Donnerstag, 26. April 2012

Alaba trifft. Ronaldo verschießt.

Ein Abend im späten April, der die Schwere eines Sommerabends hat, aber leider nicht die Temperaturen: Ich hetze durch die Innenstadt, denn ich will nicht zu spät kommen. Heute steigt das zweite Halbfinalrückspiel der Champions League und nach dem gestrigen Krimi zwischen Chelsea und Barcelona und dem viel versprechenden Hinspiel letzte Woche, kann es zwischen Real Madrid und dem FC Bayern München nur zu einem Höhepunkt kommen. Programmierten Höhepunkten mag man misstrauisch gegenüberstehen, heute scheint die Vorfreude aber gerechtfertigt.

Ich sehe jugendliche Männer in Zweier- und Dreiergruppen, die schnellen Schrittes, ebenso gehetzt wie ich, die Straßen entlang gehen, um dann in den offenen Türen jener Lokale zu verschwinden, die das Spiel übertragen. Sie sehen aus wie kleine Buben an ihrem Geburtstag. An meinem schnellen Gang erkennen auch sie, auf welchem Weg ich mich gerade befinde, und wir nicken uns wissend zu. Die bereits geöffneten Gastgärten verschiedener Cafes sind spärlich mit diversen Damenrunden besetzt. Hie und da ein junges Pärchen, vermutlich beim ersten Date. Ich meine an der Körpersprache der Burschen erkennen zu können, dass es sich dabei um klare Fälle von „Am Samstag Abend ausgemacht, dabei aber vergessen, dass am Mittwoch Champions League ist“ handelt. Absagen will man so kurzfristig dann auch wieder nicht, mal sehen wie es läuft, vielleicht dauert es ja nicht so lang... Ich kann schon sehen, wie die jungen Männer nervös ihre Smartphones kontrollieren werden, sollten die jeweiligen Damen einmal kurz die Toilette aufsuchen.

Keuchend komme ich im Gösser-Bräu an. Alle sind schon da, es wurde auch schon gegessen, das Bier steht bereit. Es ist erst viertel nach acht, das Spiel beginnt in einer halben Stunde, und doch habe ich das Gefühl, schon etwas versäumt zu haben. Man merkt dem Lokal an, wie groß die Erwartungen sind, die Leute sind unruhig. Dann die ersten Bilder aus dem Bernabeu-Stadion: getreten voll, die Lichter, die Menschen – Mann, wird das ein Spiel!

Am Tisch nebenan sitzt kurioserweise Konstantin Wecker, auch er mit ganz kindlichen Augen. Irgendwie sind hier drin alle nervös. Nicht, weil da irgendeine Mannschaft spielt, zu der man besonderen Bezug hätte (Konstantin Wecker bildet hierbei die Ausnahme), sondern es ist einfach die schiere Größe der Begegnung, die uns zappelig werden lässt. Große Spiele, große Emotionen.

Das Spiel beginnt und wieder einmal bin ich überrascht, wie attraktiv Fußball auf hohem Niveau aussehen kann. Links, rechts, links, rechts, hier eine Chance, da eine Chance. Bis man sich orientiert hat, bis man herausgefunden hat, welcher Spieler wo welche Aufgaben übernimmt, hat jede Mannschaft schon drei Chancen vergeben. Dementsprechend schnell steht es dann auch schon 2:0 für Real Madrid. Zwei Mal der unerträgliche Cristiano Ronaldo. „Große Spiele werden von großen Spielern entschieden“, höre ich den Kommentator sagen. Wie recht er doch damit haben sollte!

Das 2:1 vom Hinspiel aber mahnt den Real-Madrid-Fan: Nur ein Tor von Bayern, und die Sache geht von vorne los! Das ist das eigentlich Lustige an dieser Geschichte mit dem Hin- und Rückspiel: Dass eine vermeintliche Vorentscheidung (z.B. ein 2:0) durch das vorhergegangene Spiel wieder entschärft werden kann. Als Zuseher muss man sich ständig daran erinnern. Der Rausch, in den sich eine Mannschaft mit zwei schnell hintereinander erzielten Toren spielen kann, kann furchtbar schnell wieder vorbei sein. Und so bekommt Bayern einen Elfmeter zugesprochen, der ihnen in der ersten ganz großen Aktion des Abends den Anschlusstreffer beschert: Arjen Robben, der Mann, dessen verschossener Elfmeter im Spiel gegen Dortmund den Bayern die Meisterschaft gekostet hat, tritt an. Wenn das nur gut geht! Robben atmet tief durch, reibt sich die Augen, es sieht aus, als könnte er selbst gar nicht fassen, dass er sich gerade dafür gemeldet hat, diesen wichtigen Elfmeter zu schießen. Aber er trifft. Casillas ist zwar noch dran, aber der Ball landet im Netz, es steht 2:1. Jetzt geht das Spiel erst richtig los! Die Ouvertüre ist vorbei, es steht praktisch wieder null zu null. Aufgeregt verfolgt man weiter das hochklassige Hin und Her in Madrid.

Dann irgendwann der erste Freistoß für Cristiano Ronaldo. Oho! Der Drei-Wetter-Taft-John-Wayne stellt sich in bekannter Pose auf, das Stadion tobt. Viel Lärm um nichts, denn der Ball fliegt enttäuschend ungefährlich geradewegs in die Arme Manuel Neuers. „Schülerliga!“, rufe ich. Konstantin Wecker lacht, mehr aus Erleichterung denn aus Vergnügen. Die Halbzeitpause, eine lästige Angelegenheit, und doch weiß ich schon gar nicht mehr, ob sie überhaupt stattgefunden hat. Die zweite Halbzeit startet im selben Tempo wie die erste. „Ein Schlagabtausch der Spitzenklasse“, müsste der Kommentator sagen, oder sonst irgendwelche Sportjournalismus-Floskeln bemühen, aber das Spiel heute findet jenseits solcher Begriffe statt.

„Bloß kein Elfmeterschießen!“, höre ich die ersten schon in der 70. Minute sagen. Unvorstellbar, dass hier kein Tor mehr fallen soll! Beide Mannschaften üben hohen Druck aus, sobald sie in Ballbesitz sind. Bayern auf absolutem Spitzenniveau, einzig Bastian Schweinsteiger ist ein Schatten seiner selbst. Seine Pässe kommen zwar regelmäßig an, wenn er aber zu Dribblings ansetzt, mache ich lieber die Augen zu. Trotzdem merkt man, wie er alles versucht; Spieler wie er sind empfänglich für die Bedeutung des Moments, Spieler wie er machen in solchen Spielen keine entscheidenden Fehler - möchte man meinen. Große Spiele werden von großen Spielern entschieden...

Man weiß gar nicht mehr, wie viele Uh's und Ah's in den Räumen der Gösser erklungen sind an diesem Abend, die Stimmung jedoch ist am Siedepunkt, wie man so schön sagt. Wieder Freistoß Ronaldo, wieder die Cowboy-Pose, wieder ein harmloser Ball. „Schülerliga!“, ruft Konstantin Wecker – diesmal vergnügt. Plötzlich sind 90 Minuten vorbei. Wo ist das späte Bayern Tor? Wo der Skandalelfmeter in letzter Minute? Beides sollte heute ausbleiben. 2:1, insgesamt 3:3 – Verlängerung! „Bloß kein Elferschießen!“, sagen wieder einige. Irgendwer redet was von Herzinfarkt.

Man sieht, wie Jose Mourinho inmitten seiner Spieler kniet. Mit eindringlicher Miene versucht er, sie taktisch und mental auf die Verlängerung vorzubereiten. Selbst der Drei-Wetter-Taft-Cowboy hört ihm aufmerksam zu. Eine faszinierende, fast unwirkliche Szene. Mourinho, so hat man immer den Eindruck, lenkt eine Mannschaft mit unsichtbarer Hand, allein seine Anwesenheit genügt, um von den Spielern jene taktische Disziplin einzufordern, mit der man letztlich alles, und zwar wirklich alles, gewinnt. Plötzlich sieht man „The Special One“ arbeiten und es beschleicht einen eine Ahnung: Nämlich, dass selbst Wundertrainer wie Mourinho letztlich vielleicht auch nur mit Wasser kochen. Kann es sein, dass er verbissen wirkt? Vielleicht sogar ein wenig beleidigt? Welche wundersamen Worte gibt er seinen Spielern jetzt noch mit? Hat er noch einen „Game-Changer“ in petto?

Juup Heynckes auf der anderen Seite, marschiert zwischen seinen Spielern umher, klopft mal hier mal da auf die Schultern. Kurz vor Beginn der Verlängerung noch einmal zusammen stellen, sich erzählen, dass man das schaffen werde, und das war's dann schon. Irgendwie fatalistisch, irgendwie banal. Kann das gut gehen? Es geht wieder weiter.

Der großartige David Alaba rennt auf und ab, ist auch wieder vorne zu finden, nachdem er sich gegen Ende der zweiten Halbzeit auf Defensivaufgaben konzentriert hatte. Es scheint, als kenne er keine Müdigkeit. In Wahrheit kennt er kein Erbarmen – weder mit sich selbst noch mit seinen Gegnern. Beeindruckend, wie souverän ein so junger Spieler inmitten dieser Weltstars agiert. In so einem Spiel. Vor dieser Kulisse. Eigentlich Unvorstellbar!

Auch die Verlängerung bringt trotz vieler guter Aktionen keine Entscheidung und so kommt es, wie es kommen musste: Elfmeterschießen. Einige rennen noch einmal auf die Toilette. Konstantin Wecker sagt mir, Elfmeterschießen, das wolle keiner. Tatsächlich scheint auch im Gösser-Bräu keiner mehr die Kraft zu haben, sich auch das noch anzusehen. Man sieht Manuel Neuer, man sieht Iker Casillas. Beides Weltklassetorhüter. Lauter Weltklasseschützen. Reine Nervensache, wie immer. Wer sind die Wackelkandidaten? Arjen Robben vielleicht?

Gerade als ich mir überlege, wessen Nerven da vielleicht nicht mehr mitmachen könnten, spaziert ein völlig unbekümmerter David Alaba in Richtung Strafraum, wo Casillas schon im Tor wartet. Das darf doch nicht wahr sein! „Alaba!“, „Der Alaba schießt!“ hört man die Leute mit einer Mischung aus Aufregung und Entsetzen sagen. Der kann doch nicht..., der wird doch nicht..., als erster? Doch, kann er, wird er: David Alaba eröffnet das Elfmeterschießen im Champions League Halbfinale gegen Real Madrid. Gegen Iker Casillas. Im bummvollen Bernabeu-Stadion. Der 19-Jährige Österreicher verwandelt souverän. Scharf ins rechte Eck, fast schon riskant. Casillas fliegt ins linke. Das Lokal tobt, als wäre es das schon gewesen. Ich schlage vor lauter Begeisterung mehrmals mit der Faust auf den Tisch. Dabei spritzt mein Bier auf den Rücken von Konstantin Wecker. Er dreht sich um und strahlt mich an, als wäre er begeistert darüber. „Tschuldige!“ - „Passt schon, des g'hört sich so!“, sagt er.

Jetzt aber Cristiano Ronaldo. „Verschieß!“, rufen alle. „Der verschießt eh!“, sagt Konstantin Wecker bestimmt. Ronaldo schießt, Neuer hält. Unglaublich: Alaba trifft, Ronaldo verschießt.

Bayern trifft wieder. Neuer hält erneut. 2:0, das Ding ist fertig. Toni Kroos verschießt, macht nichts. Xabi Alonso trifft. Jetzt aber pariert Casillas den Schuss von Philip Lahm! Alles wieder ausgeglichen, das darf doch nicht wahr sein! Sergio Ramos haut daraufhin den Ball geschätzte acht Meter über das Tor. Ja ist denn das die Möglichkeit?

Dann kommt Bastian Schweinsteiger. Wenn er trifft, ist es vorbei. Oje, der Schweinsteiger! Oje, der Schatten seiner selbst! Wo ist Robben? Kneift der? Schweinsteiger tritt den möglicherweise entscheidenden Elfmeter. Das kann doch nicht gut gehen! Aber Casillas errät die Ecke nicht, Schweinsteiger trifft, Bayern siegt, das Haus tobt, das Spiel ist vorbei, Bayern im Finale. Das war's. Bumms, aus, Nikolaus. Was für eine Partie!

Noch am Heimweg überlege ich mir, dass nach einem so hochklassigen Spiel mir letzten Endes doch Alabas und Robbens Elfmeter als die größten Leistungen im Gedächtnis bleiben: Einzelleistungen, die fußballerisch nichts Außergewöhnliches darstellen, die aber vom mentalen Standpunkt her betrachtet fast übermenschlich sind. So stimmt es also doch, dass große Spiele von großen Spielern entschieden werden. David Alaba war an diesem Abend ein ganz großer Spieler. Alaba traf. Ronaldo verschoss. Wer hätte das gedacht?

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