Freitag, 23. März 2012

Eroberung der Heimat

Heimat – ein leidiges Thema. Wie sich dazu äußern, wenn allein schon das Wort, das die Sache zu bezeichnen sucht, im Moment des Aussprechens, des Schreibens zerfasert? „Heimat“, das klingt ein wenig hohl, verstaubt und wie eingelagert. Eingelagert in einem alten Schuppen, der irgendwo im Garten unserer Kulturlandschaft steht und in dem es müde vor sich hin modert. Wörter wie „Manieren“ oder „Höflichkeit“ liegen dort auch herum und warten darauf, vergessen zu werden. Was ist los mit diesen Wörtern, was ist los mit der Heimat? Muss man den Begriff im Schuppen vergehen lassen, oder kann man vielleicht doch noch etwas damit anfangen? Und was kann Heimat heute (noch) meinen? Im gegenwärtigen Diskurs hat der Begriff seine nostalgische Komponente eingebüßt und im Vordergrund stehen politische oder pragmatisch-funktionale Aspekte. Die Nostalgie selbst steht ja unter Generalverdacht, denn, so wird den Jungen immer eingebläut, früher sei gar nicht alles besser gewesen, und wer das immer noch glauben will, leide an romantischem Eskapismus, entzöge sich dem Hier-und-Jetzt – und begeht damit das größte Kapitalverbrechen überhaupt. Denn nicht nur die Ratgeber zur Lebensführung mahnen uns, uns gefälligst im Hier-und-Jetzt zu erschöpfen, auch das Erwerbsleben kann mit Nostalgikern wenig anfangen. Und wer sich nostalgisch an alte Objekte klammert, der gilt entweder als Hoffnungsloser oder als Nachläufer, weil sogar die Nostalgie – in marktfunktionalistischer Entstellung wohlgemerkt – selbst gerade eine ironische Wiedergeburt in der Popkultur feiert.

Sich aber nostalgisch zu seiner (einer) Heimat zu verhalten, wirkt mindestens unmodern, kann einem aber – je nachdem, wie intensiv der Heimatnostalgie nachgegangen wird und je nachdem, wie empfindlich das sogenannte soziale Umfeld darauf reagiert – im schlimmsten Fall als reaktionär, heimattümelnd, konservativ, biedermeierlich, allzu bürgerlich, engstirnig, stumpf, stupide oder schlichtweg dümmlich ausgelegt werden. Die Liste dieses diesen traurigen Umstand zu beschreiben möglich machende, meist recht kraftlose und von Vorurteilen nicht ganz freie Vokabular ließe sich freilich beliebig fortsetzen. Die Sache kann beliebig gedreht und gewendet werden, aber der Mief des Altbackenen lässt sich vom nostalgischen Umgang mit der Heimat nur schwer wegdenken. Dies hat nicht nur historische Gründe, sondern ist auch dem sorglosen Umgang mit dem Heimatbegriff geschuldet, der, durch politische Vereinnahmung havariert, anscheinend immer nur dort auftaucht, wo sich Bärtchen und Joppen tragende Herren an Biertischen gegenseitig zu gedanklichen Missgeburten aufmunternd auf die oft breiten, aber immer rückgratlosen Schultern klopfen. Wer „Heimat“ sagt, so scheint es, der meint doch irgendwie auch „Heim ins Reich“, „Heimatfront“, „Heimat für die, die immer schon da waren“, „Heimattreue dem Vaterland“ etc. Gegen solche Dummheiten ist, wie so oft, kein Kraut gewachsen. Von der Heimat abhalten lassen sollte man sich jedoch davon nicht.

„Ich fühle mich als Europäer“, sagt, wer modern sein möchte, zeigen will, dass die ganze Welt seine eigentliche Heimat ist, und dass, wenn schon gezwungen, seine Herkunft anzugeben, ihm die größtmögliche Einteilung die gerade noch verkraftbarste ist – denn alles andere sind kindische Dorftümeleien. Der Zug zum Großen und Ganzen (lange Auslandsaufenthalte, berufsbedingte Reisen, das Konzept Weltreise als Lebenserfahrung) ist dem Heimatlichen feindlich gesinnt. Welt und Dorf, das verträgt sich nicht. Die frei erwählte Flucht ist der Imperativ des modernen Nomaden, sie hat als Trieb ins Ungewisse die Vertreibung aus dem Paradies ersetzt: Man vertreibt die Teufel der Heimat aus seiner Seele, indem man die Heimat so weit wie möglich hinter sich lässt. „Auf zu neuen Ufern“ heißt die Devise - „und bloß nie mehr zurückkehren!“ der Nachsatz. Der Ennui ist dem Jetlag gewichen, die Menschen sind jetzt reisemüde statt lebensmüde. Eine Verbesserung kann darin nur erkennen, wer auch die Kopfschmerzen den Magenschmerzen als angenehmeres Symptom einer mittelschweren Krankheit vorzieht.

Doch wie sich dagegen wehren, dass die Heimat vereinnahmt wurde von dubiosen politischen Diskursen und funktionalistisch-bürokratischen Hohlwörtern? Wurde uns die Heimat etwa verboten, hat man uns vergrault, hat man das Territorium unzugänglich gemacht? Betritt man den heimatlichen Boden (Boden – noch so ein gefährliches Wort!) auf eigene Gefahr? Ein neues, modernes Verhältnis zur Heimat erlangt nur, wer bereit ist, hinaus zu gehen nicht um des Weggehens willen und wer bereit ist, zurückzukommen um des Daheim-Seins willen. Erst wer die Heimat als den Ort erkennt, von dem aus alles seinen Anfang nimmt, ist wirklich heim gekommen und kann sich an seiner Region, seiner Gegend erfreuen, und nicht nur an der bloßen Behaglichkeit seines Hauptwohnsitzes.

Heimat ist nämlich mehr als Heim. In einer Gegend groß zu werden bedeutet, diese Gegend im schlimmsten Fall ein Leben lang mit sich herum zu tragen. Eine Erfahrung, deren Bitternis vor allem jene spüren, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und denen sich keine Möglichkeit zur Rückkehr mehr bot. Erst wenn die Heimat verloren ist – entrückt, unzugänglich, verschwunden – wird ihr Wert schmerzlich bewusst. Dabei sollte erwähnt werden, dass es für gewöhnlich viel braucht, um ganze Familien dazu zu bewegen, ihren Heimatort zu verlassen, und dass es schwieriger ist, eine neue Heimat zu finden, als einen neuen Hauptwohnsitz – ein Umstand, der bei aller Integrations-Politisierung gerne unter den Tisch fällt. Erst wenn die Heimat zur Hölle wird, überwindet die Bereitschaft, sie zu verlassen, jene magnetische Kraft, die alles und jeden festhält, der sich einmal – freiwillig oder unfreiwillig – ihr hingegeben hat.


Foto: Ricarda S. Kreindl


Immanuel Kant, so heißt es in Thomas Bernhards gleichnamigen Stück augenzwinkernd, sei nie aus Königsberg hinausgekommen. Auch wenn diese Behauptung faktisch unwahr ist, bezeichnet sie doch eine tiefe Verwurzelung mit einem Ort, der einmal für Preußen das war, was man ein geistiges Zentrum nennt. Was Königsberg für Kant war, war Prag wohl für Franz Kafka. Zwar ist Kafka öfter aus Prag hinausgekommen als Kant aus Königsberg, dennoch ist das literarische Bild, das Kafka von seiner Heimatstadt einst zeichnete (ein Mütterchen mit Krallen) das allertreffendste, wenn es darum geht, die Beziehung des Autors zu seiner Stadt zu beschreiben. Ob Kant Königsberg, ob Kafka Prag geliebt hat, ist einerlei. Fest steht, dass in beiden Fällen die Beziehung des Denkers zur Heimat nicht fruchtlos geblieben ist: War Königsberg für Kant so etwas wie ein Denkgefängnis, war Prag für Kafka Stimmungs-Vorlage für sein literarisches Werk. Die Auseinandersetzung mit der Heimat, der Herkunft, der Geschichte ist wohl immer schon Wurzel der künstlerischen Inspiration gewesen. So erlernen wir das Sehen und Denken zuallererst an unserer heimatlichen Umgebung, und erst, wenn wir uns an diese gewöhnt haben, ist das Fundament dafür gelegt, staunen zu können, wenn wir andere Gegenden bereisen – metaphorisch wie auch ganz wörtlich verstanden. Die Differenz, das Anders-Sein, errechnet sich, ob man will oder nicht, erst aus dem, was man schon kennt. Wenn Thomas Bernhard seinen Kant und Franz Kafka seinen Karl Roßmann nach Amerika schicken, ist das einerseits ein geradezu sarkastischer Akt der Entwurzelung, gleichsam aber auch Voraussetzung für wirklich neue Erkenntnis (alle Implikationen eines Amerika-Bildes, das Fortschritt und Neuanfang bedeutet, miteingeschlossen). Man lese Kafkas Verschollenen als Fortsetzung von Bernhards Kant-Stück und stelle sich den großen Professor vor, wie er in der neuen Welt zum 17-Jährigen Greenhorn wird und bald darauf sein Königsberg vergisst und sich – nach allen Irrungen und Wirrungen – schließlich irgendwann in Princeton niederlässt, weil ihn das noch am ehesten an Königsberg erinnert.

Ist Heimat also einfach all das, was wir schon kennen, weniger als das, was wir vorgeben, immer schon gekannt zu haben? Die Demarkationslinie zwischen Gekanntem und scheinbar Immer-schon-Gekanntem verläuft zwischen dem Gefühl der heimatlichen Geborgenheit und dem Drang, diese aufzugeben und dorthin aufzubrechen, wo man – so glaubt man – eigentlich hin gehört: nämlich in die große, weite Welt. Hänschen klein all over again. Aber auch Hänschen muss lernen, dass die Welt als ganzes kein Zuhause ist, und kehrt als Hans wieder zurück. Erkannt wird er natürlich nur von seiner Mutter, die ihm schon bei seiner Abreise gesagt hat, er solle bald wieder kommen. Warum Hänschen nach sieben Jahren wieder beschließt zurückzukehren, verrät das Kinderlied nicht. Wir erfahren bloß, dass sich das Kind „besinnt“: Es scheint, als wäre der nunmehrige Hans vernünftig geworden. Warum aber kehrt er dann wieder nach Hause zurück? Die Ferne war ihm wohl nicht Erfüllung genug; zwar war seine Reise eine Notwendigkeit in seinem Ablösungsprozess von der Mutter (lies: Heimat), aber es scheint, als wäre er von vornherein nur zu dem Zweck „ausgewandert“, um letztlich wieder zurückzukehren. Das Hänschen-klein von heute macht Praktika in London, Shanghai und Tokio, lässt sich dort nieder, wo die am besten zahlende Firmenniederlassung steht, und zieht dann höchstens noch von der Stadt in die Vorstadt, weil man in Städten keine Kinder aufzieht – zu sehr hat man die eigene Kindheit auf dem Land geschätzt. In die Heimat zurückzukehren lohnt gar nicht mehr, denn dort findet man nicht das richtige berufliche Umfeld vor. Und aus nostalgischen Gründen kann man sich ja immer noch im Alter dort niederlassen – wenn es denn sein muss.

Heimat – so könnte man es am einfachsten sagen – ist dort, wo man sich wohl fühlt. Die größere Frage als die nach der Heimat ist also jene nach dem Wohlergehen, und diese Frage ist es auch, die am schwierigsten zu beantworten ist. Sie reguliert das Verhältnis zur Heimat, denn dieses kann auch durchaus ein problematisches, ja traumatisches sein. So reicht es nicht nur aus, sich wo auszukennen und zurecht finden zu können, sondern es muss auch ein psychohygienischer Bezug zu einem Ort gegeben sein. Das, was heutzutage „loslassen können“ genannt wird, gelingt am ehesten dort, wo man keine Zügel in der Hand halten muss und sich in ein Nest fallen lassen kann. Gerne darf man sich darunter eine Art Primitiv-Wellness vorstellen. Wir versuchen es einmal negativ: Heimat ist dort, wo das Nichtstun nicht suspekt ist und kein schlechtes Gewissen verursacht. Heimat ist dort, wo man nicht blöd angeschaut wird. Heimat ist dort, wo man nicht existenziell gefordert ist, sondern seine Ruhe hat bzw. finden kann.

So hat Heimat viel mit Vertrauen und Ruhe zu tun. Zu viel Vertrauen und Ruhe kann zu Langeweile führen, zum bereits erwähnten Ennui, zur Melancholie bzw. zu dem, was wir heute Depression nennen. Es ist ein Sichlangweilen, wie Heidegger es nennt, das nicht mehr nur von einem Ding herrührt, sondern beginnt, auf alles andere sich auszubreiten. So wird die Heimat dem Heimgekommenen als Ganzes langweilig. Der Mief, der dann von ihr ausgeht, ist jener, der den Geflohenen die Nase rümpfen lässt, wenn von der Heimat die Rede ist. Die Langeweile der Heimat ist es auch, die das heimatliche Leben in Rituale zerfallen lässt, ist also am Land zum Beispiel der Grund für das ausgeprägte Vereinswesen.

Wir müssen feststellen, dass es nicht die Nostalgie ist, die den Diskurs über die Heimat suspekt macht, sondern die Furcht vor der Langeweile, die der Heimat entwachsen kann. Es gibt das „gesunde“ Verhältnis zur Heimat nach wie vor – wenn man sich auf das Langweilige vorbereiten, es annehmen und mit ihm umgehen kann. Ennui und Heimat gehören zusammen, und je enger die Heimat, desto ausgeprägter der Ennui. Das zeigt sich schon bei Büchners Leonce, dem hervorragendsten Vertreter langweiliger Figuren in der deutschen Literatur überhaupt, dessen Königreich Popo das allerkleinste, dessen Langeweile aber grenzenlos ist. Einen schönen Sommertag erlebt er so: „Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem Boden.“ Herrliche Langeweile, die herrlichen Müßiggang erlaubt, der ja bekanntlich (so stellt Leonce fest) aller Laster Anfang ist! Auch Leonces Flucht führt ihn aber doch wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist: Heimat ist, wovor es kein Entrinnen gibt.




Foto: Ricarda S. Kreindl


Gleichzeitig muss Heimat erobert werden. Von selbst stellt sie sich nicht dar, von selbst beherbergt sie nicht; sie muss bestellt werden wie ein Acker. Man muss Fragen an sie stellen, an ihre Leute, ihre Geschichte, ihre Hässlichkeiten und selbst an ihre schönen Seiten. Man muss die Heimat bezweifeln, argwöhnisch begutachten, mit Vorsicht genießen, wie einen Menschen, dem man nicht ganz trauen mag. Mit Respekt aber sollte man sie behandeln; sie selbst, die Gegend und wie sie sich in ihren Menschen, ihren Abkömmlingen, zeigt. Zu dem gehört Abstand, Flucht, Schimpf und Tadel – eine kathartische Phase der Adoleszenz, die, einmal überwunden, eine Basis für eine gesunde und lebenslange Heimatliebe bilden kann, die nicht dumpf und reaktionär sein muss, sondern das Gefühl eines lieblichen Gefangen-Seins bereit stellt. Daheim zu sein ist, der Unentrinnbaren ins Auge zu sehen und zu sagen: „Sperr mich ein, liebe Heimat, auch wenn ich dich verlassen muss, damit ich glücklich werde!“

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