Freitag, 27. Mai 2011

Von Schauern und Schädeln


Wenn die wichtigste Kulturtechnik, die im 18. Jahrhundert in unseren Kreisen ihre größte Ausbreitung erfahren hat, das Lesen war, so ist es für das 20. Jahrhundert das Autofahren. Das kann heutzutage schon fast jeder; der eine besser, der andere schlechter. So gibt es auch zwischen den verschiedenen Nationen in Hinblick auf das Fahren Unterschiede in Kompetenz und Auffassung. Die Belgier etwa haben wenig Kompetenz – was weniger an ihrem Naturell als an der ungenügenden Fahrausbildung liegt. Den Italienern etwas mangelt es nicht an Kompetenz, jedoch unterscheidet sich ihre Auffassung davon, wie ein geregelter Straßenverkehr aussehen soll, teilweise drastisch von unserer. Unterschiede sind also überall zu finden und dafür braucht man gar nicht erst in den fernen Osten, den wilden Süden oder auf eigenartige Inseln zu fahren, die auf ihren Straßen links und rechts systematisch verwechseln.

Das Autofahren ist auch Mentalitätssache. Und deswegen gibt es im Fahrverhalten überall dort Unterschiede, wo selbige auch in der Mentalität zu finden sind. Mentalitäten aber divergieren vor allem regional, und deshalb lohnt ein Blick auf die Verschiedenheiten zwischen Autofahrern in ländlichen Gefilden und jenen der größeren Städte. Als Beispiele mögen hier Zell am See und Graz dienen.

In Graz, so würde man meinen, geht alles - weil es sich um eine größere Stadt handelt - ein wenig flotter. Die Autofahrer dort sollten stresserprobter sein, kein Problem mit großen Kreuzungen oder mehrspurigen Fahrbahnen haben. Hierin aber steckt schon der erste Irrtum, und für ihre Unzulänglichkeiten können die Grazer gar nichts. In Städten wie Graz ist es nämlich so, dass das Verkehrssystem und seine Teilnehmer etwas Großstädterisches haben, was aber eigentlich unangebracht ist, weil die Stadt dann so groß nun auch wieder nicht ist. Da wird gehupt, wenn man bei Gelb nicht gleich losfährt, da wird nonchalant der Fahrstreifen gewechselt, möglichst knapp vor dem hinteren Fahrzeug und sowieso ohne zu blinken, da wird gedeutet und geschrien. Das alles sind Feinheiten des Autofahrens, wie sie wirklich nur auf viel befahrenen Straßen in großen Städten notwendig sind. In Österreich haben wir in dieser Kategorie nur Wien anzubieten, und selbst dort geht es oft gesitteter zu als auf den Straßen von Graz. Im Fahrverhalten manifestiert sich also der Komplex der größeren Städte, keine wirkliche Großstadt zu sein, aber durchaus zwei- bis dreispurige Straßen zu besitzen und zu befahren. Das situationsinadäquate Fahrverhalten hat aber – zumindest für den unabhängigen Betrachtet - noch etwas durchaus Komisches.

Da hört sich in den ländlicheren Gegenden das Komische auf, denn hier regiert die Gemütlichkeit. Das ist zwar prinzipiell folgerichtig, denn am Land geht es ja gemütlicher zu als in der Stadt, wird aber dann zum Problem, wenn sich aus der Gemütlichkeit die Ineffizienz ergibt. So steht man etwa mitten auf einer Zeller Kreuzung und wartet darauf, links einbiegen zu können. Der Gegenverkehr rollt langsam an einem vorbei und man sehnt sich nach der ersten Lücke. Die Leute aber fahren heute wieder extra langsam und in Abständen, wie man sie sonst nirgends findet: groß genug für zwei Autos dazwischen, aber zu klein, um ein Einbiegen zu ermöglichen. Der Grund für die langsame Geschwindigkeit und die Abstände offenbart sich mit einem Blick hinter das Steuer: Die Leute sind beschäftigt mit Schauen. Sie schauen rings umher und am liebsten schauen sie einem direkt ins Gesicht, denn sie müssen wissen, um wen es sich da handelt, der da mitten auf der Kreuzung steht und einbiegen will. Dazu werden sie oft langsamer, und wie enttäuscht ist ihr Gesicht, wenn sie einen nicht erkennen! Damit sie aber in Ruhe schauen können und nicht etwa Gefahr laufen, auf das vordere Fahrzeug aufzufahren, halten sie den besagten Pinzgauer Sicherheitsabstand von zwei Fahrzeuglängen ein.

Manchmal ergibt es sich, dass man zur Kreuzung kommt, und sich gerade keine Autoschlange im Gegenverkehr gebildet hat, man aber ein einzelnes Fahrzeug abzuwarten hat, ehe man einbiegen kann. Man schätzt und errechnet nach allen Regeln der Erfahrung den Abstand, kommt zu dem Schluss, dass bei gegebener Geschwindigkeit des Entgegenkommenden kein sicheres Einbiegen mehr möglich ist, bleibt also stehen, nur um zu erkennen, dass besagter Entgegenkommender immer langsamer und langsamer wird. Nicht etwa ist es seine Ampel, die gerade auf Gelb gesprungen ist und ihn so zum baldigen Anhalten mahnt. Nein, es ist allein seine Neugier, die ihn langsamer werden lässt. Denn er muss schauen. Schauen, wer da abbiegen will, schauen, ob viele Leute in der Fußgängerzone sind, schauen, ob das Hotel an der Hauptstraße heuer schöne Blumen hat, schauen, ob es im Sportgeschäft etwas Neues in der Auslage zu sehen gibt. So sitzt man selbst immer unruhiger in seinem Auto und verflucht zuerst leise, dann immer lauter werdend, den Schauer, der sein Vehikel mittlerweile auf Schritttempo verlangsamt hat, um sich alles genau anschauen zu können. Dreimal hätte man einbiegen können, hätte der Schauer seine Geschwindigkeit nicht so ungünstig verändert. Dreimal, bevor er überhaupt zur Kreuzung gekommen wäre. Und wäre er nicht langsamer geworden, wäre er schon vorbeigefahren und man hätte schon dreimal nach ihm einbiegen können. Aber so steht man immer noch blinkend auf der Abbiegespur und schaut seinerseits in das blöde schauende Gesicht. Kaum ist der Schauer endlich vorbei gefahren und man auch schon Gas geben will, da sieht man auf der Gegenverkehrsspur schon das nächste Fahrzeug heranrasen, von dem vorher noch weit und breit nichts zu sehen war. Also wieder warten. Und wieder wird der Raser wie von Zauberhand zum Schleicher, denn auch er muss schauen, schauen, schauen.

Auch auf den weniger befahrenen Straßen bewirkt das gemütliche Schauen der anderen eine sich stetig steigernde Nervosität in einem selbst. Etwa dann, wenn einem ein Fahrzeug mitten auf der Fahrbahn entgegenkommt, man selber gar nicht weiter rechts fahren kann, als man eh schon fährt, und darauf hoffen muss, dass der Lenker rechtzeitig wieder auf die Straße schaut und nicht auf die Blumenkastln der an der Straße gelegenen Häuser. Hupen bietet sich nicht an, denn das wäre zunächst noch übertrieben, später dann zwecklos. Lichthupe ist ohnehin dumm, weil er eh nicht schaut. Also hilft nur langsamer werden, während man sich ausmalt, was der heranrasende Landrover mit eigenem Auto und Leib anstellen würde, wenn er so, ungebremst und auch ungeschaut, in einen hineinführe. Dann aber schaut der Schauer wie zufällig doch einmal auf die Fahrbahn, weil er gerade den Blick von den rechten Blumenkastln zu den linken wandern lassen will, erkennt das entgegenkommende Auto und fährt schön gemütlich (bei etwa 70 km/h wohlgemerkt) wieder auf seine Seite der Fahrbahn. Sich selbst die Schweißperlen von der heißen Stirn wischend, gibt man dann wieder Gas und setzt seine Fahrt erleichtert fort, nicht ohne auch selbst die besonders schönen Geranien zu bewundern, welche den Balkon des Gasthofs heuer wieder schmücken...

So gestaltet sich der Straßenverkehr wohl überall auf seine Weise gefährlich und nervenaufreibend. Während sie am Land schauen, schauen sie in der Stadt überhaupt nicht, wollen nur mit ihren Schädeln über die Kreuzung und von einer Spur auf die andere. Deswegen sind die Grazer Autofahrer die „Schädel“, während die Zeller die „Schauer“ sind. Schauer oder Schädel, egal, was einem besser behagt, einfach sind sie alle nicht. Und dass eine der zwei Gruppierungen die Kulturtechnik des Autofahrens besser beherrsche als die andere, darf ebenso bezweifelt werden. Letztlich gelten auch für das Autofahren die Gesetze der Evolution und da überlebt eben immer der am besten Angepasste. Schlimm für einen, der in Graz wie ein Schädel und in Zell wie ein Schauer sich zu verhalten hat.

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