Dienstag, 29. Mai 2012

Das Kondensat des Bösen

Am 2. Dezember des vergangenen Jahres zog der niederländische Allzeit-Superstar Marco van Basten bei der Auslosung der Euro-Gruppenphase das Russland-Los und bestimmte damit den letzten Teilnehmer in der Gruppe A. Es hätte auch Deutschland sein können – aber mit den Deutschen hatte van Basten etwas ganz anderes vor. Die Gruppe A jedoch war damit vollständig und der freundliche Herr mit Glatze, der die Auslosung leitete, meinte, dass eine Menge Leute jetzt sehr glücklich seien: „Poland, Greece, Russia and the Czech Republic. I don't know if the happy ones are the Poles, the Greeks, the Russians or the Czechs or all of them...“ Die anwesenden Nationaltrainer zeigten sich überrascht und amüsiert, bis sie endlich begriffen, was für eine Katastrophen-Gruppe hier zusammengelost wurde.

Zuvor hatte der französische Allzeit-Superstar Zinedine Zidane die Aufgabe, den dritten Teilnehmer der Gruppe A zu ermitteln. „Who will join Poland and Czech Republic?“, fragte der Zeremonienmeister wie ein debiler Zirkusdirektor. Ja wer würde denn der Glückspilz sein? Schweden, Portugal, Griechenland und Kroatien standen in Topf 3 zur Auswahl. Zidane zog Griechenland. „Greece!“, sagt Zidane laut und deutlich, aber Kaugummi kauend, und hält den Zettel brav in die Kamera. Im Hintergrund lacht jemand. Der Zirkusdirektor überlegt sich, was er zu den Griechen sagen könnte und da fällt ihm ein, dass die ja 2004 Europameister waren. Der Name Otto Rehagel fällt ihm in diesem Zusammenhang auch noch ein. Ihm fällt geradezu alles ein, was einem zu griechischem Fußball einfallen kann.

Es waren also Marco van Basten und Zinedine Zidane, die uns die Gruppe A in dieser Form bescherten – eine Gruppe A, von der gleich tags darauf alle behaupteten, sie würden sich kein Spiel daraus anschauen. Die „Gruppe Ah Ah“ nennt sie mancher Schalk mit Verweis auf den kindessprachlichen Ausdruck für das große Geschäft. Tatsächlich handelt es sich bei der Gruppe A um keine sonderlich attraktive. Weder verstecken sich in ihr große Fußballer, noch bietet sie einen sympathischen Geheimfavoriten; ja nicht einmal einen Exoten gäbe es da, dem man ironischerweise die Daumen halten kann. Zu Polen fällt einem erst einmal gar nichts ein, außer, dass es ein Gastgeberland ist. Aber das war Österreich vor vier Jahren auch. Russland hat seit Guus Hiddinks Abgang seine besten Zeiten erstmal gesehen; vielleicht handelt es sich aber trotzdem um die fußballerisch beste Truppe in der Gruppe A. Tschechien hatte gemeinsam mit Griechenland im Jahr 2004 das letzte große Highlight, in einem Semifinale, das meiner Erinnerung nach diese Bezeichnung nur des Turniermodus wegen verdient hat, denn weder war es schön anzusehen, noch hat es irgendwen interessiert, wer da gewinnt. Die Zeiten von Jan Koller und (einem in Form spielenden) Milan Baroš sind genauso vorbei wie jene des Silvergoals, mit dem diese Partie damals entschieden wurde.

Unspektakulärer hat eine EM wohl auch noch nie begonnen: Am 8. Juni erwarten uns nämlich die Partien Polen gegen Griechenland (das Eröffnungsspiel) und Russland gegen Tschechien. Vielleicht ist die Gruppe A gerade wegen der Ansammlung dieser Underdogs aber ganz interessant; ziemlich unvorhersehbar ist sie jedenfalls. Polen hat, wie gesagt, den (fragwürdigen) Vorteil, als Gastgeber anzutreten, Russland und Tschechien wissen, dass sie einmal gute Fußballer waren und Griechenland ist – leider muss man an dieser Stelle auf so eine Phrase zurückgreifen – immer für eine Überraschung gut. Im Endeffekt kommt es für jedes einzelne Team in der Gruppe A mehr als in jeder anderen Gruppe darauf an, wie schlecht die anderen sind. Hier steigt nicht auf, wer sich durchsetzt, sondern die Mannschaft, die durchhält. Am Ende wird es um das Torverhältnis gehen und da werden besonders die Gegentore von Relevanz sein. Ich sehe Griechenland und Tschechien mit guten Chancen – außer den Russen fällt wieder ein, wie man Tore schießt.

Das Bittere an dieser Gruppe A sind ja weniger die Gruppenspiele, die man sich ja nicht unbedingt anschauen muss, als vielmehr das Faktum, dass zwei dieser vier Teams im Viertelfinale auftauchen werden. Dort dürfen sie sich dann mit den Aufsteigern aus der Gruppe B auseinandersetzen. (Zur Erinnerung: Gruppe B, das ist die Anti-Gruppe-A, mit Deutschland, Portugal, Holland und Dänemark.) So darf man vermuten, dass man aus der Gruppe A niemanden im Halbfinale sehen wird. Und wenn mir jetzt irgendwer mit „Stolperstein für die Großen“ daherkommt, oder damit, dass Portugal schon gegen die Griechen und Holland schon gegen Russland verloren hat, dem entgegne ich ebenso binsenweise den Satz mit dem blinden Huhn und dem Korn.

Wenden wir uns lieber wieder der fußballerischen Realität zu und anerkennen wir, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass der Europameister 2012 aus der Gruppe A kommen wird. Die Realität ist aber auch, dass solche Turniere von Überraschungen leben und dass solche Überraschungen auch manchmal überraschend sympathisch sein können (s. Dänemark vor 20 Jahren). 'Faszination Fußball' kann man das großspurig nennen, und das Überraschende im Fußball ist gerade bei Turnieren wie der EM und der WM, wo alles innerhalb weniger Tage passiert, besonders attraktiv. Der ungeduldige Fußballseher, der von sich behauptet, „nur EM und WM“ zu schauen („und vielleicht noch Championsleague – ab dem Halbfinale!“), der wird wieder auf seine Kosten kommen. Popcorn-Fußball, bei uns eher Sechser-Tragerl-Fußball, bietet so eine Europameisterschaft immer. Wieder wird es die Guten und die Bösen geben, auch wenn wir uns nachher nicht mehr so sicher sein werden, wer jetzt warum die Bösen waren und warum die Guten auf einmal so schlecht gespielt haben. Die Gruppe A, ich nenne sie ab jetzt das Kondensat des Bösen, steht weniger für chronische Erfolglosigkeit (was ja schon wieder ein Sympathiepotenzial hätte und eigentlich so gar nicht richtig wäre), als vielmehr für grauslichsten Rumpelfußball sowie für technische und taktische Infinesse – oder was immer auch das Gegenteil von Finesse sein soll. Wir lieben diese Mannschaften vielleicht nicht, aber wir brauchen sie, weil sonst der Fußball zum öden bürgerlichen Trauerspiel verkommt.



Worauf wir uns freuen können:
Äähm... Mal sehen, wie die Griechen und die Russen drauf sind. Vorprogrammierte „Kracher“ gibt es in dieser Gruppe jedenfalls keine.


Bemerkenswerte Namen:


Eugen Polanski (POL): Deutsch-Pole von Mainz. Klingt erfunden, heißt aber so.

Wladimir Granat (RUS): Verteidiger von Dynamo Moskau. Ob sein Schuss hält, was sein Name verspricht, muss man erst sehen.

Ioannis Fetfatzidis (GRE): Mittelfeldspieler von Olympiakos Piräus. Ein Name wie gefährliches Essen.

Nikos Liberopoulos (GRE): Der einstige Torschützenkönig der griechischen Liga spielt im Sturm, wurde aber unter Rehakles noch als Libero eingesetzt, weil König Otto sich dachte: nomen est omen.

Theodor Gebre Selassie
(CZE): Kein Witz, der Mann spielt Fußball für Tschechien, auch wenn es sein Name nicht vermuten ließe. Sein Vater ist aber Äthiopier.

Tomáš Hübschman (CZE): Hübscher Name; bekannt von Schachtar Donezk.

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