Freitag, 15. Juli 2011

Anreise

Eine weit verbreitete Beobachtung ist, dass in Amerika immer alles so aussieht, wie man es sich vorstellt. Man kennt das Land aus Filmen, egal, ob es sich um biedere Vororte in den Neuenglandstaaten, die Häuserschluchten (damit wäre auch dieses abgegriffene Wort verbraucht) von Manhattan, den unschuldigen Bimmelbahncharme von San Francisco oder die einfältige Ödnis des mittleren Westens handelt. Was man bei dieser Beobachtung gerne außer acht lässt, ist, dass nicht nur die Orte wie aus Filmen sind, sondern sich die Leute ebenso verhalten als wären sie Figuren in einem "schlechten amerikanischen Film". Doch so schlecht ist dieser Film gar nicht.

Ich wache durch das heftige Rütteln des Flugzeugs aus meinem schwachen Dämmerschlaf auf. Die Bewegung war so heftig, dass mein iPod den Shuffle-Modus aktiviert und damit passenderweise "Hold on, I'm coming" von Sam & Dave auflegt. So wäre es zumindest gewesen, passten Wirklichkeit und Vorstellung öfter zusammen. In Wahrheit raunzt mir Marvin Gaye ins Ohr, als sich die Wolkendecke über Atlanta allmählich lüftet und die fade Vorstadtlandschaft der Metropole frei gibt. Lauter Bäume und zwischendrin Straßen. Das könnte überall sein, denke ich mir, doch in diesem Moment erspähe ich ein Footballfeld. Amerika also. Dann ein absonderlicher Wasserturm, dann ein Baseballfeld. Ich irre nicht. Nach 10 Stunden Flug reicht es mir auch. Mein Sitznachbar muss noch noch Michigan, irgendwo an die Grenze zu Kanada. Noch zwei Mal fliegen. Er macht irgendwas Frommes mit Senioren - er weiß es selber nicht genau. Er ist übrigens Deutscher.

In der Gangway macht sich schon die Schwüle bemerkbar. 34 Grad Celsius, über 90 % Luftfeuchtigkeit. Ich ächze das erste Mal, kaum aber betrete ich die Innenräume des größten Passagierflughafens der Welt, wünsche ich mich wieder in die Gangway zurück: das fiese, zupfige, eisige Kalt der Klimaanlagen. Es kriecht einem überall dorthin, wovon es immer geheißen hat, man solle diese Körperteile immer warm halten, also in den Rücken, in den Hals, durch die Schuhe. Vielleicht ist das auch nur meine panische Angst vor Klimaanlagen, denen ich genauso wenig vertraue wie Mikrowellenherden oder Fastfoodrestaurants. Ich bin hier falsch!

Der Zollbeamte, der die Wartenden den entsprechenden Abfertigungskabinen zuweist, spielt seine Rolle perfekt. Grimmig nimmt er den Pass eines jeden Einreisenden, hält ihn neben das Gesicht und prüft dann, abwechselnd auf den dummen Kopf im Pass und den schwitzenden Kopf des Passinhabers schauend, die Identität. Erst dann befiehlt er, wohin man sich stellen darf. Die zwei Herren vor mir schickt er nach "irgendwo da hinten", sie sollen sich die kürzeste Schlange aussuchen. Das mit der kürzesten Schlange wiederholt er noch zwei mal, und zwar so, als sei es seine eigene, ganze spezielle Idee, sich die kürzeste Reihe auszusuchen. Irgendwo macht einer mit einer Handykamera ein Foto. Das ist verboten. Ein Uniformierter stürzt auf den Handyfotografen los und zwingt ihn, das Foto zu löschen. Dann, nachdem er die nationale Sicherheit wieder hergestellt hat, geht er zurück von wo er kam und führt sein heiteres Gespräch mit dem Reinigungspersonal weiter.

Mein Onkel fährt mit mir mitten durch Atlanta. Das sei zwar nicht das Vernünftigste, aber immerhin soll ich einer der stressigsten amerikanischen Städte auf die mühevollste Weise zur ungünstigsten Uhrzeit kennenlernen, so er. Also mitten durch statt rund herum. Verzögerungen gibt es nur zwei, irgendwie scheint mein Onkel ein wenig enttäuscht zu sein. Nachdem wir die Skyline passiert haben sehe ich eigentlich nur noch Bäume links und rechts. Ich solle auf die Schneise achten, die der schwere Tornado vor ein paar Wochen durch die Bäume geschlagen hat. Dann dreht mein Onkel Southern Rock Radio so laut auf, dass mir die Zähne weh tun - wie das geht, ich weiß es nicht.

Irgendwo im scheinbaren Nirgendwo stoppen wir. Große Kreuzung, ein paar Häuser, Parplätze, viele Autos. Anscheinend noch irgendein Vorort von Atlanta, irgendein College ist in der Nähe. Wir steigen aus dem Auto aus, fast hätte ich die lähmende Hitze vergessen. Ich schleppe mich über den Parkplatz, wir gehen zu Tacomac, damit man gleich weiß, wo man daheim ist. Tatsächlich gibt es Leute, die auf der Terrasse sitzen. Drinnen aber ist beinahe alles voll. Es ist etwa sechs, viele Stundenten und Arbeiter, die sich auf dem Nachhauseweg finden. Da hinten, so mein Onkel während er mit der Hand auf die Bäume zeigt, befänden sich große Wohnsiedlungen.

Auch im Restaurant tun wieder alle sehr amerikanisch. Als Europäer stellt sich nach anfänglichem Schmunzeln und freudigem Wiedererkennen bekannter Muster dann doch die Frage, wie man sich dazu verhalten soll. Soll man da mitmachen? Oder geht das nur ironisch? Will heißen, man muss sich entscheiden, ob man hier Zuschauer oder Akteur sein will. Geduldet wird wohl beides - nur entscheiden muss man sich.

Während Hot Wings und Nachos sowie ein viel zu kaltes Bier serviert werden, denkt man noch an den Vorsatz, den man vor dem Abflug gefasst hat, man möge sich möglichst unamerikanisch ernähren und rechtfertigt diese erste deutliche Niederlage mit dem Gerade-angekommen-Sein. Dabei bläst einem die Klimaanlage giftig ins Genick, die Kellnerin lächelt unwirklich, die Studenten sind unglaublich studentisch, überhaupt ist alles so überwirklich wirklich und dadurch noch so unzugänglich, ja absurd.

Am Abend sitze ich im gemütlichen Sessel bei der Familie. Alle freuen sich mich zu sehen. Ich freue mich auch, bin aber müde. Auch muss ich mich erst wieder an den Kauderwelsch gewöhnen, den sie hier Englisch nennen. Nicht nur, dass sie hier anders sprechen als etwa im Norden, nein, es sprechen auch die Älteren anders als die Jüngeren, Frauen sowieso anders als Männer und dann scheint es auch noch eine Rolle zu spielen, von welchem College oder welcher Schule man kommt. Wäre es ein Film, würde ich jetzt der Faulheit wegen gerne die Untertitel anschalten. Aber sie haben Nachsicht, schicken mich ins klimaanlagengekühlte Bett. Morgen solle ich erstmal am Pool ausspannen, geweckt werde ich mit Speck und Eiern. Ob ich mich darauf freuen soll?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen