Mittwoch, 19. Oktober 2011

Wenn das die Alten wüssten!

"Goethe! Schiller!", schreit der Bollwerk-Bub unermüdlich. Er habe sie gelesen, sagt er. Zum Beweis zitiert er den Anfang von Faust "Habe nun ach! Philosophie...", dabei reißt er seine Augen samt erweiterten Pupillen weit auf. So hat sich das der Goethe nicht vorgestellt, denke ich mir. Dass da einer mit blondierten Haaren, Ohrringen, tätowiert und mit New-Yorker-Klamotten in einem Lokal steht und ihn zitiert. Oder vielleicht schon - vielleicht würd ihn ein moderner (noch lebender) Goethe als eine zeitgenössische Werther-Figur akzeptieren. Ich habe da aber so meine Zweifel.

"Faust - der Tragödie erster Teil!", verkündet der Bub. Ich frage ihn, ob er auch noch was anderes könne, weil sowohl "Faust - der Tragödie erster Teil" als auch der Beginn von Fausts erstem Monolog, das sei beides vorne und hinten auf dem Reclam-Hefterl zu finden. Um das zitieren zu können, sage ich ihm, reiche es, wenn man das Bücherl nur lange genug unaufgeschlagen vor sich liegen hat und einfach nur draufstarrt - am Klo zum Beispiel. Natürlich bin ich ihm nicht böse und tatsächlich sage ich "Hefterl" und "Bücherl", benutze also ganz bewusst Diminutive, die man Kindern zumuten kann. Das klingt lieb und verständnisvoll, verfehlt aber seine Wirkung, denn der Bub ist irgendwie ganz erbost über meine Anschuldigungen.

"Auerbachs Keller!", sagt er und weiter nichts. Ich fasse zusammen: Bis jetzt hat der Bub die Namen von Goethe und Schiller zitiert, behauptet, er habe beide gelesen (meint er - in metonymischer Wendung - beider Gesamtwerk?), dann hat er die Vorder- und Rückseite des Reclam-Hefterls zitiert. Auerbachs Keller kennt er auch. Man hat es also anscheinend mit einem Experten zu tun! Leider stellt sich bei genauerer Nachfrage heraus, dass sich das Expertentum des Buben auf das Sozialgefüge im Bollwerk beschränkt. Goethe und Schiller habe er in der Schule (sic!) gelesen. Es habe ihm aber gefallen.

Jemand sagt ihm, dass ich Germanist sei, also bittet er mich, ihm weitere Lektüreempfehlungen zu geben. Ich zähle ihm widerwillig alles auf, den ganzen Kanon, rate ihm davon ab, irgendwas zu lesen, was früher als im 18. Jahrhundert geschrieben wurde, sage ihm, dass die Traditionslinien des Realismus im 20. Jahrhundert interessanter sind als der bürgerliche Realismus, dass er sich selbigen also sparen könne, außer er erhebe Anspruch auf Vollständigkeit. Besonders empfohlen habe ich ihm natürlich Büchner, Kleist, Kafka und Musil - sie alle kennt er nur vom Hörensagen, seine Augen leuchten. Lyrik wolle er auch lesen, ich warne ihn also vor Hölderlin, spreche von einem "Wagnis", gleichzeitig auch von einer "lohnenden Herausforderung" - ich komme mir ganz deppert vor.

Abschließend sage ich ihm, dass es aber auch Leute gebe, die behaupten, dass, wenn man nur Goethe und Schiller gelesen habe, es eigentlich reichen würde. "Goethe! Schiller!", könne er dann den Rest seines Lebens brüllen und mit der entsprechenden Lektüreerfahrung würde er sich damit auch nicht gänzlich lächerlich machen. "Man kann ja nicht alles wissen wollen", sage ich ihm noch aufmunternd. Der Bub scheint mir das nicht ganz glauben zu wollen und das, obwohl er den Faust gelesen hat...
Ich bin froh, das leidige Gespräch zu einem versöhnlichen Abschluss gebracht zu haben und der Bub erzählt mir, wie er am Jakominiplatz von drei Bollwerk-Typen verprügelt worden ist. Dass er weggerannt sei, nachdem er zwei davon KO geschlagen hat, dass er aber selber eine gefangen habe und ich damit rechnen müsse, dass jeden Moment ein Dübel aus seiner Stirn wachse.

Zwei Stunden später, bevor der Bub das Lokal verlässt, überprüfe ich seine Stirn - kein Dübel weit und breit, nicht einmal rot ist es irgendwo. Ein bisschen enttäuscht bin ich schon. Gleichzeitig aber empfinde ich aufgrund des Gedankens, dass da draußen ein Goethe lesender vorgeblicher Bollwerk-Prügler seine Kreise zieht, dankbare Behaglichkeit.

Daheim muss ich auf facebook lesen, wie sich jemand über den Satz "Das Nichts nichtet" amüsiert (*lol* ;-) *gg*). Den Satz habe man damals einmal bei "Echt fett" gehört.
Wenn Goethe schon nicht wegen des Bollwerk-Werthers im Grabe rotiert, so würde zumindest der Heidegger ein griesgrämiges Gesicht ziehen, wenn er erführe, dass die Jugend seine Sätze aus einem situationskomödiantischen Fernsehprogramm mit dem Namen "Echt fett" kennt und sie mit Emoticons und äußerste Heiterkeit anzeigenden Internet-Akronymen versieht. Wenn die das alles wüssten...

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