Samstag, 16. Juli 2011

Paranoia

Bedrohlich knarrt es hinter mir. Zwar kenne ich das Geräusch schon, aber jedes mal wieder fährt es mir durch Mark und Bein. Es ist die anspringende Klimaanlage, die zu jeder Tages- und Nachtzeit ihren von mir so gefürchteten Dienst tut. Ich sitze mit nassen Haaren am Tisch und überlege, ob ich sie nicht besser föhnen gehen sollte, denke dann aber daran, wie meine Cousine Liz am ersten Abend eine Stunde lang mit nassen Haaren unterhalb des Lüftungsschlitzes gesessen ist - und sie ist auch heute noch kerngesund. Wir Bergtäler sind den Wind gewöhnt, den echten, den herzhaft kühlen Wind, der am Abend sich vom Berg hinab in das Tal stürzt und alle Hoffnungen auf einen lauen Sommerabend unter seinem garstig kalten Atem begräbt. Aber dieses hinterlistige, allgegenwärtige Gebläse, dem man nicht einmal einen konkreten Ursprung zuordnen kann (oft suche ich ängstlich nach dem Gitter, das die giftige Kühle entlässt, finde es aber nicht), das sind wir nicht gewöhnt. Hier wird mit unfairer Partisanentaktik gegen das wärmliche österreichische Wohlbefinden gekämpft, es ist ein Guerillakrieg der kleinen blauen Eiszapfenmännchen (die ich mir mittlerweile wirklich schon so vorstelle) gegen meinen erzitternden Körper.

Gestern musste ich einige Male aus dem Haus gehen, um mich wieder aufzuwärmen. Gott sei Dank hat die Schwüle schon etwas nachgelassen, sonst hätte ich gar nicht gewusst, wohin ich mich verziehen sollte. Jedes Mal, wenn ich in einem amerikanischen Auto auf dem Beifahrersitz Platz nehme, klappe ich panisch jegliches Gebläse, das mir zuleibe rücken will, von mir weg, nur um dann mitleidig gefragt zu werden, ob mir denn kalt sei. Nein, sage ich, kalt sei mir nicht, ich sei bloß paranoid. Dann gebe ich kurz darüber Auskunft, dass wir zu Hause nicht so viele Klimaanlagen haben, da unsere Klimaanlage, um meine Mutter zu zitieren, der Wald sei. Gott sei Dank wissen zumindest mein Onkel und meine Cousine Caitie aufgrund ihres letztjährigen Aufenthalts in Zell am See, dass ich nicht scherze, denn sonst hätte ich bereits um meine Glaubwürdigkeit fürchten müssen.

So auch gestern: Auf der halbstündigen Fahrt zu einem japanischen Lokal in Chattanooga versuche ich mich in Spuckübungen mit amerikanischen Kautabak. Mein Cousin Chuck auf dem Rücksitz (er kann sich dort nur quer über die Rückbank legen, da er ca. 2,10m groß ist und ungefähr halb so breit) ruft seinem Cousin auf dem Fahrersitz zu, dass er da hinten halb zergehe vor Hitze. Munter dreht daraufhin der Fahrer die Klimaanlage bis zum Anschlag, während ich, gleichermaßen geistesgegenwärtig wie paranoid, alle Luftaustrittsöffnungen von mir weg richte. "Ist dir kalt?", fragt Austin, der fahrende Cousin. Ich erkläre ihm die Geschichte mit dem Wald. Er lacht.

Im Sushi-Laden herrscht klirrende Kälte. Einerseits beruhigt mich das, denn roher Fisch hat es gerne kühl, ich muss mich also nicht um die Qualität der Lebensmittel sorgen. Andererseits bereue ich es, keine Jacke mitgebracht zu haben - aus Stolz und auch aus Unvorsicht. Das Essen ist großartig, die geschätzten 30 Eiswürfel im Wasserglas ziemlich unnotwendig, ich bestelle mir lieber ein Bier, das ich dann auch gerne anwärmen lassen würde, was aber bei den Temperaturen im Lokal nicht möglich ist. Endlich geben auch meine Cousinen zu, dass ihnen kalt ist. Meinem Cousin ist nicht kalt, so wie einem Bären bei frühzeitigem Wintereinbruch nicht kalt wird. Nach dem Essen stürze ich hinaus in die wohlig-schwüle Abendwärme von Chattanooga.

Auf dem Rückweg müssen wir von der Interstate abfahren, denn es gibt Stau. Drei Fahrbahnen voller Fahrzeuge, vor allem LKW. Ich erzähle, dass die bei uns nach 10 Uhr abends nicht mehr fahren dürfen. Wieder ernte ich von Austin einen ungläubigen Blick. Wir nehmen die erste Ausfahrt, umfahren den Stau, kommen durch seltsame Bezirke von West-Chattanooga, die selbst die beiden Einheimischen noch nicht gesehen haben. Chuck, der Bär, meint, wenn wir nicht aufpassen, landen wir irgendwo im Ghetto und werden ausgeraubt. Das scheint eine Grundangst weißer Mittelschichtamerikaner zu sein. In jeder Stadt gibt es mindestens eine Gegend, wo man nicht hingehen sollte, denn dort wird man sofort ausgeraubt, verdroschen, mindestens aber beleidigt, im schlimmsten Fall erstochen oder erschossen. In solchen Gegenden wohnen vorzugsweise Schwarze, Latinos oder Asiaten. Die Einfachheit dieser Weltsicht macht den Europäer zwar schmunzeln, nie aber würde er sich auf eine Diskussion einlassen, die auch nur irgendeinen Punkt dieses wackeligen Konstrukts angreifen würde; ein Konstrukt, das sich jedoch - so viel muss man eingestehen - in der Praxis sicherlich größtenteils bewährt. (Man bemerke die Kombination von "sicherlich" und "größtenteils" - mehr Vorsichtigkeitsfloskeln erlaube ich mir hier vorerst nicht.)

So hat jeder sein eigenes (unbegründetes?) Feindbild. Der Europäer die allgegenwärtigen Eiszapfenmännchen, die aus der Klimaanlage kommen, und der Amerikaner die "Gangs" in der "Hood". Die Hood kann man umfahren. Den Klimaanlagen auszuweichen, stellt sich aber als ein unmögliches Unterfangen heraus. Noch aber bin ich - dabei klopfe ich auf wahrscheinlich echtes Ahornholz - gesund, auch wenn mich das Brummen der gerade wieder angesprungenen Raumtemperierung schon wieder erschreckt hat. Man wird sich daran gewöhnen.

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