Mittwoch, 4. Mai 2011

Flucht vor einem geistigen Gespräch


„Ah, das ist aber interessant, was Sie da haben!“ Ich weiß zunächst gar nicht, ob ich gemeint bin, weil in einer Buchhandlung angesprochen zu werden, das ist mir höchst suspekt, darauf bin ich nicht vorbereitet, weil es etwas ist, worauf man eigentlich nicht vorbereitet sein soll, will man nicht als eitel oder armselig gelten. Wer spricht schon jemanden in Buchhandlungen an? Ich meine jetzt nicht Gespräche zwischen Kunden und Angestellten, sondern Gespräche, die zwischen zwei Kunden, die sich nicht kennen, stattfinden. Das sind doch in 99,9% der Fälle irgendwelche Männer, die irgendwelche Frauen ansprechen und glauben, das wäre jetzt die beste Möglichkeit, eine intelligente Frau kennenzulernen, wenn man sie fragt, was sie da lese oder wie es ihr gefalle usw. Weil sich dann die Frau denken soll: „Sieh einer an, das ist ja ein Mann, der liest! Der muss aber gescheit sein, mit dem will ich ins Bett gehen!“

Und deswegen reagiere ich erst einmal gar nicht auf den Satz, der da an meine Ohren dringt. Ich gebe zu, dass ich auch deswegen nicht darauf reagiere, weil die Stimme nicht weiblich klingt. Aber selbst, wenn ich eine weibliche Stimme gehört hätte, nur zögerlich hätte ich mich darum gekümmert, denn: Frauen, die Männer in Buchhandlungen ansprechen, sind vielleicht sogar noch suspekter als Männer, die Frauen in Buchhandlungen ansprechen. Diese Art Frauen hat entweder zu viele solcher Filme gesehen, in denen so etwas immer toll funktioniert (bei Hugh Grant mit Brille), oder es handelt sich um Klugscheißer-Frauen, die ja nicht nur suspekt, sondern überhaupt lästig sind. Im Zweifelsfall gilt also, nicht darauf zu reagieren, wenn man in Buchhandlungen angesprochen wird.

„Simmel liest ja heute kaum noch jemand!“, höre ich die Stimme sagen. Kein Zweifel, damit bin ich gemeint. „Eigentlich paradox“, muss ich da denken, „dass ich weiß, dass ich gemeint bin, obwohl da jemand in einem Satz so undeutlich auf mich referiert, ich mich also absurderweise in der Formulierung kaum noch jemand wiederkenne.“ Dann aber erkläre ich mir die Referenz so, dass die Stimme „Simmel“ gesagt hat, damit quasi metonymisch das Buch meinte, das ich in der Hand halte und damit also mich, weil meine Hand nicht schnell genug das Buch fallen lassen kann, bis die Stimme ihren Satz beendet hat. Das hätte ich nämlich gern getan. Ich hätte augenblicklich das Buch fallen lassen müssen, mich also von der Referenz befreien, die über das Buch in meiner Hand zwischen der Stimme, dem Simmel und mir hergestellt wurde und einfach aufstehen sollen und gehen. Unhöflichkeit hin oder her.

Zu spät, das Buch ist noch in meiner Hand und die Stimme meint also ganz bestimmt mich, deshalb schaue ich auf und stelle enttäuscht fest, dass ein Philosoph vor mir steht. Der Mann hat das, was man gemeinhin eine Wurstblatt-Glatze nennt; die wenigen Haare, die sein Haupt noch zieren, sind fettig und kleben auf Glatze und Stirn. Er hat eine Brille, das einzig Sympathische an ihm, denn sie ist groß und alt und so das einzige, das seinem Kopf irgendeine Würde verleiht. Die Augen sind zwar klein, erscheinen aber durch die dicke Brille normal groß, die Nase des Mannes ist über Gebühr gebogen und lang, der schmale Mund verschwindet fast darunter. Trotzdem, sein Gesicht ist freundlich. Dass er Philosoph sein muss, erschließt sich mir über seine Kleidung und weil er in der Philosophieabteilung der Buchhandlung steht. „Leute, die so angezogen sind und sich für philosophische Bücher interessieren, sind Philosophen“, denke ich mir.

Natürlich bin ich selber schuld, dass ich in der philosophischen Abteilung einer Buchhandlung mich entblöde, Platz zu nehmen und mir erlaube, in ein Buch hineinzuschmökern. Das Hineinschmökern in Bücher ist generell eine Blödsinnigkeit, das Schmökern in philosophischen Werken allerdings ist ein Unsinn der banalsten Art, für den ich jetzt büßen muss, denn der Philosoph vor mir will offensichtlich ein
geistiges Gespräch anfangen.
Ja, leider, den Simmel lesen nicht mehr viele“, wiederhole ich sinngemäß die Worte des Fremden und muss ein ziemlich dümmliches Lächeln aufgesetzt haben, denn der Philosoph schaut verdutzt. Er erholt sich aber schnell, wovon auch immer er sich verdutzen ließ, und wagt einen Witz: „Höchstens den Johannes Mario Simmel!“, und er kichert das Kichern eines Philosophen, welches ihn jetzt endgültig als einen solchen zu erkennen gibt. Ich muss ihn jetzt enttäuschen, muss ihm den Wind aus den Segeln nehmen, den er tatsächlich glaubt zu haben, und sage ganz ernst, mit einem künstlichen Bedauern: „Ja nicht mal mehr den!“, was ja auch stimmt. Da erholt sich der Philosoph von seinem Witz ganz schnell und wird wieder ernst. „Ein wichtiger Denker, Georg Simmel! Vor allem für die Philosophie der Kultur!“ Dieser Satz, so wahr er vielleicht sein möge, hat etwa den Erkenntniswert eines Stoßstangenaufklebers, aber er funktioniert, denn ich weiß nun, dass der Philosoph tatsächlich ein geistiges Gespräch beabsichtigt.

Weiß ich nicht“, sage ich und freue mich diebisch über diese dumpfe Antwort. Neben „Interessiert mich nicht“ ist „Weiß ich nicht“ mit Sicherheit die ärgerlichste Antwort, die sich ein Philosoph erwarten kann. „Jaja, ganz bedeutend! Georg Simmel war der Wegbereiter für einige der größten Köpfe des 20. Jahrhunderts. Adorno, Foucault, Sartre, alle hat er sie beeinflusst.“ Der Umstand, dass der Philosoph Wörter wie bedeutend und große Köpfe verwendet, macht ihn mir gleich noch suspekter. Dass aber seine Einschätzung wie der Klappentext des Buches klingt, das ich immer noch in der Hand halte, ärgert mich doch sehr. „Mhm“, mach ich, klappe das Buch zu und ergänze: „Aber auch Bloch, Luhmann und Heidegger hat er beeinflusst!“ Dass ich dabei schamlos von der Rückseite des Buches ablese, möchte ich dem Philosophen gar nicht verbergen. Da lächelt der Philosoph ein wenig unsicher, offenbar fühlt er sich ertappt und ich habe ein bisschen Mitleid mit ihm.
Ich wollte mir nur Simmels Essay über die Alpen durchlesen“, sage ich ihm wahrheitsgemäß, um ihm mein ehrliches Interesse quasi zum Fraß vorzuwerfen. „Oh“, macht der Philosoph und scheint sich zu freuen. „Simmel wählte ja die ungewöhnlichsten Themen für seine Aufsätze. Zum Beispiel schrieb er auch über die Mode, über den Rahmen oder den Henkel!“ Zwar klingt auch dieser Satz wieder wie ein Klappentext, ich verzeihe aber diesmal und lächle ihn nur an, so nichtssagend wie ich es fertig bringe. „Ähm, darf ich fragen, wieso Sie sich gerade für diesen Text interessieren?“, fragt mich der Philosoph sehr höflich. „Eigentlich geht dich das ja überhaupt nichts an“, denke ich mir, aber weil er mich so lieb anblickt und ich irgendwie schon wieder Mitleid mit ihm habe (ist er doch Philosoph und hat er doch in mir einen hoffnungsvollen jugendlichen Simmel-Leser gefunden) antworte ich ihm: „Ich wollte wissen, was ein Deutscher über die Alpen zu sagen hat.“
Der Philosoph schaut ein wenig überrascht und fragt mich, ob ich mich denn sehr für die Alpen interessiere. „Nicht sonderlich. Aber wissen Sie, ich bin dort aufgewachsen und meiner Erfahrung nach haben die Deutschen über die Berge sehr wenig zu sagen, und schon gar nichts Philosophisches“, sage ich und es hätte freundlich klingen sollen, kam aber ein bisschen arrogant, was mir dann doch wieder ganz recht ist.

„Achso! Und haben Sie den Text schon gelesen?“ Jetzt will er mit mir tatsächlich über den Text auch noch reden! „Philosophen sind überaus lästige Naturen“, sage ich mir, während ich das Buch wieder aufschlage und den Aufsatz über die Alpen suche. „Nein“, sage ich, während ich im Buch blättere, „ich war gerade an der Stelle, wo Simmel sagt...“ und während ich den Satz suche, den ich ihm vorlesen will, wird der Philosoph ganz aufgeregt, geradezu nervös, er scheint mir sogar zu schmatzen und versucht sich ein wenig über das Buch zu beugen, als wolle er den Satz finden, bevor ich ihn gefunden habe. „Hier … Die Alpen wirken einerseits als das Chaos, als die ungefüge Masse des Gestaltlosen, das nur zufällig und ohne eigenen Formsinn einen Umriß bekommen hat, das Geheimnis der Materie schweigt heraus, von der man an den Konfigurationen der Berge mehr mit einem Blick erfaßt, als in irgendeiner anderen Landschaft.“ Jetzt schaut der Philosoph verzwickt. Er denkt also nach. Gefährlich!
Schweigt heraus finde ich gut“, sage ich und hoffe, ihm damit irgendwie auf die Sprünge zu helfen. „Hm hm“, macht der Philosoph, schaut mich an und zupft an der Knopfleiste seines schäbigen Jacketts herum. „Aber soweit ich weiß, geht es Simmel vorrangig ja um das Hochgebirge, als die schnee- und eisbewüsteten Gipfel der Alpen, wo das absolute Oben ohne Bezug auf ein Unten existiert.“
Schnee- und eisbewüstet finde auch ich gut!“, sage ich, „aber so weit bin ich wohl noch nicht gekommen.“ Doch darauf reagiert der Philosoph gar nicht. „Und er setzt das Meer, welches er als das Symbol des Lebens sieht, dem Hochgebirge entgegen, welches mit seiner Stille und Starre jedes Lebens transzendiert.“, sinniert er weiter.
Mir kommt vor, dass der Philosoph durch mich hindurchschaut. Ich versuche, die Position meines Kopfes möglichst unbemerkt zu verändern, um zu kontrollieren, ob er mich überhaupt noch wahrnimmt. Deswegen nicke ich heftig, als ob ich verstanden hätte, mache ebenfalls „hmm hmm“ und trete von einem Fuß auf den anderen, lege kurz meinen linken Ellbogen in meine rechte Hand, kratze mich mit der linken Hand dabei nachdenklich unter der Nase und wackle hin und her, bis ich mit meinem Gesicht endlich dem starren Blick des Philosophen entkommen bin. Tatsächlich, er blickt ins Leere. Ich denke mir, dass sein Verhalten selbst für einen Philosophen sehr philosophisch ist.
„Natürlich, man stelle sich vor, man befände sich jenseits aller Zivilisation in der Stille und inmitten der reinen Macht des Gebirges... das ist transzendental, keine Frage. Es steht für die absolute Gleichmut gegenüber aller Entwicklung, die ästhetische, komplexe Form des Gebirges verabsolutiert sich zu einem einzigen Einen. Wie sagte schon Goethe? Über allen Gipfeln ist Ruh'. Doch es ist nicht nur die Stille, die Goethe meint, es ist die absolute Ruhe, als Gegensatz zur Bewegtheit...“
„Hm ja, da bin ich aber noch nicht“, versuche ich ihn zu unterbrechen und blättere eifrig in Simmels Buch herum, als ob das Auffinden der richtigen Stelle den Wortschwall des Philosophen stoppen, als ob ich ihn mit dem richtigen Zitat aus seiner philosophischen Starre erlösen könnte.
„Bedenken Sie doch das Konzept der Bewegtheit überhaupt. Das fängt schon bei den Vorsokratikern an. Anaximander etwa...“, brabbelt der Philosoph weiter.
„Äh, Verzeihung, aber ich muss weg.“, sage ich. Eine Ausrede ist mir der in seinem eigenen Geist gefangene Philosoph gar nicht wert bzw. glaube ich gar nicht, dass er merkt, wie ich mich an ihm vorbeischiebe und mit lächerlich kleinen, aber umso schnelleren Schritten Richtung Stiege haste. Auf den ersten Stufen drehe ich mich noch einmal zu dieser eigenartigen Figur um, und tatsächlich steht er immer noch da und redet scheinbar gegen das Bücherregal, er hat auch schon einen Finger erhoben. „Großartige philosophische Geste!“, sage ich mir, aber diese geballte philosophische Energie in diesem eigenartigen Mann macht mir zu viel Angst und ich stürze die Treppe hinunter.

Im unteren Stockwerk finde ich mich in der Abteilung der regionalen Bildbände wieder, da bemerke ich, dass ich den Simmel-Band immer noch in der Hand halte. Das Buch kommt mir vor wie ein unheilvolles Relikt, das jemand aus lauter Gier aus irgendeiner Höhle ausgegraben hat und das ihm jetzt naturgemäß nur Unheil einbringt. Also suche ich das Buch möglichst schnell wieder loszuwerden. Ich stelle den Simmel unauffällig zwischen zwei Bildbände über die Glocknergruppe und den Nationalpark Hohe Tauern. „Da passt du hin!“, denke ich mir und stelle mir vor, wie sich Georg Simmel jetzt freuen würde, mitten im Hochgebirge, wo über allen Gipfeln Ruh' herrscht. Dann aber verschwinde ich schnell aus der Buchhandlung, aus Angst, der Philosoph könnte mich – oder den Simmel – wieder finden. Als ich auf die Straße trete, weht mir ein dreckig-warmer Frühlingswind um die Nase und ich bin froh, diesem geistigen Gespräch mehr oder weniger gerade noch entkommen zu sein.

1 Kommentar:

  1. „Sieh einer an, das ist ja ein Mann, der liest! Der muss aber gescheit sein, mit dem will ich ins Bett gehen!“

    wundervollstens. und viel zu, viel zu wahr.

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