Montag, 5. März 2012

Frühlingsmilde

Eine viel zu frühe Februarfliege hat sich auf dem Biertisch vor mir niedergelassen. Eigentlich kann ich gar nicht sagen, ob sie sich tatsächlich niedergelassen hat, oder ob sie nicht einfach wie aus dem Nichts von irgendwoher heran gekrabbelt war. Müde schleppt sie sich auf ihren noch wackeligen Fliegenbeinen über das dottergelbe Holz. Es wäre ein Leichtes, sie zu erschlagen, einzufangen, weg zu schnippen – aber ihr Kampf mit ihrem noch müden Körper scheint mir schon genug der Strafe zu sein, die jedes Fliegendasein von vornherein verdient hat. Kalt muss sie sich anfühlen, denke ich mir und beobachte, wie die Fliege mit ihrem Rüssel das lackierte Holz tastend absaugt. Völlig von jener Hektik verlassen, welche Fliegen ansonsten ständig ruckartig krabbeln, nervös auffliegen und sich wieder niederlassen lässt, sucht sie, wonach Fliegen eben so suchen: klebriges Zeug, das Menschen achtlos und unwissend auf Biertischen zurück lassen. Ihr Nektar, unser Schmutz. Was sie gierig aufsaugt, sind wir ständig bemüht wegzuwischen.

Träge schmatzt der Rüssel in die Ritzen des Holzes hinein. Das Langsame lässt die Fliege dümmlich wirken. Ein Anblick, der, an anderen Tieren beobachtet, bei mir Mitgefühl auslösen mag, nehme ich bei dieser Fliege gänzlich ohne Bewegung des Gemüts zur Kenntnis. Mein Interesse gilt ihren verzweckten Bewegungen; normalerweise bewegen sich Fliegen nämlich bar jeder Ästhetik. Wo sich, dem menschlichen Ermessen nach, bei anderen Insekten noch Eleganz, Grazie oder Anmut in Bewegungen oder Aussehen nachweisen (oder zumindest vorstellen) lassen, haftet der Fliege eine kalte, trockene Mechanik an. Schon ihr Fluggeräusch erinnert an kleine Motoren. Die hochfrequenten Bewegungen von Flügeln, Beinen und Rüssel sind überhaupt charakterlos.

Ganz anders erscheint mir diese gerade erst aufgetaute Februarfliege. Ein Anflug von Persönlichkeit zeichnet ihre verlangsamten Bewegungen. So, wie wenn ein batteriebetriebenes Kinderspielzeug allmählich seinen Geist aufgibt und den Kinderaugen den Eindruck vermittelt, als stürbe es gerade. Vielleicht wünscht sich die Fliege in diesem Moment, erst ein paar Tage später aufgetaut worden zu sein. Die Sonne scheint zu stark für den geschwächten Fliegenkörper, macht sie zusätzlich müde und zehrt an ihren ohnehin geringen Ressourcen. Was sie gerade noch von den Toten erweckt hat, scheint sie im nächsten Augenblick schon wieder zurück ins Grab schicken zu wollen.

Endlich findet die Fliege die Hinterlassenschaft meines Getränkeglases: einen zuckrigen Ring sonnengetrockneter Limonade. Schwach saugt der Rüssel an den Überresten, die Fliege hat anfangs noch Mühe, den Rüssel von der klebrigen Limonade zu lösen. Nach ein paar Versuchen klappt es schon besser, fast saugt der Rüssel schon mit gewohnter Eile. Die Fliege arbeitet sich den kreisrunden Abdruck entlang, lässt kurzzeitig wieder von ihrem Mahl ab, krabbelt schon wesentlich flinker, aber ziellos auf dem Biertisch umher und kehrt schließlich wieder zur Limonade zurück wie ein Hund, der nicht von seinem Knochen lassen will. (Oder wie ein junger Liebhaber, der nicht von seinem Mädchen lassen kann...)

Ich wehre mich gegen den gewohnten Drang, die Fliege verscheuchen zu wollen oder sie gar zu erschlagen. Vielleicht verzückt mich ihr Kampf um's Überleben so sehr, vielleicht vertraue ich darauf, dass sie die drohende kalte Nacht nicht überleben wird. Vielleicht aber lasse ich Gnade walten, weil mich die Frühlingssonne milde stimmt und selbst der kalte Fliegentöterinstinkt in mir in diesen Tagen dem Wunsch, das blühende Leben zu erblicken, unterliegt. „Warte nur!“, drohe ich der Fliege in Gedanken, „In den Sommermonaten wird es mit der Frühlingsmilde vorbei sein und ich erschlage euch wieder in Dutzenden!“ Die Fliege brummt wie zur Antwort. Sie startet ihre Flügel und fliegt auf meine Hand, verharrt dort aber nur kurz und ist gleich darauf verschwunden – in gewohnt hektischer Fliegenmanier.

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