Montag, 31. Oktober 2011

Der Berg als Stein des Anstoßes

Letztens wurde in einem Seminar diskutiert, warum Menschen auf Berge steigen. Mit allen möglichen Antworten kamen da die Seminaristen daher, die einen mehr, die anderen weniger überzeugend. Gewiss kann man hier viele Motive geltend machen, mir aber schien just Francesco Petrarcas (1304-1374) "Brief an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro in Paris" den treffendsten Beweggrund zu nennen. Er sei, so schreibt Petrarca, den Mont Ventoux hinaufgestiegen, nicht nur um die "ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen", sondern vor allem weil der Berg ihm "fast immer vor Augen" steht. Seit seiner Kindheit sei er ihm im Weg gewesen...

An Österreich und der Schweiz merkt man, wie Bewohner eines gebirgigen Landes mit jenen Erhebungen umgehen, die sie von jeher eingrenzen: Sie steigen drüber hinweg oder graben durch sie hindurch. Das reine Hinaufsteigen des Schnapserls wegen, das man beim Gipfelkreuz trinkt, ist eine Nebenerscheinung, die freilich heutzutage als das populärere Motiv gelten mag. Aber im Grunde will man die "Scheißberg" aus dem Weg haben. Zumindest kurzfristig. Nach dem Be- und Übersteigen kann man ja ohnehin wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren und sich wohlig eingesperrt fühlen. Das Bewusstsein aber, dass man schon oben und drüber hinweg war, das bleibt und beruhigt ein wenig.

Etwas wenigstens einmal getan zu haben, damit das Gewissen eine Ruh' gibt: Das ist der Keim des menschlichen Fortschritts. 90% der Menschen machen 90% der Sachen, die sie einmal ausprobieren, sowieso nie wieder. Andere verlieren sich hoffnungslos in der Sucht nach der Tätigkeit, die sie für sich entdeckt haben und gehen vielleicht sogar daran zu Grunde. Nicht selten ist der Stein des Anstoßes eine simple Störung bzw. ein Gestört-Sein-von-etwas, das zu einer Ausgleichshandlung führt, die dem Handelnden nicht selten einige Mühe kostet. Irgendwo mischt sich da noch Ehrgeiz dazu, irgendwo ein sportlicher Gedanke (was ist das überhaupt?) und schon hat man ein Projekt, das es zu bearbeiten und abzuschließen gilt. Und bevor man das nicht gemacht hat - oder gründlich daran gescheitert ist - gibt es nichts Anderes oder Wichtigeres.

Petrarca hat mit Mühen den Gipfel erklommen und hat sich dann selbst daran erinnert, dass er lieber wieder heimgehen und den Augustinus lesen sollte, er sich nicht mit den rein äußerlichen Dingen beschäftigen, sondern das Auge lieber auf die geistigen Gebirge richten sollte. Dass ihm aber der Ausblick gefallen hat, muss er dennoch - fast schon beschämt - zugeben. So erinnert mich der italienische Literat irgendwie an meinen letzten Berggang, und dass ich, nachdem ich endlich oben war, es doch ein bisschen genießen konnte, obwohl ich zuerst nur hinaufsteigen wollte, um zu erkennen, dass sie nicht alle gänzlich unüberwindbar sind, die Berge.

Ich frage mich nur, wie oft die Bergmenschen auf die Berge hinaufrennen mussten, bis sie kapiert haben, dass das, was man da oben sieht, nicht nur betrachtenswert, sondern eben auch bestaunenswert ist. Denn die Anschauungsweise eines Georg Simmel war wohl nicht von Anfang an kulturelles Gemeingut (nicht nur, weil sie sich aus der Differenz zwischen alpinen und nicht-alpinen Raum-Erleben speist).
Jedenfalls sollte man beim nächsten Berggang auch einmal versuchen, das Gefühl einzufangen, das man abseits des Wohlgefallens an der Gegend und dem befriedigten Ehrgeiz verspürt: Jenes nämlich, dass man den "Scheißberg" endlich aus dem Weg hat.

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