Samstag, 4. Juni 2011

Gebrocktes (Ein Kulturbegriff)


„Ich habe mich schon sehr viel mit dem Thema Kultur auseinandergesetzt!“, krächzt eine tiroler Stimme aus der Ecke. Irgendwie glaube ich dem Mann, dem die Stimme gehört, nicht. Er sagt dann aber: „In den meisten Lexikonartikeln habe ich aber lauter Definitionen gefunden, mit denen ich nichts anfangen konnte“. Das glaube ich ihm! Der Mann sieht nicht aus, als habe er meterweise Lexika daheim stehen. Aber benevolenter Weise schenkt man ihm erst einmal Glauben. „Also habe ich mir selber was dazu überlegt“, fährt der Tiroler fort. Ein wenig Stolz schwingt in seiner Stimme und ich bin jetzt auch gespannt, was da jetzt kommt. Auch die anderen Anwesenden im Forsthaus lauschen gespannt, einige beugen sich sogar etwas vor, um den Mann besser hören zu können. Auch der Herr Professor, der gerade eben ein Kurzreferat zu einem Allerweltsthema gehalten hat, hebt erwartungsvoll die Augenbrauen.

„Schauen Sie, wenn sie da einen Apfelbaum haben, dann ist das noch nichts. Also es ist schon etwas, aber Natur halt. Und wenn jetzt...“, hier macht der Tiroler eine äußerst geschickte Pause. Alle Anwesenden wollen jetzt natürlich wissen, was mit dem Apfelbaum geschieht und wo die Kultur ins Spiel kommt. „Wenn jetzt der Mensch hergeht und den Apfel brockt...“
Wieder eine Kunstpause, der Mann, so denke ich mir, krächzt zwar wie ein alter tirolerischer Bauerntisch, er weiß aber seine Pausen zu setzen! „Also der Mensch geht her und brockt den Apfel...“
Aha, es handelte sich also um keine Kunstpause, sondern um eine Pause der Formulierungsnot, der Tiroler weiß nicht, wie er das, worüber er sich so lange Gedanken gemacht hat, nun im Eifer des Gefechts, in der Hitze der Diskussion, auf den Punkt bringen soll.
„Naja, also der Mensch nimmt den Apfel und macht dann was daraus. Das ist dann Kultur.“
Soso, denke ich mir, da hat wohl einer vom Baum der Erkenntnis genascht!

Welche Lexika der Mann wohl konsultiert hat? Dass er da nirgendwo auf den Unterschied zwischen Kultur und Natur getroffen sein soll, glaube ich ihm nicht. Dass er das Beispiel mit dem Apfel selber gefunden hat, das glaube ich ihm schon. Der Professor ist entzückt, denn jetzt kann er wieder das sagen, was er vorher schon gesagt hat, was in etwa das war, was er schon vor einer halben Stunde gesagt hat, wahrscheinlich war es eh das, was er immer schon und sowieso seine ganze Hochschulkarriere lang behauptet hat. Was das war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Dass er irgendwann einmal auf Kant verwiesen hat, das weiß ich aber noch. Ich kann mich aber auch erinnern, dass ich nicht wusste, was das, worüber der Professor geredet hat, jetzt genau mit Kant zu tun haben sollte. Insofern bin ich auch nicht viel gescheiter, weil ich gar nicht mehr weiß, was der Professor gesagt hat und ich weiß auch nicht, was das mit Kant zu tun haben soll. Aber dass der Professor etwas gesagt hat, das weiß ich gewiss und wie er es gesagt hat - nämlich mit akademischer Bedeutsamkeit in der Stimme - das weiß ich auch noch.

Wie aber das jetzt mit der Kultur und der Natur ist? Der Tiroler hat es eh ganz gut beschrieben, die Kultur ist im Grunde das, was der Mensch selbst hervorbringt - und nicht bloß vorfindet. Was aber hat Kant über die Kultur gesagt? Dass sie die „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken“ ist? Das hat aber wiederum der Professor nicht gesagt. Oder dass sie die Fähigkeit des Menschen ist, sich selbst Zwecke zu setzen? Das hat der Professor auch nicht gesagt. Aber „Kant“ hat er gesagt, ganz sicher! Wenn er nicht sogar „Immanuel Kant“ gesagt hat, der Herr Professor. Egal, was der Professor gesagt hat, der Kulturbegriff des krächzenden Tirolers schwebt noch Minuten nach der Rede des Professors in den Räumen des Forsthauses umher. Es kommt mir vor, als würden viele Besucher jetzt andächtiger die dargebrachten Speisen bestaunen, ihr Glas zärtlicher umfassen und die Architektur des Forsthauses genauer wahrnehmen, ganz in dem Bewusstsein, dass da ein Mensch hergegangen ist und etwas gemacht hat. Dabei ist nur ein Tiroler hergegangen und hat etwas gesagt.

 Links: Kirschen in Schale (Natur); rechts: Guglhupf unter Glocke (Kultur). Foto von Ricarda S. Kreindl

1 Kommentar:

  1. Der Apfelbaumvergleich hinkt: Äpfel sind nur verwertbar wenn keine Holzäpfel. Sprich: Der Apfelbaum musste veredelt werden. Der Apfelbaum is da schon ein bisserl komplizierter, als der Tiroler das hier herunterbricht. Bei der Kultur kann man sich da nicht sicher sein. Aber: So viele Obstbauern gibt's wohl nicht im hohen Gebirge.

    AntwortenLöschen