Samstag, 21. Mai 2011

Heimweg


Ich bin am Heimweg, es ist schon fast ganz hell. In meiner Hand habe ich ein Buch über Georg Büchner, die Seitentasche meiner Jacke ist ganz unförmig und aufgebläht, weil sich darin ein zusammengewickeltes Regen-Cape von den Universal Studios befindet. Das habe ich bei einer Versteigerung erstanden. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, aber ich wollte irgend etwas haben und da ich gefehlt habe, als die schwarze Beethoven-Büste mit dem Mascherl um den Hals dran war, musste ich also mit dem Regen-Cape vorlieb nehmen. Das bleibt mir jetzt. Das und die schmerzliche Erinnerung an die nicht erstandene Beethoven-Büste.

Ausgestattet also mit einem Buch über Büchner und einem Regen-Cape, auf dem einen Woody Woodpecker frech angrinst, biege ich von der Sackstraße am Schloßbergplatz in Richtung Mur ab. Ich denke, viel absurder als mit meinen Accessoires kann man gar nicht daherkommen. Da sehe ich auch schon zwei Dummköpfe auf dem Mursteg herumtorkeln. Über den Mursteg gehe ich ohnehin nicht gern, weil er aussieht, als müsste er jeden Moment zusammenbrechen, ja, er sieht irgendwie behelfsmäßig aus. Auch die zwei Betrunkenen sehen behelfsmäßig aus, deswegen wähle ich den Weg über den Kaiser-Franz-Josefs-Kai zur Keplerbrücke. Die ersten Straßenbahnen fahren schon, und eigentlich ist es eine Unzeit, denke ich mir, eine Zeit des Übergangs von der tiefen Nacht in den geschäftigen Samstag Morgen. Es ist die Zeit, in der sich Betrunkene und Arbeitstätige dauernd über den Weg laufen. In den Straßenbahnen sitzen sie einander gegenüber und manchmal ist dem, der auf dem Weg zur Arbeit ist, der Betrunkene unangenehm, oft ist es aber auch umgekehrt und der Betrunkene fühlt sich irgendwie fehl am Platz, oder auf eine bestimmte Art und Weise schäbig.

Auch auf den Straßen sind sicher ein paar alkoholisierte Heimfahrer unterwegs, während den anderen noch schlaftrunken an jeder roten Ampel der Kopf auf das Lenkrad sackt. Eigentlich eine gefährliche Zeit, aber passieren tut selten was, weil die einen noch zu müde, und die anderen schon zu müde sind um irgendwelche Handlungen zu setzen, die darüber hinausgehen, sich selbst von Punkt A nach Punkt B zu bringen. Und was den Straßenverkehr angeht, so sind sowieso die Übermotivierten und Aggressiven die eigentlich Gefährlichen. Um diese Uhrzeit ist niemand übermotiviert oder aggressiv.

Zwischen halb fünf und halb sechs liegt eine schlappe Stunde, wahrscheinlich die schlappste des Tages. Und auch ich tappe schlapp die Mur entlang, ich gehöre wohl ebenso zu den Betrunkenen. Am Himmel lichten sich noch die letzten Nachtwolken, der Mond steht auch noch immer da, als würde er auf den Bus warten, der am Samstag Morgen nie fährt, und von dem er sich erwartet hätte, dass er ihn ins Bett bringen würde. Ich überquere den Fluss an der Keplerbrücke, schau dem Mond jetzt direkt in sein Gesicht, und denke mir meinen Teil. Auch der Mond denkt sich vermutlich seinen Teil, während er von dem seltsam cremigen Morgenlicht angestrahlt wird und mit letzter Kraft versucht, zurückzustrahlen. Er gibt eine lächerliche Figur dabei ab und ich muss wieder an die zwei torkelnden Idioten vom Mursteg denken. Vielleicht sind sie schon nach Hause, oder aber in die Mur getorkelt.

Ich tappe weiter, nun den Lendkai entlang. Es gibt nichts Einsameres als den Lendkai am frühen Morgen, denke ich mir. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann Georg Büchner starb, und weiß nicht mehr genau, ob es 1836 oder 1837 war. So seltsam der Gedanke in dieser Situation und um diese Uhrzeit auch ist, das muss ich jetzt wissen. Also versuche ich mir im Gehen die Information aus dem Büchner-Buch herauszulesen. Da wackeln die Buchstaben vor meinem Gesicht herum, als wollten sie mich ärgern. Ich suche ein „gest“ oder ein „orben“, für ein ganzes „gestorben“ ist mein Blickfeld zu klein. Noch dazu fallen mir fett gedruckte Wörter in den Weg, einiges ist mit rosaroten Textmarker hervorgehoben. Ich lese „wegweisende Wirkung“ und stutze, weil ich mir denke, was das heißen soll, wenn jemand eine Wirkung hat, die wegweist. Dann verstehe ich, dass der Weg gemeint ist, und wundere mich nur noch darüber, dass eine solche Information fett gedruckt ist. Ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin, es handelt sich zumindest um das Überblickskapitel zu Büchners Leben – die wegweisende Wirkung hat sich bestätigt. Ich suche den Tod, also blättere ich auf die letzte Seite des Kapitels und da lacht mir eine schiefe Fratze entgegen. Es handelt sich um eine „Erinnerungsskizze“ von Büchners Antlitz nach Alexis Muston, wie ich der Bildunterschrift entnehme. „So möchte ich nicht erinnert werden“, sage ich mir und grusle mich noch ein bisschen, bevor ich mich entschließe, gezielt nach Jahreszahlen zu suchen. 1875 steht da, das muss aber irgendetwas anderes sein. Ich lese „Krautgarten-Friedhof“, lese es nochmal und es heißt immer noch „Krautgarten-Friedhof“. Trotzdem meine ich, mich zu irren, lasse aber vom Krautgarten-Friedhof ab und suche weiter nach Jahreszahlen, blättere eine Seite zurück, lese ganz unten auf der Seite „19. Februar 1837“ und weiß, dass ich jetzt richtig bin, denn es ist fett gedruckt und rosarot hinterlegt. Der Tod also auf der vorletzten Seite, nicht auf der letzten, das ist bemerkenswert, denke ich mir, und nach dem Tod kommt nur noch Krautgarten-Friedhof und Erinnerungsskizze.

Während meiner Suchaktion haben sich meine Schritte unmerklich verlangsamt. Der Mond lacht mich aus, weil jetzt kann auch er sehen, dass ich betrunken bin. Ich aber fühle mich recht klar im Kopf und jetzt weiß ich ja auch wieder, wann Büchner starb. Außerdem fühlt sich das Regen-Cape von den Universal Studios in meiner Jackentasche gut an. Ich sehe es noch einmal an. Es ist azurblau, ähnlich wie die Farbe des Covers von „Thomas Crown ist nicht zu fassen“, der Nr. 45 in der Filmedition der Süddeutschen Zeitung. Heller aber als der Einband des Büchner-Buches, das selbst wiederum ein wenig heller als das Verkehrsschild ist, das den Rad- und Gehweg anzeigt, der die Mur entlang führt, den ich aber jetzt nicht betreten werde. Ein schönes Arrangement in Blau wäre das – das Regen-Cape, das Büchner-Buch und die Gehweg-Tafel, denke ich mir, biege aber schon in die Neubaugasse ein, muss aber noch daran denken, wie der Erwin einmal gesagt hat, dass die Gehweg-Tafel aussieht, als würde da ein Mann ein kleines Mädchen entführen wollen. Die „Kinderfazara-Tafel“, hat er gesagt, sei das. So eine entautomatisierte Wahnehmung haben nur die Künstler, denke ich mir und muss schmunzeln. Ich bin froh, dass ich daheim bin.

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