Samstag, 7. Juli 2012

Hinter einer alten Dame

Ich schleiche hinter einer alten Dame her.
Nicht, dass Sie jetzt glauben, alten Damen nachzuschleichen wäre eine geheime Passion von mir – vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Neuer Versuch: Ich trotte einer alten Dame nach. Schon besser.

Aber trotten? Trotten tun nur die, die den Kopf dazu hängen lassen, die sich selbst und die gesunde, gerade Körperhaltung bereits aufgegeben haben. Auf Trottenden lastet der Weltschmerz und es hängt ihnen nicht nur deshalb immer auch ein wenig Rotz aus der Nase. Nein, ich trotte ihr nicht hinterher, dazu bin ich zu gut aufgelegt und auch zu stolz.
Ich schreite im Grunde. Aber alten Damen kann man nicht nachschreiten, das ist unmöglich. Schreiten verlangt große, elegante Schritte; schwungvoll biegt sich da das Knie, möglichst spitz weist der nach vorne gestreckte Fuß die Richtung, im preußischen Rechtwinkel stehen Zehen und Spann des Standbeins zueinander. Der Oberkörper gleitet dahin, nur leicht unter den zügigen Schritten wippend; die Arme schwingen wie von einem unsichtbaren Federspiel angetrieben. Ach, das Schreiten: die geschwindeste und weltläufigste Art, sich fortzubewegen. Nein, geschritten bin ich auch nicht... obwohl ich es gern gewollt hätte!

Also tappte ich wohl einer alten Dame hinterher. Das Tappen erfasst das Zaghafte und Unsichere meiner Bewegungen gut und steht damit im krassen Kontrast zum Schreiten. Es nimmt dem sich Fortbewegenden aber auch etwas von seiner Würde. Tappende sind leicht auszulachen, nicht umsonst freut sich diebisch der Räuber, wenn Polizisten im Dunkeln tappen. Auch klingt es ein wenig nach kleinem Hundsvieh auf rutschigen Parkettböden, oder nach Jungkatzen auf Autodächern, sofern die da schon rauf kommen. Tappsig nennt man Welpen gern und meint das niedlich Unbeholfene ihrer Gehversuche. Nein, ein Welpe bin ich nicht, der da einer alten Dame nachhechelt, was denken Sie?

Es muss etwas sein zwischen tappen und schreiten – quasi der Gang als Oxymoron, die Fortbewegung, die Gegensätze in sich vereint und trotzdem vollkommen unauffällig daherkommt. Mein Gehen hat etwas Ungeduldiges – das hat seine Ursache in dem, was dem Schreitenden bei erzwungener Langsamkeit weg genommen wird. Mein Gang hat aber auch etwas Vorsichtiges, Unsicheres, mit dem ich mich so gar nicht anfreunden will. Der Grund nämlich, warum ich hinter einer alten Dame hergehe, ist dieser: Ich befinde mich im Getümmel und an ein Fortkommen war bis vor kurzem noch nicht zu denken. Bis sich diese Dame vor mich schob, die aus irgendeiner Menschentraube heraustrat und sich nun ihren Weg Richtung Oberstadt bahnt.

Zunächst nahm ich die Alte mit Argwohn zur Kenntnis, denn Schreitende trotten nicht gerne alten Leuten hinterher (aus oben genannten Gründen). Gleich aber begriff ich, dass die Omi wundersame Kräfte zu besitzen scheint. Sie bahnt sich unbekümmert und wie selbstverständlich ihren Weg durch die ansonsten undurchdringbar scheinenden Menschenmassen. Es ist, als wichen die Leute unbewusst vor ihr zurück und ich erkenne, dass es nun zwar langsam vorangeht, aber immerhin: es geht voran! So hefte ich mich an ihre Fersen, wie man sagt, und trotte, tappe, schreite und schleiche ihr nach.

Meine Heilsbringerin scheint nichts von ihrer Gabe zu wissen. Ich hingegen blicke stolz umher, wie um in den Gesichtern der Umstehenden und Ausweichenden verwunderte Anerkennung entdecken zu wollen. Aber niemand nimmt wirklich wahr, was sich hier ereignet – sie sind wohl alle in ihrem Bann. Im Bann der Omma. Omma mit zwei M, denn sie ist deutsch. Das sieht man sofort an ihrem Ommakleid, ihren Ommaschuhen, dem Ommahalstuch und ihrer Ommafrisur. Wer glaubt, alte Leute sähen sowieso überall gleich aus, der irrt! So deutsch wie diese Omma ist keine österreichische Omama. Österreichische Omamas tragen Perlketten und riechen nach Emserpastillen und Entschlackungstee, manche mit einer zarten Lavendel- und Baldriannote. Deutsche Ommas haben silberne Brillenketten, trinken Blümchenkaffee und erzählen von Kaffeefahrten nach Polen. Sie riechen nach gar nichts oder nach Schurwolle.

In der Oberstadt angekommen lichtet sich das Treiben ein wenig und jetzt, da Platz genug wäre, bleibt die alte Dame plötzlich stehen. Für mich gibt es nun keinen Grund mehr, ihr zu folgen, ich kann endlich wieder schreiten. Als ich an ihr vorbeischreiten will, macht sie plötzlich einen Haken und stellt sich mir in den Weg. Fast wäre ich in sie hinein gerannt. Ich muss abrupt stehen bleiben und hebe abwehrend meine Hände, wie ein Fußballer, der seine Unschuld am Umfallen des Gegenspielers beteuern möchte. Die Omma sieht mich ängstlich an, ich will nach rechts ausweichen, sie geht gleichzeitig rückwärts und steht mir so wieder im Weg. Himmel, denke ich, jetzt verliere ich die ganze gut gemachte Zeit wieder, weil die Omma plötzlich wieder ganz nach Art der älteren Leute im Weg herum steht! Angestrengt lächle ich sie an, bemüht, sie durch mein Lächeln milde stimmen und sie die richtige Entscheidung fällen lassen zu können.

Da gibt sie auf, bleibt einfach stehen; mit einem langen Schritt bin ich an ihr vorbei, schreite hinfort, weg vom Getümmel, durch das mich heute die wundersame Kraft einer alten Dame getragen hat. Ein kleines, unbemerktes Wunder am Zeller Sommernachtsfest – und ich Heilsempfänger! Das kann nur ein guter Sommer werden...

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