Montag, 28. November 2011

"Bist du das?" (Verwechslungskomödie im Dritten Rang)

Wir stehen im Foyer des Schauspielhauses und ich halte nach dem mir sonst so verhassten Theaterpublikum Ausschau. Nur diesmal finde ich es nicht. Ein paar Schüler in Mittelschul-Abendgarderobe, das heißt zu große oder zu kleine Sakkos bei den Burschen, die ersten Stöckelschuhe bei den Mädchen, in denen sie zu gehen noch nicht ganz gelernt haben. Ein Mittdreißiger, der seine Freundin oder Frau ins Theater ausführt: Auch er hat, wie wir, die billigsten Karten gekauft (3. Rang!) und hofft auf einen unvergesslichen Theaterabend. Doch wenig überschminkte und überparfümierte ältere Damen in Pelzmänteln, auch höre ich wenig österreichisches Städter-Deutsch, jene Sprache, deren Sprecher meinen, sie klängen besonders elegant und gebildet, wobei sie doch eigentlich nur arrogant und kleingeistig klingen.

Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, dass nicht mehr typisches Theaterpublikum anwesend ist. Aber immerhin wird ja heute Thomas Glavinic gespielt und kein Thomas Bernhard oder – publikumstechnisch noch schlimmer – Schiller oder Shakespeare. Es wird ein – im Vergleich zum typischen Theaterpublikum - „junger“ Autor gespielt, der nicht unter den Verdacht der übermäßigen Intellektualität fällt, was vermutlich nicht nur ihm, sondern auch mir als Theaterbesucher ganz recht ist. Auch versucht er sich nicht als ein solcher zu inszenieren, was er vielen seiner Zeitgenossen voraus hat. Nach Lektüre seines Romans „Das bin doch ich“ erwartet man sich von der Bühnenversion etwas Frisches, Kabarettartiges, ein wenig Klamauk, vor allem aber Humor, damit den Schülern und auch uns, die wir allesamt schon lange nicht mehr im Schauspielhaus gewesen sind, das Theatergehen nicht ganz so schwer fällt.

Wer schon einmal im „3. Rang“ des Grazer Schauspielhauses gesessen ist, weiß, dass man dort oben erstens keine Höhenangst haben darf, zweitens gute Augen braucht und drittens auf Sitzkomfort keinerlei wert legen sollte. Aber zum Studentenpreis von 7 Euro wird man sich auch nicht beschweren dürfen. Wir sitzen in der ersten Reihe und wenn wir uns ein bisschen über die Brüstung schieben, sehen wir fast die ganze Bühne. Einzig jener Teil der Lichtanlage, der hier vom dritten Rang die Bühne erleuchtet, blockiert mir die Sicht auf den halbrechten Bühnenrand. Solchen Einschränkungen begegnet man am besten mit Arroganz („Brauch ich eh nicht“) oder altösterreichischem Alltagsfatalismus („Man kann eben nicht immer alles haben“). Ich tröste mich außerdem damit, dass ich auf meinem Sitzplatz die Arme auf die Brüstung legen und so in der Art eines Thomas Bernhard betont gelangweilt dem Geschehen auf der Bühne beiwohnen kann. Bernhard lümmelte bekanntlich gerne bei den Proben seiner Stücke im Burgtheater in der Loge. Dort ließ er sich zu bösen Texten über das Burgtheater im Allgemeinen, und die Burgtheaterschauspieler im Besonderen inspirieren. Die waren nämlich seiner Meinung nach alle schlecht. Außer die, die gut waren, und nur diese durften seine Stücke spielen.

Im Theater ostentativ lümmeln: Das wäre meine persönliche Rache am gespreizten Theaterpublikum. Dass davon heute zu wenig da sind, wurmt mich jetzt wieder ein bisschen. Dafür deutet der Mittdreißiger, den ich mit seiner Freundin zuvor im Foyer gesehen habe, auf mich. Leider kann ich seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob er seine Begleitung etwas entrüstet darauf aufmerksam macht, dass hier jemand lümmelt, oder ob er mir neidig ist, dass ich meinen Kopf auf ein sanftes Ruhekissen aus Ärmeln betten kann, welches, von der Brüstung gestützt, den komfortabelsten Theatergenuss verspricht, den der dritte Rang zu bieten hat. Gut, dass er nicht sieht, wie ich meine Beine zwischen Sitz und Brüstung quer legen muss, um meinen Oberkörper nahe genug an den Balkon zu bekommen. Mit Komfort hat das nämlich wenig zu tun. Aber man gewöhnt sich daran, so wie man sich im Flugzeug an die zu engen Sitze gewöhnt, schon allein deswegen, weil man keine andere Wahl hat.

Warum sind wir eigentlich hier? Weil Thomas Glavinic uns in seinen Roman hineingeschrieben hat und wir deswegen neugierig sind, wie die Szene auf der Bühne verarbeitet wird. Aitzerl, der Kellner aus jenem Grazer Lokal, das der Szene im Buch als Vorbild dient, hat gesagt, dass, wenn er sich selbst als Figur auf der Bühne entdeckt, er im Theatersaal aufspringen und „Das bin doch ich!“ schreien wolle. Was zunächst nach einer ganz witzigen Idee geklungen hat, wirft jetzt, da wir tatsächlich im Theater sitzen, doch einige praktische Fragen auf. Was, wenn ihn gar keiner hört, weil dieser Satz vom dritten Rang gerufen vermutlich akustisch gar nie seinen Weg ins Parterre findet? Und falls doch: Wie soll der Rest des Publikums den aufgesprungenen Aitzerl erkennen? Von unten sieht man doch über den Balkon des dritten Rangs gar nicht drüber. Vielleicht ließe sich noch ein empört erhobener Finger erkennen. Aitzerl müsste sich, um erkannt zu werden, den Oberkörper auf die Brüstung legen und nach unten schauen, dem Foyerpublikum geradewegs in die erstaunten Gesichter. Und dazu müsste er einen Finger fuchtig nach vorne strecken. Dann allerdings würden die Theaterbesucher im Parterre womöglich glauben, er versuche sich an einer Nachstellung dieser Türkenfigur, die sich aus einem Sims des Palais Saurau in der Sporgasse lehnt. Und wenn sie ihn dann sehen, was dann? Hören die Schauspieler zu spielen auf? Erwartet Aitzerl sich Zurufe wie „Was, echt?“, „Oag!“ oder „Geil!“? Über solche Dinge sollte man sich aber gar keine Gedanken machen. Das große „Was dann?“ hat ja schon zu viele gute Ideen im Keim erstickt.

Das Stück fängt an wie eine Lesung. Nach etwa zwei Minuten vergesse ich, dass es sich um ein Theaterstück handelt und folge gespannt dem Text, den der Schauspieler, der Thomas Glavinic darstellt, vorliest. Ein wenig enttäuscht bin ich dann, als das Stück dann tatsächlich los geht, als die Figur Thomas Glavinic die Lesung unterbrechen muss, weil ein Teil der Bühne auf einmal von selbst nach oben fährt. Schade, jetzt ist die Lesung vorbei... Und das mit der Bühne, naja. Aber irgendwie muss es doch „anfangen“. Recht schnell verwandelt sich das Stück in eine irre Achterbahnfahrt durch den Alltag eines allzu menschlichen Autors, der sich von Dusche zu Dusche und von einem alkoholischen Getränk zum nächsten hantelt, während er dazwischen von allerlei lästigen Mitmenschen belagert und genervt wird. Das ganze ist auf der Bühne höchst unterhaltsam umgesetzt: Das Leben als permanentes Kasperltheater der sozialen Unannehmlichkeiten. Die Verdichtung von Raum und Zeit und die Zusammenführung von realem Geschehen und Innenleben der Hauptfigur auf der Bühne lässt den Theaterbesucher die allgegenwärtige beklemmende Lästigkeit der Welt sehr gut nachempfinden. Wir werden gut unterhalten und freuen uns schon auf die Szene, die in dem Grazer Lokal spielen soll.

Dann ist es soweit. Thomas Glavinic (also die Figur) befindet sich in Graz und geht zu einer Ausstellung seines Freundes Erwin Michenthaler in dieses Grazer Lokal: Wir, die Theaterbesucher, die sich sonst aus eben jenem Lokal kennen, in welchem Thomas Glavinic vor Jahren gewesen sein soll, was wir damals nicht gewusst haben, was uns aber eben jener Erwin Michenthaler bestätigt hat, sitzen im dritten Rang des Grazer Schauspielhauses. Tumult auf der Bühne, Glavinic (die Figur!) ist im Lokal, er wird angetanzt und betatscht und eine Frau kreischt „Child in Time“ von Deep Purple. Die Frau, die hier dargestellt wird, kennen wir natürlich und sie hat jahrelang nicht gewusst, dass sie in einem Roman vorkommt. Heute ist sie im Theater nicht dabei (also als Figur schon, aber nicht als Zuseherin). Ich glaube, sie ist beleidigt. An dem Abend, an dem sie erfahren hat, dass sie eine Roman- und Theaterfigur geworden ist, war sie erstens böse auf Aitzerl, weil er ihr das nie gesagt hat. Der Roman ist immerhin bereits 2007 erschienen. Zweitens war sie böse auf Thomas Glavinic („Was glaubt denn der eigentlich? Darf denn der das? Dem werd ich was erzählen!“). Wir haben ihr gesagt, sie soll mit uns ins Theater gehen und dann bei der Lokal-Szene selbst aufstehen und zu schreien beginnen, damit die Leute wissen, wer das wirklich ist. Hat sie aber nicht gemacht. Deswegen haben wir heute nur einen dabei, der aufspringen und „Das bin doch ich!“ schreien kann – den Aitzerl.

Das soll bei der Armdrück-Szene passieren, in der Thomas Glavinic (die Figur) mit Tolya (die Figur von Aitzerl) Arme drückt. Gleich muss es soweit sein. Jemand schreit auf der Bühne „Armdrücken!“ und man sieht, wie die Figur des Thomas Glavinic mit zwei anderen Figuren gleichzeitig armdrückt. Was soll das? Das passt jetzt überhaupt nicht in die Szene! Der soll doch mit Tolya Arm drücken! Aitzerl sitzt aufrecht und unschlüssig in seinem Sitz am dritten Rang und starrt auf die Bühne hinab. „Jetzt!“, rufen wir ihm zu. Auf der Bühne rangeln die Figuren armdrückenderweise mit einander. Gleich wird das vorbei sein. Mir ist die Szene immer noch rätselhaft. Im Buch war das irgendwie einleuchtender. Das Gerangel auf der Bühne ist völlig deplatziert. Etwa so deplatziert wie jetzt ein Aufspringen und „Das bin doch ich!“-Rufen von Aitzerl wäre. Doppelt deplatziert nämlich. Erstens, weil es sich nicht gehört und zweitens, weil es gar nicht stimmt.

Die Figuren lösen sich von einander, der Glavinic-Schauspieler stolpert rückwärts. Wen die beiden anderen Schauspieler gerade dargestellt haben, lässt sich schwer sagen. Einer davon muss Tolya, also Aitzerl, gewesen sein. Vorbei, die Szene ist vorbei. Es ist zu spät. Eigentlich ist gar nichts passiert, wir sind immer noch völlig überrascht davon, dass die Armdrück-Szene so ganz anders dargestellt wurde. Und wir fragen uns, was sie in dieser Form auf der Bühne verloren hat. Etwas ratlos schaue ich zu Aitzerl rüber, der in diesem Moment aufspringt und schreit: „Aber das war doch gar nicht ich!“

Der Glavinic-Schauspieler richtet seinen Blick kurz in das Dunkel des Raums. Auf die Idee, dass der Satz vom dritten Rang gekommen sein könnte, kommt er gar nicht. Er hat sich nur leicht aus dem Konzept bringen lassen und setzt seinen Monolog gleich wieder fort. Ein paar ältere Damen (Theaterpublikum! Endlich!) im Parterre blicken sich suchend um, schauen in die Logen und wissen gar nicht, wie falsch sie da liegen. Der Mittdreißiger und seine Freundin lachen kurz, Aitzerl dreht sich entrüstet zu ihnen um und sagt aufgebracht: „Aber das hätt doch ich sein sollen!“ Ein paar andere Zuseher auf dem dritten Rang schütteln die Köpfe, eine Dame hinter Aitzerl sagt im reinsten Städter-Deutsch: „Geh, setzen’s Ihnen wieder hin!“ Aitzerl bemerkt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, die Nicht-Identität zwischen Figur und ihm festzustellen, und setzt sich wieder. Den Rest des Stückes verfolgt er Fingernägel kauend.

„Blöd war das“, sind wir uns dann im Foyer einig. Die Armdrück-Szene wurde nicht zu unserer Zufriedenheit dargestellt. „Ich hätt auch nicht aufspringen sollen“, sagt Aitzerl ein wenig geknickt. Wir sagen ihm, dass es gut und richtig gewesen wäre, aufzuspringen, wenn er, Aitzerl, in der Figur des Tolya tatsächlich auf der Bühne aufgetreten wäre. Aber so war es halt ein bisschen seltsam. Die Feststellung eines Zuschauers, so der Konsens, dass es sich bei der Figur auf der Bühne NICHT um ihn handelt, hat einfach keinen Exklusivitätsanspruch. Das könnte ja jeder von sich behaupten und zwar bei jedem Stück. Und das Stück heiße nunmal „Das bin doch ich!“ und nicht „Das bist doch du!“.

Auf dem Weg in das nächstgelegene Lokal, in das wir gehen, um den doch sehr gelungenen Theaterabend zu beschließen, denke ich mir, wie das für Thomas Glavinic gewesen sein muss, als er das Stück zum ersten Mal gesehen hat. Wer, wenn nicht er, hätte die Lizenz zum „Das bin doch ich!“-Schreien? Aber wenn dann ein Autor, der Thomas Glavinic heißt, in einem Stück sitzt, das auf einem Roman basiert, den er über einen Autor, der Thomas Glavinic heißt, geschrieben hat, und dann dem Schauspieler, der die Figur Thomas Glavinic spielt, zuruft, dass das doch er, nämlich Thomas Glavinic selbst, sei, dann hat mir das persönlich zu viele Ebenen, auf denen sich jeweils mindestens zwei Katzen gegenseitig in den Schwanz beißen. Und das wäre dann lächerlich und deswegen hat das Thomas Glavinic wohl auch nicht gemacht. Dann lieber ein Kellner, der sich selbst im Stück wider Erwarten NICHT wieder erkennt, und dann betroffen feststellt: „Aber das bin doch gar nicht ich!“

1 Kommentar: