Montag, 14. Mai 2012

Vier nach zwölf


Eine junge Frau steht vor der Weikhard-Uhr und fotografiert selbige mit ihrem iPhone. Es ist vier nach zwölf und sie ist gerade erst vor zwei Minuten gekommen. Sie wischt ein wenig aggressiv auf dem Display ihres Telefons herum. Ja, sie schickt das Foto von der Uhr bestimmt an denjenigen, der sich hier erlaubt, vier Minuten zu spät zu sein. Was für eine Geste! Befände ich mich auf dem Weg zu einer Verabredung und bekäme ich ein solches Foto, ich würde auf der Stelle umkehren. Ich stelle mir vor, wie ich durch die Straßen eilen, wie ich die Vibration des Telefons spüren und sofort einen schuldbewussten Blick darauf werfen würde, eine Klage-SMS erwartend und ohnehin schon ein schlechtes Gewissen ob meiner Verspätung habend, mir Ausreden einfallen lassend oder darüber grübelnd, ob es nicht das Beste wäre, einfach die Wahrheit zu sagen; und wie ich dann statt einer Textnachricht eine solche perfide, ja eigentlich hundsgemeine Bild-Nachricht erblicken würde, die mich nicht nur meiner Verspätung wegen mahnt, sondern die mich ganz grundsätzlich zur Pünktlichkeit erziehen will. Ich würde auf der Stelle stehen bleiben, verdutzt auf den Bildschirm starren, vor mich hin fluchen und schließlich kehrt machen. Keine Antwort würde ich schreiben, nie wieder würde ich diese Person anrufen, die mir ein Foto von der Weikhard-Uhr schickt, auf der es vier nach zwölf ist, wo doch jeder weiß, dass die Weikhard-Uhr immer ein bisschen vor geht, es also höchsten zwei Minuten nach zwölf sein kann. Ärgern würde ich mich über die Frechheit einer solchen Bild-Nachricht, ärgern darüber, dass jemand einen solchen Aufwand betreibt, der ja in Zeiten wie diesen kein großer technischer mehr ist, aber ein gedanklicher Aufwand, denn hinter solch einer Aktion steckt ja eine Idee, eine gewisse Kreativität, das muss man zugeben, ganz unkreativ ist diese Dame ja nicht, immerhin hätte sie auch ein erbostes Telefonat führen oder eine empörte Textnachricht schicken können. Stattdessen schickt sie das Foto von der Weikhard-Uhr wie ein allgemein gültiges Beweisstück an den armen Zuspätkommenden, vermutlich kommentarlos, ganz ohne Erklärung, ohne ein zärtliches „Wo bist du?“ ohne ein humorvolles „Und da heißt es immer, ich komme zu spät“ und sicherlich ohne irgendwelche Smileys, die dem Bild von der Weikhard-Uhr etwas von seiner vorwurfsvollen, bilanzierenden Wirkung nehmen könnten. Eine Kreativität der Grausamkeit würde ich das nennen, wenn ich, bereits wieder auf dem Heimweg, darüber nachdächte, eine gewisse Bewunderung für das kreative Potenzial der Dame nicht ganz verbergen könnend.

Die junge Frau steht immer noch da und sie wird immer nervöser. Ihr Hin-und-her-Getripple und das damit einhergehende unaufhörliche Klappern ihrer unverschämt hohen Absätze haben die Lästigkeit eines Spechts. Ja, die Höhe der Absätze ist genauso unverschämt wie das Foto von der Weikhard-Uhr, denke ich mir. Auf der ist es jetzt fast sechs nach zwölf. Die Person ist immer noch nicht da und sie wird, da bin ich mir ganz sicher, auch nicht mehr kommen, denn bestimmt hat sie auf dem Weg kehrt gemacht, als sie die SMS gesehen hat. Die junge Frau ist schon so nervös, dass ich zu glauben verleitet bin, ihr Verhalten habe gar nichts mehr mit der Verspätung zu tun, sondern viel eher mit Harndrang. Da macht sie auch schon kehrt und klappert von dannen. Sie ist gegangen, ohne noch einen Blick auf die Weikhard-Uhr zu werfen. Sie klappert in Richtung Sackstraße, aufgebracht und beleidigt, genauso wie die Person, mit der sie verabredet war jetzt wohl aufgebracht und beleidigt wieder auf dem Heimweg ist.

Um acht nach zwölf schlurft ein gelangweilt aussehender junger Mann heran. Er bleibt vor der Weikhard-Uhr stehen und blickt sich suchend um. Ein wenig dümmlich schaut er hinauf, vergleicht die Zeit mit seiner Armbanduhr und beschließt zu warten. Dazu steckt er die Hände in die Hosentaschen und lehnt sich an ein Schaufenster. Dort steht er ein paar Minuten, bis er um vierzehn nach zwölf sein Mobiltelefon aus einer seiner tiefen Jeanstaschen angelt. In seinem Gesicht spiegelt sich zuerst Überraschung und dann Ratlosigkeit. Er tippt ein wenig auf dem Display herum und hebt das Telefon schließlich an sein Ohr, während er sich weiter suchend umblickt. Nichts. Es kommt kein Gespräch zustande. Noch mehr Tippen, diesmal bestimmter, schneller. Dann lässt er das Handy wieder in seine tiefe Hosentasche sinken und geht weg. Es ist sechzehn nach zwölf.

Ich stehe schon eine gute Viertelstunde vor dem Weikhard und warte auf eine junge Dame, mit der ich zum Mittagessen verabredet bin. Aber er ist nicht zu spät, denn um siebzehn nach zwölf (Weikhard-Zeit) kommt sie. Ich war, wie meistens, fünfzehn Minuten zu früh. Gerne hätte ich ihr, wäre sie zu spät gewesen, ein Foto von der Uhr geschickt, nur um zu sehen, ob sie trotzdem gekommen wäre, oder ob sie umgedreht hätte. Gott sei Dank ist mir das erspart geblieben.

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