ursprünge der Lyrik schien es, als wären die Texte zeitgenössischer Popsongs die verdienten Nachfolger der letzten großen lyrischen Bemühungen, die sich irgendwann in die 70er, vielleicht auch noch in die 80er Jahre datieren lassen. Nicht-Germanisten sind aus dieser Zeit höchstens noch Erich Fried oder Hans Magnus Enzensberger ein Begriff. Beides Dichter, die zu diesem Zeitpunkt den Zenit ihres lyrischen Schaffens schon mehr oder weniger überschritten hatten.

Was leisten aber Popsongs nun wirklich auf lyrischem Gebiet? Freilich gibt es da oder dort die eine oder andere knackige Zeile, einen Vers, der einen Gedanken ziemlich auf den Punkt bringt. Das taugt dann für ein Facebook-Statusupdate oder als Sinnspruch, den sich Studenten gegenseitig auf Mappen oder Taschen kritzeln. Auch wenn es die bekannten Ausnahmen gibt (ich erinnere an den jedes Jahr aufs neue als Favorit auf den Nobelpreis geltende Bob Dylan), das gros der Liedertexter versteht sich in erster Linie als Musiker. Und jenen Musikern, die ihr lyrisches Handwerk tatsächlich zu verstehen scheinen, die also eigentlich in erster Linie Dichter sind, ist nur bescheidener kommerzieller Erfolg vergönnt. So viel zum Thema Breitenwirksamkeit von moderner Poplyrik.

Ich möchte so weit gehen und dem großen Pumuckl widersprechen, der gemeint hat, dass alles, was sich reime, gut sei. So bewies eine Wochenendausgabe des Standard vor ein paar Jahren, wie platt (wie unlyrisch) die Songtexte der damaligen Sommerhits eigentlich sind: Ein paar angesehene Germanisten (allen voran der mittlerweile verstorbene Obergermanist Wendelin Schmidt-Dengler) analysierten – freilich mehr oder weniger ironisch – für den Standard besagte Texte. Das Ergebnis war weder für die Lyriker (Christina Stürmer et.al.) noch für die österreichische Germanistik besonders schmeichelhaft. Für geschätzte 90% der zeitgenössischen Songtexte gilt leider – auch wenn sich alles schön reimt und das Versmaß stimmig ist –: Es ist zu wenig da. Liedertexter sind keine Dichter, weil sie selten etwas verdichten. Meistens ziehen sie einen einzelnen Gedanken unnötig in die Länge und bedienen sich dabei des einfachsten und unaufregendsten sprachlichen Materials.

Dabei ist Lyrik das genaue Gegenteil: Sie ist das Vermitteln von Etwas über Sprache, ohne dabei besonders kommunikativ sein zu müssen. Das ist oft mühsam, weil schwer bis gar nicht verständlich (Hölderlin!). In den meisten Fällen aber lohnt sich der Aufwand für den Leser. Lesen wir Lyrik, so lernen wir am meisten über Sprache und wie sie funktionieren kann (oder auch nicht funktioniert). Das bewusst gesetzte Wort, die bis zur Unkenntlichkeit verschobene Metapher, die einen einzelnen Gedanken zu packen und nie mehr loszulassen vermag, ein Rhythmus, der den Leser stolpern lässt, um ihn gleichzeitig unaufhaltsam weiterzuschleifen; und all das auf kleinstem Raum mühevoll und sorgfältig hingeschrieben: das ist Lyrik – kleine Sprachkunstwerke, die wir immer und immer wieder lesen können, ohne dass uns dabei langweilig würde.

Das Lesen von Büchern ist noch lange keine ausgestorbene kulturelle Praxis. Im Gegenteil scheint es mir oft, als würden die Leute immer mehr und immer dickere Bücher lesen. Kindle und Co. verbinden das Mühsal mit dem Vergnüglichen und bringen Menschen dazu, wieder Texte zu lesen, die länger sind als ein Scrollen mit der Maus nach unten. Aber doch schwappt es von allen Seiten auf Leser wie Nichtleser ein. Textlawinen überrollen uns täglich – so genau wollen wir das, was uns da aufgetischt wird, gar nicht wissen. Wir picken das heraus, was unseren bescheidenen Hunger nach Information still. Platz für eine achtsame Auseinandersetzung mit Sprache bleibt da nicht. Lyrik ist irgendwie unmodern, obwohl sie knapp und kurz – also tweetig – ist.

Freilich gibt es zeitgenössische Lyriker, die zeitgenössische (oft sogar relevante) Gedichte schreiben. Aber gibt es auch den zeitgenössischen Leser, der sich Zeit für Lyrik (es muss ja gar nicht die moderne sein) nimmt? Sich mit einem Text auseinanderzusetzen, über die Erfassung, der vom Text angebotenen basalen Information, hinaus, ist unpopulär, schwierig, langweilig. Mag sein, dass das Lesen von Gedichten unzeitgemäß ist. Aber die bewusste Auseinandersetzung mit Sprache, ihren Mitteln und Wirkweisen schult nicht nur das Denken, sondern auch den eigenen Sprachgebrauch und die Sprachkritik. Das kann uns nicht nur helfen, im gegenwärtigen Informationsdschungel den Überblick zu bewahren, sondern auch das Wahre, Schöne, Gute vom restlichen Datenmüll zu unterscheiden.

Das Schreiben und Lesen von Gedichten ist eine intellektuelle wie auch eine ästhetische Schule. Daher kommt auch die damit verbundene Mühseligkeit. Aber es handelt sich um eine Mühseligkeit, die sich bezahlt macht. Dass ein Lyriker den Nobelpreis erhalten hat (ob gerechtfertigt oder nicht, spielt keine Rolle), soll uns daran erinnern, dass Literatur auch (oder vor allem) im Stillen, Kleinen und Sorgfältigen stattfindet, und nicht nur im ewig gleichförmigen Plätschern der Wörter und Floskeln.

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