Donnerstag, 2. Juni 2011

Der Wirt

Der Wirt ist ein Wirt in zweifacher Hinsicht. Einerseits ist er ein Wirt, weil er nicht nur ein Wirtshaus, sondern auch, weil er einen richtigen Wirtsbauch hat. Der Bauch, so scheint es, ist an ihm befestigt oder sieht aus wie umgehängt. Insofern ist der Wirt der Wirt seines Bauches und seines Hauses. Der Bauch ist, wie die Gäste des Wirten, eigentlich ein Schmarotzer, deswegen ist der Wirt nicht nur von Berufs wegen ein Wirt, sondern auch biologisch gesehen ist er ein regelrechter Wirt. Auch die Gäste des Wirten sind, wie gesagt, einerseits Schmarotzer, andererseits werden sie vom Wirt ausgenommen. Denn es gibt zweierlei Gäste: Die einen sind die, zu denen sich der Wirt dazusetzt. Dazusetzen heißt aber nicht nur, am Tisch der Gäste Platz zu nehmen, sondern vor allem, diese auch zu unterhalten und hie und da ein sogenanntes Schnapserl zu servieren, auf Kosten des Hauses, auf Kosten des Wirtes, auf Kosten des Wirtshauses also. Der Wirt wäre aber kein solcher, wenn er nicht sparen würde wo es geht. Also spart er auch bei diesem Schnapserl, das meist ein zusammengepanschtes alkoholhaltiges, aber niemals ein alkoholisches Getränk im herkömmlichen Sinn ist, das dann in möglichst kleinen Einheiten serviert wird. Gäste, die zu solchen Ehren kommen, nämlich zu der Ehre, dass sich der Wirt zu ihnen „dazusetzt“ und zu der Ehre, ein „Schnapserl“ serviert zu bekommen, nennt der Wirt dann seine „Stammgäste“. Die Stammgäste erkennt man daran, dass sie an einem großen Tisch sitzen, auf dem sogenannten Stammtisch, der durch einen riesigen Aschenbecher geziert wird, auf dem auch ein gusseisernes Schild angbracht ist, wo wiederum „Stammtisch“ draufsteht, sodass jeder erkenne: Hier tagt der Stammtisch, hier sitzen die Stammgäste und hier setzt sich der Wirt hie und da auch einmal dazu. Die Stammgäste mag der Wirt aber meistens gar nicht. Er mag sie als Kunden, aber nicht als Menschen. Eigentlich mag der Wirt überhaupt niemanden als Menschen, sondern nur als Kunden. Selbst wenn man als Kunde beim Wirt, ganz menschlich, die Toilette aufsuchen will, schaut der Wirt schon verzwickt, weil das kostet alles wieder Geld. Und alles, was kostet, das ist schlecht. Alles was nichts kostet, ist gut. Menschen kosten, Kunden kosten nichts. Also sind Kunden gut.
Der Wirt zählt gern. Wenn ich den Wirt sehe, zähle ich aber nur die Knöpfe an seinem Hemd, die sich oberhalb der Lederhose, die den Wirtsbauch beherbergt, gefährlich mir entgegen streben. Es sind vier. Die oberen Knöpfe sind nicht gefährlich, sie schmücken auch nicht den strammen Wirtsbauch, sondern schützen des Wirten haarige Brust, die ganz und gar abscheulich ist und kein Herz in sich trägt. Sie schützen die kalte Brust vor dem noch kälteren Wind, der am Abend durchs Tal in die Stadt hinunter pfeift. Am Abend, das ist jene Stund, zu welcher der Wirt wieder zu zählen anfängt. Er zählt Kunden und Tische. Er zählt dabei reale Kunden und fiktive Kunden, wieviele fiktive Kunden noch auf wievielen fiktiven Tischen Platz hätten und wieviele fiktive Getränke er dann noch verkaufen könnte. Aber während der Wirt zählt, schreien die Stammgäste schon wieder nach ihm und er soll ihnen neuen Schnaps bringen oder „die Luft aus dem Glas lassen“, wie die Stammgäste oft sagen. Immer wenn die Stammgäste so etwas sagen, dann lachen sie und der Wirt lacht auch. Sonst hat der Wirt nicht viel zu lachen. Meistens grinst er nur. Der Wirt grinst, je nach Situation und Laune, einmal dreckig, dann wieder falsch, oft grinst er auch hämisch. Lachen tut er nie, denn er hat ja nichts zu lachen und das ist auch das, was er immer allen erzählt, dass er nichts zu lachen habe; dass man nämlich als Wirt überhaupt nie irgendwas zu lachen habe, ja dass man „in diesem Geschäft“ – damit meint er die Wirtszunft – prinzipiell und von vorneherein nichts zu lachen habe. Und wenn er das sagt, dann grinst er – zweideutig.
Wenn der Wirt richtig gezählt hat, dann hat der Wirt gegenüber einen Tisch mehr auf der Terrasse stehen als er selbst. Wenn der Wirt das bemerkt, dann wird er nervös und er grinst nicht mehr. Dann wird er hektisch und schafft seinen Arbeitern an, doch gefälligst noch zwei, drei Tische aufzustellen. Dass auf der Terrasse kein Platz mehr ist, das interessiert den Wirt nicht, denn Platz kann man nicht zählen. Nur Plätze, die kann man zählen. Und Tische und Stühle kann man zählen. Ein Tisch mit drei Stühlen, das sind drei Plätze, vielleicht vier, wenn man noch einen kleinen Stuhl dazustellt oder ein verliebtes Paar erwischt, wo es sich das Mädchen auf dem Schoß des Burschen bequem macht, weil es ja gar so ein gemütlicher Abend ist und weil es ja eh keine Plätze gibt und noch weniger Platz auf den Plätzen. Aber der Platz auf den Plätzen und der Platz für die Plätze, das interessiert den Wirt ja alles gar nicht. Er will mehr Stühle und mehr Tische als der Nachbarwirt. Menschen brauchen Platz, Kunden brauchen Plätze, denkt sich der Wirt. Eigentlich denkt sich der Wirt nur das mit den Kunden, denn das mit den Menschen will er gar nicht wissen. Also versucht der Wirt das Paradoxe, nämlich auf immer weniger werdenden Platz immer mehr Plätze zu schaffen. So wird der Wirt zum Vollzieher des Paradoxen und bekommt selber von seiner hohen Kunst gar nichts mit.
Irgendwann ist die Terrasse so weit ausgedehnt, dass die ganze Fußgängerzone schon Terrasse ist. Dem anderen Wirt gegenüber sind die Tische ausgegangen und jetzt hat unser Wirt mehr Tische draußen stehen als der gegenüber. Da grinst der Wirt hämisch. Da sieht ihm aber der Wirt gegenüber in die Augen und auf einmal wird das hämische Grinsen ein falsches, und der andere Wirt gegenüber grinst auch falsch, man versteht sich ja. Da hat der gegenüber aber schon ein Handy am Ohr und bestellt Tische nach: jemand solle doch vom Lager noch ein paar Tische holen, es sei zwar kein Platz mehr, aber Plätze brauche man schon noch ein paar. Mittlerweile sitzen in der Fußgängerzone schon mehr Leute als überhaupt durchgehen können. Von Fußgängern kann keine Rede mehr sein, die Mehrheit sitzt, die anderen stehen, weil alles so eng ist und nichts weitergeht. Denn viele wollen sich auch hinsetzen und warten vor den vollen Tischen, bis irgendwo was frei wird. Denn der Wirt winkt sie schon heran in der Hoffnung, dass bald ein bereits abgefertigter Kunde zahlt und irgendwo ein Tisch frei wird. „Möchten Sie noch etwas?“, fragt der Wirt mit gezückter Kellner-Geldtasche und grinst falsch. Und hinter dem Wirt sieht man schon die gierigen Gesichter der nächsten Kunden, was die noch Sitzenden beängstigt und sie schnell zahlen lässt. Und noch bevor der letzte alte Kunde aufgestanden ist, sitzen die neuen schon da und der Wirt nimmt ihnen schon die Bestellung ab. Aber Schnapserl bekommen sie keines, denn sie sind keine Stammkunden und werden es auch nie werden.
Inzwischen sind beim Wirt gegenüber die Tische angekommen und werden schon aufgestellt. Es sind alte Klapptische aus den 60er Jahren, aber „immer noch gut, ja eigentlich besser als das neumoderne Glump“, wie der Wirt gegenüber behauptet. Während die alten Klapptische hektisch aufgestellt werden – man arbeitet sich gassenaufwärts – kommen von oben schon die Kellner vom dritten Wirt mit anderen Klapptischen. Denn bei der Gasse handelt es sich um eine regelrechte Gasse der Dreifaltigkeit und da sind zwei Wirte nicht genug, da muss sich auch noch ein dritter Wirt entfalten. Deswegen kämpfen jetzt die Kellner des Wirten gegenüber mit den Kellnern des Wirten oberhalb um die letzten freien Meter in der Fußgängerzone. Die beiden Wirte stehen vor ihren Eingängen wie Feldherren auf Hügeln und beobachten die Arbeit ihrer Leute kritisch, feuern sie an, sie mögen doch schneller klappen und stellen. Dann ist die Fußgängerzone voll und der obere Wirt hat gewonnen, weil er einen Tisch mehr draußen stehen halt als der andere. Aber am meisten Tische hat der grimmigste Wirt, unser Wirt mit dem besten Wirtsbauch und den besten Stammgästen. Denn er muss sich seine Seite der Gasse mit keinem anderen Wirt teilen. Und Tische auf die andere Seite der Gasse zu stellen, das traut sich noch keiner. Das ist ein ungeschriebenes Kriegsgesetz. Deswegen hat der Wirtsbauchwirt die strategisch günstigste Position, weil er auf seiner Seite quasi allein ist. Die Position hat er geerbt, weil das Wirtshaus ein sogenanntes Traditionsgasthaus ist, das schon lange Zeit im Familienbesitz ist und also immer von irgendeinem Familienmitglied geführt wurde.
Weil der Wirt einen traditionellen Familienbetrieb leitet und weil der Wirt so angesehen ist, vor allem bei seinen Stammgästen, hat er irgendwann gemeint, er müsse sich „in der Gemeindepolitik engagieren“. Und wenn ein Wirt sich in der Gemeindepolitik engagiert, dann ist das meistens eine eher einseitige Geschichte, denn dann sitzt der Wirt im Gemeinderat und versucht auch dort mehr Plätze zu schaffen, während er falsch grinst. Dann und wann erhebt er seine Stimme und schreit dann im Gemeinderat so wie wenn er in die Küche seines eigenen Betriebs hineinschreien würde. Weil aber die anderen Leute im Gemeinderat nicht seine Angestellten sind und ihm also nicht gehorchen wollen und weil zu wenige Stammgäste in der Gemeinde sitzen, ist der Wirt bald frustriert und „fertig mit der Politik“, wie man ihn dann sagen hört. Dann beschränkt er sich wieder auf sein Territorium in der Fußgängerzone und versucht, möglichst viele lokale Politprominenzen in sein Lokal zu bekommen, womöglich Stammgäste werden zu lassen, denn es werde ja vor allem im Wirtshaus Politik gemacht, meint der Wirt. Und dann lacht er und sein Wirtsbauch lacht hüpfend mit, obwohl er ja eigentlich nie was zu lachen hat, der Wirt.

1 Kommentar:

  1. Der PARASIT bedient sich des Wirtes, lebenslang oder vorübergehend.

    ENDWIRT - hier wird der Parasit geschlechtsreif. Kauft auf der Toilette Sex-Gags oder Kondome für die erste Nacht.

    HAUPTWIRT - er bietet dem Parasiten optimale Lebensbedingungen. Sein Lokal ist gleich ums Eck, beinhaltet Darts oder Billard, serviert Snacks zu später Stunde und man hält sich auf Einvernehmen im Lokal auf.

    NEBENWIRT - bietet dem Parasiten zwar einen Lebensraum, dieser wird unter normalen Umständen aber nicht aufgesucht weil die Bedingungen nicht optimal sind. Entweder liegt das Lokal ungelegen, die Musik ist schlecht oder man fürchtet die Boshaftigkeit der Angestellten. Trotzdem erfüllt es seinen Zweck.

    ZWISCHENWIRT - er wird nur während bestimmter Abschnitte des Lebenszyklus als Wirt genutzt. Er wird wegen gutem Essens oder einer billigen Happy-Hour zu Beginn, wegen zahlreicher geschlechtsreifer Gäste während oder dem deftigen Essens wegen gegen Ende des abendlichen Vorhabens aufgesucht.

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