Donnerstag, 15. September 2011

Newer Leans?

Das englische Adjektiv „lean“ erscheint mir als eine nette, elegante Art, kümmerliche Dinge zu beschreiben. Wo immer ein bisschen zu wenig vorhanden ist, sage man „lean“ und schon klingt es wie eine edle Eigenschaft. Manche mögen behaupten, dass in New Orleans vieles „lean“, manches sogar zu „lean“ ist, dass die Beschreibung einiger Dinge stärkere Wörter wie „shabby“ oder gar „desolate“ verlangen würde. Das sind aber genau solche Leute, die einen ungläubig anstarren, wenn man ihnen erzählt, dass man vorhabe nach New Orleans zu fahren. Leute, die einen den blödsinnigen Tipp geben, ein Schlauchboot mitzunehmen. Blödsinnige Leute eben.

Gegen die gemeine Verunglimpfung durch euphemistische, substantivierte Adjektive, vor allem in Verbindung mit einem ironisch-antagonistischen „newer“, wehren sich die New Orleanians schon mit der Aussprache des Namens ihrer Stadt. So betonen sie stolz die erste Silbe von Orleans und nicht das New. Anstatt eines „Newer Leans“ erhält man so ein staunendes „New Oah!leans“. Damit sollen sich vor allem die Anfänger beschäftigen, denn gerade diese sollen gefälligst das Staunen lernen. Fortgeschrittene dürfen dann „N'awlins“ sagen - lässig, informiert und Kaugummi kauend.

Warum soll man also das Staunen lernen in New Orleans? Ein alter Grieche hat einmal behauptet, im Staunen liege der Beginn der Philosophie. In New Orleans braucht man aber keine Philosophie, sondern nur Augen und vor allem Ohren. Das Staunen in New Orleans gleicht vielmehr jenem Staunen, mit dem man zum ersten Mal einen Song seiner zukünftigen Lieblingsband hört. Ein aufgeregtes „Was ist das?“ schleicht einem langsam ins Bewusstsein, wird immer dringlicher und nimmt einen schließlich ganz ein. Man will um jeden Preis wissen, worum es sich bei dem, was man da gerade hört, handelt. Doch das ist zunächst ein rein informatives Verlangen. Denn bald will man wissen, warum das einen Staunen macht, was hier genau passiert und warum es einen nicht mehr loslassen will. So ist das auch mit New Orleans.

Wenn Savannah die hübsche Perle der Ostküste ist, dann ist New Orleans ihre wildere Cousine am ölverdreckten Golf von Mexiko, die sich die Haare färbt, sich tätowieren lässt und Drogen nimmt: gefährlicher, aber auch interessanter. New Orleans ist wild. Das sieht man nicht nur an den vielen Ambivalenzen, die sich einem sehr bald zeigen, sondern vor allem an der Vielfalt der kulturellen Entitäten dieser Stadt. Das Essen zum Beispiel, das hier einen noch höheren Stellenwert genießt als im restlichen Amerika (hier aber zu Recht!), ist ein fröhliches Potpourri aus karibischer, afrikanischer, amerikanischer, mediterraner und französischer Küche, welches mit den gängigen Begriffen (Cajun, kreolisch, Soul food) nur unzulänglich beschrieben werden kann. Aber auch hier ist man weniger philosophisch, begriffsanalytisch unterwegs, sondern verlässt sich auf die Sinne. Und deswegen gibt es in New Orleans kein schlechtes Essen.

Das allerwichtigste aber ist die Musik. Davon gibt es nämlich auch keine schlechte. Wandert man abends durch das French Quarter, tönen aus jeder noch so kleinen Bar Jazz, Blues, Funk und Soul in allen möglichen Varianten – und vor allem in einer von einem Mitteleuropäer noch selten gehörter Qualität. Hier hört man Künstler, die großteils im New Orleans Sound aufgewachsen sind, die von Kindesbeinen an mit ihrem Instrument beschäftigt waren. Künstler, die sich vor allem mit der Kultur ihrer Stadt, d.h. mit ihrer Musik identifizieren. Hat man in einer Bar zwei Acts an einem Abend gehört und will man nicht gleich in die nächste schleichen, obwohl es von dort so verlockend herausgroovt, setzt man sich in sein Auto und dreht das Radio an: schon wieder gute Musik! Musik ist hier allgegenwärtig, unausweichlich, ein Lebenselixier für die Menschen dieser Stadt und bald auch für jeden Besucher. Jeder hier lebt und atmet den Jazz. Und darum gibt es in New Orleans keine schlechte Musik.

Katrina – auch dieses Wort ist allgegenwärtig. Sechs Jahre nach dem verheerenden Hurrikan sind zwar noch Spuren davon sichtbar. Aber New Orleans ist nicht Haiti, und auch wenn damals in Sachen Katastrophenhilfe nicht alles besonders gut gelaufen ist, muss man sagen, dass sich die Stadt recht gut von Katrina (und Rita) erholt hat. Mit Unglücken dieser Art gehen Menschen nämlich erstaunlich produktiv um. Wenn eine Gemeinschaft ein Desaster dieser Art überlebt, wird sie stärker, selbstbewusster. Das sieht man an New Orleans nach Katrina genauso wie an New York nach 9/11. Waren die New Orleanians vorher schon etwas Besonderes, so muss ihnen das nach Katrina noch bewusster sein. Ich würde behaupten wollen, dass sich die Einwohner von New Orleans weniger amerikanisch fühlen als Amerikaner in anderen Teilen des Landes. Zum Beispiel übersteigt die Zahl der New Orleans Saints-Flaggen (hiesiges NFL-Team) und jene der fleurs-de-lis bei weitem die der Stars and Stripes. Man ist sich seines Sonderstatus gründlicher bewusst – und Katrina hat dazu wohl auch einiges beigetragen.




New Orleans muss man erlebt haben, und zwar nicht nur zur Mardi Gras Zeit. Kaum eine andere amerikanische Stadt bietet eine vergleichbare kulturelle Vielfalt, keine andere Stadt ist so schön und hässlich zugleich bzw. tritt in keiner anderen Stadt das Schöne im Hässlichen und das Hässliche im Schönen so greifbar hervor. New Orleans fehlt vielleicht jene Schicht des Euphemistischen, die die Amerikaner überall sonst vor der unmittelbaren Brutalität der Wirklichkeit schützt. Authentizität wie in Savannah, möchte ich fast sagen – aber noch ein bisschen exklusiver, ein bisschen rauer und unmittelbarer. Die vielen Amerikaner, die New Orleans besuchen, verwechseln das mit Unterhaltung – obwohl für diese natürlich auch gesorgt ist. Sie glauben, New Orleans ist eines dieser vielen Märchenländer, die es in den USA zum reinen Vergnügen ihrer Besucher gibt. Das ist freilich eine krasse Fehleinschätzung, aber die New Orleanians wären schön blöd, wenn sie das nicht ausnutzen würden. Deswegen gibt es die Bourbon Street – jene Partymeile, die einem ernsthaft Interessierten schon von weitem suspekt sein muss und die gefälligst zu meiden ist. Um New Orleans muss man sich schon ein bisschen bemühen. Die Entschädigung für das Bemühen aber ist das Staunen-Dürfen über die vielleicht interessanteste Stadt der USA: N'awlins, NOLA, 504, The Big Easy..., keinesfalls aber „Newer Leans“!

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