Freitag, 13. Mai 2011

Anekdotenhaftes über das Neue


Das Neue definiert sich vor allem über das, was es vorher war. Selbst dann, wenn vorher nichts war. Ich glaube, ich habe das Wort „neu“ in der Schule gelernt. Eigentlich seltsam, dass man sich an das Erlernen von Wörtern erinnern kann. Im Falle von „neu“ bin ich mir aber ziemlich sicher, dass ich es vorher nicht gekannt habe. Wahrscheinlich, weil man es vorher auch nicht braucht. Als keines Kind ist ja dauernd alles neu, da braucht man kein eigenes Wort dafür. Wir haben ja auch kein Wort für den Umstand, dass … sagen wir … es jeden Tag hell und wieder finster wird.

In der Schule also habe ich das Wort „neu“ gelernt und ich denke, es muss in der ersten Klasse gewesen sein. Wie man in der Schule Wörter lernt, dürfte ja jedem bekannt sein. Bei Adjektiven lernt man meist auch die Antonyme dazu, im Fall von „neu“ also „alt“. Und da ist sie auch schon passiert, die Scheidung zwischen alt und neu. So etwas bekommt man, hat man das Konzept einmal verstanden, nie mehr aus dem Kopf heraus. Und plötzlich sieht man schon als kleiner Wicht in allem das Alte und Neue. Man kommt nach Hause und die Spielsachen, die einfach immer nur da waren, sind plötzlich alt, weil eben nicht mehr neu. Plötzlich fängt alles Neue an, eine Faszination auf einen auszuüben.

Dann sieht man es im Fernseher flimmern: Alles neu. Was es alles vorher nicht gegeben hat, und es jetzt auf einmal gibt! Natürlich, wenn die Sprache auf die Werbung kommt, wird die Krux des Neuen gleich offenbar. Denn nicht alles, was „neu“ genannt wird, ist auch tatsächlich neu. Manchmal ist es einfach nur ein bisschen anders. Aber weil es eben anders ist als das, was vorher war, darf man es – unserer Eingangsdefinition gemäß – neu nennen. Es seien nur zwei Beispiele genannt, die mir den Schwindel des Neuen schon in frühester Kindheit offenbarten. In beiden Fällen war ich nämlich vom Neuen ganz schön enttäuscht. Vor allem aber von der Erfahrung, dass das Neue nicht umkehrbar ist.

„Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix!“, versprachen sie in der Werbung. Tatsächlich hat sich nichts geändert, der Doppelriegel schmeckte auch nach seiner Neutaufe gleich. (Dass die über die Jahre hinweg natürlich die Rezeptur geändert haben und das heutige Twix mit jenem der frühen 90er nichts mehr zu tun hat, versteht sich von selbst.) Aber seitdem Raider in Twix umbenannt wurde, habe ich mich vom Neuen betrogen gefühlt. Mir gefiel nämlich der Name nicht. „Raider“, das klang irgendwie gefährlich und irrsinnig cool. „Twix“ hingegen kam mir vor wie der Name einer lächerlichen Figur in einer Kinderzeichentrickserie. In „Raider“ klang der Nimbus des Erwachsenen mit, da stellte ich mir lässige Halbstarke vor, die mit Mopeds oder Autos herumfuhren und sich hauptsächlich von Schokoriegeln ernährten, weil sie nicht mehr zu Hause essen mussten. „Twix“ verband ich mit den luschigen Typen aus der Werbung, die mir den neuen Namen einzuhämmern versuchte. Ich war unzufrieden und glaube sogar, mich erinnern zu können, dass ich vor dem Fernseher protestierte, als sie mir immer wieder sagten, dass Raider jetzt Twix heiße und sich sonst nichts ändern würde. (Ich war ein großer Protestierer vor dem Kastl! Zum Beispiel protestierte ich auch immer gegen die GlissKur-Werbung, die postulierte, dass es nur zwei Möglichkeiten gebe, dem Spliss entgegenzuwirken: Abschneiden oder GlissKur Hair Repair. Zum Ende der Werbung sagte dann eine spöttische Stimme „Also entweder...“ - hier brach die lockige Frau dann selbstzufrieden eine Schere auseinander - „... oder GlissKur.“ Das Auseinanderbrechen der Schere empfand ich als unglaublich ungerecht, denn damit wurde die anfänglich großartig angekündigte Alternative zur Farce. Also protestierte ich, dass der Schere Unrecht getan werde und die Leute von GlissKur es mit ihrem Postulat nicht ernst meinten. Soviel dazu.)

Die zweite, stillschweigend vorgenommene Veränderung betraf meine heiß geliebte Lieblingsserie Knight Rider (nur zufällig hört man auch hier ein „Raider“ mit. Gottlob, sie haben den Knight Rider so gelassen und nicht in „Knight Twix“ umbenannt!). Dort hat das Auto KITT irgendwann einfach neue Armaturen verpasst bekommen. Am drastischsten zeigte sich dies an dem roten Viereck, das synchron zu KITTs Stimme blinkte, wann immer er redete. Anstelle des roten Vierecks hatte es zuvor drei längliche, vertikal ausgerichtete Lichtbalken gegeben, von denen die beiden äußeren kürzer waren als der mittlere, und die, je nach Lautstärke (?), weiter oder weniger weit ausschlugen. Diese roten Lichter waren deshalb so wichtig, weil sie oft in Großaufnahme zu sehen waren, wenn KITT gesprochen hat. Die roten Balken waren quasi als Substitut für das Gesicht von KITT gedacht. Und die hat man irgendwann durch ein rotes, völlig einfallsloses Kastl ersetzt. Das war also neu. Auch sonst hatten die Armaturen nicht mehr den Charme der frühen Folgen, obwohl die Designer sichtlich bemüht waren, die Neuerung als Fortschritt darzustellen. Ich war beleidigt, denn mein geliebter KITT sah jetzt anders aus – zumindest von innen. Und ich wusste, dass es so bleiben würde, dass es kein zurück mehr gab und ich fortan KITT in sein plapperndes Viereck schauen müsste.



Zwei Erlebnisse also, die mir zeigten, dass es mit dem Neuen so eine Sache ist. Erstens, weil man ihm hilflos ausgeliefert ist, auch wenn einem die Neuerung nicht schmeckt. Und zweitens, dass nicht alles wirklich neu ist, was neu heißt. Das sind zweifelsohne Grundtraumata des jungen Kindes, die sich möglicherweise irgendwann einmal in einem Konservativismus äußern, der das Neue von vornherein scheut und also ablehnen muss. Dies ist freilich ein worst-case-Szenario, aber ich bemerke schon, dass ich dem Neuen weniger aufgeschlossen gegenüber stehe, weil ich erstens dahinter den (womöglich schmerzlichen) Verlust des Alten wittere und zweitens, weil das Neue potenziell suspekt ist, was die tatsächliche Andersartigkeit seines Wesens anbelangt.

Das Neue ist die Nichtung des Alten durch die Erneuerung, würde irgendein Existenzialist sagen, und das klingt tatsächlich ziemlich blöd. Ganz unproblematisch ist aber das Neue nicht und zwar besonders in Bezug auf das ersetzte Alte. Man merkt das als moderner Mensch beim Handykauf: die Konservativen oder die Technikängstlichen möchten immer ein „ganz einfaches Handy, mit dem man SMS schreiben und telefonieren kann“ (am besten auch noch ohne Kamera). Sie müssen dann enttäuscht oder verängstigt feststellen, dass es so etwas praktisch nicht mehr gibt. Oder man denke an Software, die ständig upgedatet sein will, so lange, bis das Update derart in Optik oder Funktionsweise des Programms eingreift, dass man gerne wieder downdaten würde. Dann ist der Zug aber meistens schon abgefahren. Und ich brauche gar nicht auf die vielen Klagepostings hinweisen, wenn sich bei facebook wieder mal irgendetwas mehr oder weniger Grundlegendes ändert. Plötzlich kommen da demokratische Prozesse in Gang und tausende von Menschen fordern per Mausklick die Wiederherstellung des Alten. So etwas gibt auf absurde Weise zu denken.

Davon, wie das Neue durch Versprechungen und Verheißungen die Menschen im Umgang mit dem, was sie haben, und was nun „alt“ genannt werden muss, verunsichert, will ich gar nicht reden. Ein Beispiel aus meiner gar nicht so fernen Jugend aber möchte ich schon noch bringen. Es geht darin nämlich darum, wie das Alte plötzlich als Neues erscheint und man ihm auf einmal wieder Wert zumisst.

Ich hatte einmal eine Digitaluhr von Casio. Damals besaß man so etwas nicht nur deswegen, weil es einfach Mode war und Zeigeruhren irrsinnig rückständig aussahen, sondern auch, weil man damit dauernd sich selbst oder andere beim Laufen oder Klettern oder sonstwas stoppen konnte (sowas haben die Kinder damals noch gemacht?). Ich trug die Uhr gern und andauernd, bis ich es einmal zu einer Anhäufung mehrerer Uhren brachte, deren Entstehung mir heute nicht mehr ganz klar ist. Nicht, dass ich sie gestohlen hätte! Ich glaube, es handelte sich um Werbegeschenke, die mir, teils über meinen Vater, teils über irgendwelche Bekannten, zugekommen waren. Sie waren im Wert natürlich nicht mit meiner Casio zu vergleichen, aber als Kind ist einem so etwas ohnehin egal. Wichtig war nur, dass die Casio jetzt alt war und also vorerst in einer Schublade verschwand. Die Sammlung meiner neuen Uhren (ich glaube, es waren drei) trug ich öfters übermütig als ganzes auf einem Arm, oder auf zwei Arme verteilt durch die Gegend. Mein Vater erklärte mir, dass das russisch sei, weil die Russen früher im Krieg gerne Uhren gestohlen hätten und sie auch alle gleichzeitig auf einem Arm getragen haben. So kam ich mir also vor wie ein Russe.

Wie es so ist mit Werbegeschenken, verloren die Uhren bald teilweise ihre Funktion, wurden also kaputt und für den genauen Beobachter der Zeit unbrauchbar und überdies unansehnlich, denn auf manchem Display zuckten nur noch ein oder zwei graue Balken und durch kein noch so festes Drücken an irgendwelchen Knöpfen konnte die Funktionstüchtigkeit wieder hergestellt werden. Da beschloss ich, meinem Dasein als Russe ein vorläufiges Ende zu setzen, und holte meine Casio wieder aus der Schublade heraus. Sie war dort sicher ein paar Monate gelegen, und als ich sie wieder in die Hand nahm und ihr vor Kraft strotzendes Display betrachtete, das immer noch die richtige Uhrzeit anzeigte, da bekam sie in meinen Augen einen seltsamen Glanz des Unbekannten. Ich bestaunte sie mit einer Mischung aus dem Gefühl, das eine längst verstaubt geglaubte Erinnerung auslöst, und der Aufregung beim ersten Betrachten überhaupt: Sie war wie neu.

Zwar hatte sich in den Ritzen und Rillen des Plastikarmbandes Staub angesammelt, aber ihr Gesicht strahlte in alter Frische, die Anordnung der Knöpfe und die kleinen Beschriftungen, die über die Funktionen der einzelnen Tasten Auskunft gaben, wurden von mir aufmerksamst betrachtet, als sähe ich sie zum ersten Mal. Prüfend schaltete ich alle Funktionen durch, es waren natürlich viel mehr als alle meine drei Russenuhren zusammen gehabt hatten, und ich war zufrieden. Die Umkehrung vom Alten zum Neuen war vollzogen.

Wie man sich zu seinem Zeug verhält, sei es alt oder neu, ist eine Frage der Wertschätzung. Was hier so arg bedeutend und altklug klingt, hat weitreichende Konsequenzen, wenn man anfängt, sich mit dem, was man hat, tatsächlich auseinanderzusetzen. Begierden und Wünsche, die sich auf das Neue richten, können ganz schön lästig sein. Sich mit dem, was man hat, wertschätzend zu befassen, hilft einem dabei, das Drängen dieser Wünsche empfindlich zu dämpfen. Die strenge Scheidung zwischen den Konzepten des Alten und des Neuen gedanklich aufheben zu versuchen, wäre eine Übung, die zu praktizieren sich wohl täglich lohnen würde. Gleichzeitig aber würde das der Wirtschaft vermutlich empfindlichen Schaden zufügen. Und wie wir wissen, geht es uns allen nur dann gut, wenn es auch der Wirtschaft gut geht.

Um diesen Ausführungen kein pseudo-konsumkritisches Ende zu geben, muss ich noch einmal auf den Beginn zurückkommen. Das Neue ist neu im Lichte des Alten und wird zwangsläufig selbst irgendwann zum Alten, was im Grunde beschämend für das Neue ist. Aber in dieser paradoxen Entwicklung offenbart sich das eigentlich Unbedeutende des Neuen. Das Neue ist nicht „neu“ im eigentlichen Sinn. Es ist schlichtweg etwas Anderes als das, was schon ist bzw. da war. Darin verbirgt sich die ohnehin auf der Hand liegende Erkenntnis, dass das Neue deshalb auch nie das Bessere sein muss bzw. sein kann. Das Adjektiv „neu“ sagt im besten Falle etwas über den Seinsstatus eines Dings aus, nämlich, dass es noch nicht allzu lange (eine vage Angabe!) in der Welt ist. Man bedenke, welche absurden lebenspraktischen Konsequenzen wir aus dieser bedeutungslosen Aussage ziehen!

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