Montag, 18. Juli 2011

Der amerikanische Parmenidismus

Der Satz des Parmenides lautet sinngemäß: "Alles, was ist, ist. Alles, was nicht ist, ist nicht." Das klingt jetzt banal und eigentlich unnötig kompliziert, für einen Vorsokratiker war das aber eine nicht unwesentliche Einsicht. (Wie das Denken vor einem solchen Satz ausgesehen haben könnte, lesen Sie bitte bei Ernst Cassirer nach!) Warum ich jetzt mit so einem philosophischen Topfen daherkommen muss, erklärt sich mit dem Blick auf die Amerikaner, die dieses binäre Denken, mit einem Zug zum Pragmatischen versehen, auf nahezu alle Bereiche der Kommunikation übertragen.

Gestern ist es um Freiheit und Unabhängigkeit gegangen, und darum, dass diese (ideologischen) Fundamentalwerte der westlichen, besonders aber der amerikanischen Gesellschaft in den verschiedensten Ausprägungen zu finden sind. Meinungsfreiheit und öffentliche Diskussion wären etwa solche Formen der Freiheit, und gerade diese werden in den USA sehr hoch gehalten. Zu jedem politischen, wirtschaftlichen, sozialen Thema - aber auch zu allen sonstigen Themen - gibt es im amerikanischen Fernsehen Debattierrunden oder Talkshows. Das Bemerkenswerte an diesen Debatten ist jedoch immer der tiefe Graben zwischen den Meinungen, von denen es meist nur zwei gibt. Entweder etwas ist (so oder so), oder er es ist nicht (so oder anders): Von dieser Kontravalenz ist das Denken der jeweiligen Parteien geradezu infiziert. Da es ein Drittes sowieso nicht gibt, braucht man in den USA auch nicht mehr als zwei politische Lager.

In der Diskussion berufen sich beide Seiten zudem abwechselnd auf die harte, amerikanische Realität. Sie erklären, wie die Lage ist und was in dieser Lage zu tun sein sollte. Dabei widersprechen sie sich bereits in der Beschreibung des Ist-Zustands, merken es aber nicht. Sie tun so als ob sie über das Gleiche sprechen würden, was aber nicht der Fall ist. Dann geraten sie einander darüber in die Haare, wie das Problem zu lösen sei. Dabei findet im Grunde kein Austausch statt. Soll der Zuschauer die Synthese leisten? Die Antwort lautet: Nein, weil der Zuschauer sowieso entweder dem einen oder dem anderen Lager zustimmen wird, denn er gehört ja einem der beiden von vorneherein an. So setzt sich diese fruchtlose Form der Diskussion auch im Alltag fort. Obama-Befürworter und Obama-Gegner tauschen sich nicht aus. Sie erklären einander ihre Sicht der Welt, ohne überhaupt den Anspruch zu haben, dem anderen die eigene Sichtweise verständlich zu machen, geschweige denn irgendetwas vom Standpunkt des Gegenübers anzunehmen. Es herrscht am Ende ein implizites "Let's agree to disagree", das sich nach außen hin nur über mürrische Gesichter kommuniziert.

Wo ist jetzt der Unterschied zu Europa, möchte man fragen. Ich denke, dass die Europäer aufgehört haben, den Graben zwischen dem Einen und dem Anderen so streng zu ziehen. Eine ernsthafte Diskussion setzt a priori voraus, dass der andere Standpunkt einer von vielen möglichen ist, und dass selbiges auch für den eigenen Standpunkt gilt. Dieses implizite Wissen eröffnet jeder Diskussion eine potenziell unendlich weites Feld der Meinungen, Ansichten und Lösungen. Dieses Feld wird dann durch den Vergleich mit der Wirklichkeit (die man sich im günstigsten Fall als eine vorläufige vorstelle) begrenzt, also in bestimmter Weise gezähmt. Nicht, dass es bei uns kein Lagerdenken gäbe. Aber ich glaube doch, dass sich der Europäer der Vorläufigkeit der diskussionswürdigen Themen und Thesen (und vor allem seiner eigenen Rolle in diesem Diskurs, seiner Beziehung zu den 'diskursiven Entitäten') eher bewusst ist als der Amerikaner. Deswegen, so scheint es mir, gibt es bei uns weniger „Experten“, zumindest weniger Auskenner, die sich auch selbst als solche bezeichnen würden. Der bescheidene Experte ist bei uns der glaubwürdigste.

Was die amerikanischen Experten in den Augen der Amerikaner so (scheinbar) glaubwürdig macht, ist nicht ihr Fachwissen oder ihre besonders interessante Sichtweise der Dinge. Es ist - und ich bin mir bewusst, dass das ein alter Hut ist - ihr Präsentationstalent und ihre rhetorischen Fähigkeiten. Man fühlt sich oft dazu hingerissen zu glauben, dass der gerade sprechende Experte eine frische Sicht der Dinge präsentiere. Doch dann sieht man hinter dem überzeugenden und überzeugten Gesichtsausdruck plötzlich die Fratze des exklusiven Oders grinsen und erkennt, dass auch er nicht bereit oder fähig ist, irgendetwas Neues in die Debatte einzubringen. Ein zögernder, nachdenklicher Diskutant (wie etwa unser alter Alexander van der Bellen) würde es in Amerika nicht einmal am Empfangsschalter eines Fernsehstudios vorbei schaffen. Es gilt in jedem Fall, Entschlossenheit zu vermitteln. Das Gedankenkonstrukt, das diese Entschlossenheit motiviert, ist völlig nebensächlich. Welchem Lager der Sprecher angehört, hat man ohnehin nach zwei Sätzen herausgefunden.

Der pragmatische Parmenidismus mag in der politischen Realität funktionieren. Gepaart mit der Freiheitsidee und dem Gedanken des offenen Diskurses muss er aber eine Scheinverbindung mit dem "l'idée vient en parlant" eingehen, der Vorstellung also, dass in der Diskussion über ein Thema neue Ideen entstehen können - ja sogar zwangsweise entstehen müssen. Leider gerät dieser mehr oder weniger unterhaltsame Überbau schnell zur Farce und hält für den Europäer wenig Erkenntnisreiches bereit. Ich sehe eine solche Diskussionsrunde und weiß am Ende nicht mehr über die amerikanische Schuldenkrise, sondern nur mehr über die amerikanische Art der Diskussionsführung und -inszenierung.

So tut man sich auch schwer, den Amerikanern eine europäische Perspektive auf Obama zu bieten. Denn Obama ist entweder schlecht, oder er ist gut, hat aber momentan ein paar Probleme, an denen sowieso die Republikaner Schuld haben - tertium non datur. Und das Dritte, das bin ich - meine Meinung zur amerikanischen Politik, sollte ich überhaupt eine haben, gibt es hier nicht. Würde ich versuchen eine zu formulieren, sie würde wahrscheinlich mit Verweisen auf die harte amerikanische Wirklichkeit ad absurdum geführt werden und ich müsste zugeben, dass ich die Wahrheit nun wirklich nicht gepachtet habe. Und dann erginge es mir wohl wie einem Alex vdB oder einem Heinzi Fischer.

1 Kommentar:

  1. Was passiert, wenn nichts passiert?

    "Ich finde die Zivilisation ist eine gute Idee. Nur sollte endlich mal jemand anfangen, sie auszuprobieren."

    Arthur C. Clarke

    Wer aus einem Irrenhaus, in dem Sparer "großer Investor" spielen, "Spitzenpolitiker" und "Wirtschaftsexperten" unfähig sind, die "banalsten Selbstverständlichkeiten" zu verstehen, und "Geistliche" glauben, der Prophet Jesus von Nazareth sei nichts weiter gewesen als ein moralisierender Wanderprediger, eine Zivilisation machen will, muss nicht nur die Makroökonomie erklären, sondern auch die Religion wegerklären können. Dabei handelt es sich um eine künstliche Programmierung des kollektiv Unbewussten, die – unabhängig vom so genannten Glauben – es der halbwegs zivilisierten Menschheit seit jeher unmöglich macht, zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus zu unterscheiden: die Grundvoraussetzung des Denkens, sofern es das zivilisierte Zusammenleben im weitesten Sinne betrifft!

    Wenn es nicht endlich gelingt, die Marktwirtschaft vom parasitären Gegenprinzip des Privatkapitalismus zu befreien, kommt es zur größten anzunehmenden Katastrophe der Weltkulturgeschichte, die von den "Verantwortlichen" noch gar nicht gesehen wird. Ein unwahrscheinlicher Meteoreinschlag in ferner Zukunft oder ein sehr viel wahrscheinlicherer Atomkrieg in naher Zukunft sind nicht erforderlich, um unsere ganze "moderne Zivilisation" von einem Tag auf den anderen und irreversibel auszulöschen:

    http://opium-des-volkes.blogspot.com/2011/07/was-passiert-wenn-nichts-passiert.html

    AntwortenLöschen