Dienstag, 15. November 2011

Herbstobst und Heine

Im traurigen Monat November war’s
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber. 

Das schrieb Heinrich Heine irgendwann einmal in Paris. Es ist der Beginn zu seinem sehr langen Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen. Warum Heine ausgerechnet im November nach Deutschland reisen wollte bzw. wie er darauf kam, dass irgendwer im November größere Reiselust verspüren und sich dann als Destination ausgerechnet Deutschland aussuchen würde, bleibt rätselhaft. Im November reist man nicht, und wenn, dann in wärmere Gefilde, wo auch die Tage nicht so trübe sind und es Bäume gibt, von denen höchstens Pinienzapfen oder Kokosnüsse fallen.

Wir machen es uns im traurigen Monat gerne daheim gemütlich. Besser gesagt: Wir versuchen es uns so gemütlich wie möglich zu machen, und das im Drinnen, weil das Draußen uns von Tag zu Tag unwirtlicher wird. Obwohl das heuer auch nicht ganz richtig ist. Der diesjährige November verhöhnt uns mit Sonnenschein bis zu den Mittagsstunden, um dann schon am frühen Nachmittag dämmrig zu werden. Wir flüchten alsdann in schummrig beleuchtete Kaffeehäuser, in die bereits geöffneten Glühweinschenken oder bleiben zu Hause und blicken traurig aus unseren Fenstern, in die wir verzweifelt Aromakerzen stellen oder depressives Herbstobst legen.

Zu Mittag aber sieht man noch viele Menschen im Stadtpark mehr oder weniger fröhlich ihre Herbstspaziergänge erledigen. Studenten machen Fotos von den am Boden liegenden Blättern des Ginkgo-Baums, weil die so schön gelb sind. Andere stellen sich in einen Laubhaufen, werfen Blätter in die Höhe und lachen, wenn ihnen das Laub auf Kopf und Mantel fällt. Sie hoffen, dasselbe in zwei Monaten mit Schnee machen zu können. Auch davon wird es wieder Fotos geben. Es werden die selben wie letztes Jahr sein. Herbst 2010, Herbst 2011, Herbst 2012...

Der Rest ist Traurigkeit. Schon zu Beginn des Novembers gedenkt man der Verstorbenen, steht andächtig und ob der manchmal noch warmen Temperaturen schwitzend am Friedhof. Es will doch der neue Herbstmantel ausgeführt werden, auch wenn es tagsüber noch 20 Grad hat. Die Tage aber werden trüber, die Gedanken auch. Also stürzt man sich in die Arbeit oder liest die erbaulichen Werke des diesjährigen Bücherherbstes.

Bald schon, wenn die Adventszeit beginnt, werden die düsteren Gedanken aber von den vielen Lichtern und der Weihnachtsmusik verscheucht. Da beginnt wieder unser aller liebster „Stress“ im Jahr und wir haben ohnehin keine Zeit mehr, um Trübsal zu blasen. Ich frage mich, was die Menschen früher gemacht haben. Es muss eine furchtbare Zeit gewesen sein, die Monate zwischen November und Februar. Deswegen hat man wohl auch alles mit religiösen Ritualen voll gestopft – einerseits aus Angst, den Winter nicht zu überleben, andererseits, um die bösen Geister zu vertreiben.

Heutzutage rettet man sich mit Glühwein- und Kaufrausch sowie mit allerlei Absonderlichkeiten wie Kekse backen oder Betriebs-Weihnachtsfeiern ins neue Jahr. Jeder, der diese Zeit noch „besinnlich“ nennt, ist sich der Ironie seiner Rede bewusst. Manch einer nennt es auch „berinnlich“ und kichert dabei blöde, obwohl die Wahrheit, die in diesem Kalauer steckt, die bitterste ist. Die Weihnachtszeit ist überhaupt nicht besinnlich; auch nicht die Vorweihnachtszeit. Wenn, dann ist es die Zeit vor der Vorweihnachtszeit: der traurige Monat November nämlich. In dem ist der Mensch ganz auf sich selbst „zurückgeworfen“, wie es dem größten Existenzialisten das reinste Vergnügen wäre.

Die Verzweiflung darüber, mit sich selbst nichts anfangen zu können bzw. die Ratslosigkeit dem eigenen Dasein gegenüber ist der Nullpunkt der menschlichen Erfahrung. Und diesen Nullpunkt erreichen wir immer so in der Mitte des Novembers, weswegen uns der Vorweihnachtsfirlefanz sehr gelegen kommt. Auch, wenn wir es nicht gerne zugeben. Also können die Glühweinstände gar nicht früh genug aufsperren, die Nikoläuse am besten schon ab Oktober wie die reinsten Ölgötzen in den Lebensmittelgeschäften stehen und die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen ist uns zwar energieökonomisch verdächtig, kommt uns aber gerade recht, wenn wir bereits um drei Uhr Nachmittag auf ansonsten dunklen Straßen herumschlurfen müssen.

Sollten wir in diesen Tagen auf die Idee kommen, eine Reise zu machen, wir würden bestimmt nicht nach Deutschland fahren wollen, wie es dieser Heine anscheinend einst getan hat. Und wenn, dann besuchen wir den Nürnberger oder den Augsburger Christkindlmarkt. Auf jeden Fall einen Christkindlmarkt in einer mittelalterlichen Stadt, wo es guten Lebkuchen und ansonsten die gleichen Punschstände und ein ähnliches Weihnachtsbrimborium wie auch bei uns gibt. Obwohl wir dann eigentlich auch gleich daheim bleiben könnten... Am Fenster. Mit Duftkerze und Herbstobst.

2 Kommentare:

  1. Reisen? Zum Beispiel nach New Orleans: Gestern hab ich in meinem Apartment die Klimaanlage wieder eingeschalten - der Thermostat vermeldete 79 Grad Fahrenheit um 18:00. Meine übliche Herbst-Winterdepression ist ganz aus dem Gleichgewicht geraten und hat sich einfach geschlichen.

    In der Reihe Österreichs öder Wintermonate hasse ich aber den Februar am meisten. Im November freut man sich ja normalerweise, endlich nicht mehr das Haus verlassen zu müssen weil es gottseidank endlich schiach genug ist um in Winterschlafmodus umzuschalten, im Dezember ist es mehr als sonst sozial akzeptiert, um 17:00 einen sitzen zu haben und sich enormen Vanillekipferl-Speck anzufressen, im Jänner gibts immer noch das Schifahren, aber im Februar lauern gleich zwei Grauen: 1) es wird einfach nicht Frühling, und fast schlimmer 2) Fasching. An einem grauen, kalten, matschigen Tag fernsehend noch vom Villacher Fasching überfallen zu werden, ist wohl das schlimmste, was passieren kann. Wäre ich du, ich würde das Herbstobst einlagern und im Februar auf meinem Couchtisch platzieren, um im Notfall per Bombardement des Fernsehers das sichere Abdriften in den Wahnsinn ein wenig hinauszuzögern zu können.

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  2. Tatsächlich ist auch der Februar nicht unbedingt mein Lieblingsmonat. Vorrangig wegen des vielen Drecks, der herum liegt. Es lässt sich aber hie und da doch noch ganz vernünftig Schi fahren, zumindest bis Mittag, danach kann man ja auf Hütten sitzen und dem Schnee beim Schmelzen zusehen.
    Fasching? Haha, du hast leicht reden mit deinem Mardi Gras. Aber auch das dauert bei uns im Grunde genommen nur einen Tag (der schlimm genug ist!), dann ist auch das wieder vorbei. Und fernsehen tu ich sowieso schon lange nicht mehr... :-)

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