Mittwoch, 5. Dezember 2012

Der Poet

In der U-Bahn-Station steht ein frisurloser Student. Es handelt sich um einen von jenen Studenten, die unbedingt zeigen müssen, dass sie Studenten sind. Er ist fast zwei Meter groß, zumindest würde er diese Höhe erreichen, stünde er gerade. Aber sein Nacken ist geknickt wie der eines Aasgeiers - vermutlich ob der Schwere der Gedanken, die in seinem Kopfe kreisen. Außerdem hat er einen dieser übergroßen Kopfhörer auf, um damit Indiemusik zu hören und sich gegen den traurigen Alltag einer Wiener U-Bahn-Station abzuschirmen, mit dem er so gar nichts anfangen kann, seitdem er sich das Gesamtwerk Sartres besorgt hat, das er nie lesen wird, und er einen Blick in die Vorrede von Kants Kritik der reinen Vernunft geworfen hat, wovon er naturgemäß nichts verstanden hat.

Seine Mode ist modisch im weitesten Sinne: Das, was Studenten halt so tragen, wenn sie Geschmack vorschützen wollen. Die Hose ist gelb, die Jacke irgendwas Braunes und die Schuhe sind eben cool. Die unvermeidliche Umhängtasche strahlt dieselbe Lustlosigkeit aus wie sein Gesicht. Er ist gerade erst aufgestanden. Nicht, weil der Schlaf sich seiner erschöpften Forschernatur bemächtigte und Morpheus ihn nicht mehr hergeben wollte, sondern einfach deswegen, weil Studenten das halt so tun: Sie schlafen lange. Eine Brille hat er auch auf, so eine mit dickem schwarzen Rahmen. Nicht, weil es modern ist, sondern weil es einfach stimmt. Man braucht dickrandige Brillen, denn der Student studiert bestimmt die Geisteswissenschaften. Und zwar alle. Er hat mindestens sieben Studienrichtungen inskribiert und unterliegt noch den zwei großen Täuschungen der Universität: nämlich der Idee, dass man alles schaffen könne, was man sich vornimmt, auch wenn das bedeutet, dass man im Semester ca. 15 Klausuren und 5 Seminararbeiten zu schreiben hätte; und zweitens, dass alle Studienrichtungen interessant wären und man überall etwas Anderes und völlig Neuartiges lernen könnte.

Seine schlechte Haltung lässt mir das Kipferl im Magen rotieren. Gekrümmt steht er an der Wand, mit einem Fuß wippt er leicht zum Takt seiner Musik, traurig schaut er auf die Gleise. Endlich kommt die U-Bahn. Ich sitze ihm schräg gegenüber und bin gespannt, welches intelligente Buch der junge Herr gleich aus seiner Tasche ziehen wird. Zu meinem allergrößten Vergnügen holt er ein Notizbuch hervor! Es ist von Moleskine und freilich noch völlig unbenützt. Der Student schlägt es auf der zweiten Seite auf, die erste scheint leer zu sein. Jetzt zückt er einen Stift und schaut sehr ernst durch das Fenster in den dunklen U-Bahn-Schacht hinaus. Inspirierende Schwärze, singe mir! Er senkt den Blick bedächtig auf das Papier und lässt die Spitze des Stiftes eifrig über dem Papier nicken - als würde er anvisieren, den richtigen Schwung abwarten. Gleich, gleich müsste es kommen, das erste Wort, der wichtige Gedanke zu einer neuen Großstadtliteratur, das philosophische Stichwort, der Auftakt zu einer Sonate der jugendlichen Wehleidigkeit, der Anfang von etwas ganz Großem, von etwas noch nie Dagewesenem, das noch aufgeschrieben werden muss, bevor die Welt vergeht! ... Nichts. Der Blick sucht wieder den Schacht, der Stift hört auf zu nicken.

Ich muss schmunzeln. Da glaubt noch einer an die inspirierende Kraft des weißen Papiers! Er hatte genau gar keinen Gedanken in seinem Kopf, als er zum Notizbuch griff. Nicht einmal ein Wort hätte er hinschreiben können, nichts wäre ihm eingefallen, das ein paar Quadratzentimeter seines feinen Büchleins wert gewesen wäre. Stumm sitzt er jetzt da. Er schweigt, der Stift schweigt, ja sogar der Kopf schweigt jetzt wahrscheinlich. Da, wieder! Der Blick senkt sich erneut, diesmal weniger optimistisch, ein bisschen traurig gar. Auch der Stift fängt wieder an, seine abwarteten Bewegungen zu machen. Es ist alles angerichtet, mein Freund! Schreib nieder! Notier! Dichte! Das alles will ich ihm zurufen und weiß genau, es wäre nur der neiderträchtigste Hohn, der aus mir sprechen würde.

Der Student wird erlöst. Es ist seine Station, die Universität. Hurtig packt er das leere Notizbuch und seinen Stift wieder in die Umhängetasche. Wieder ist er davon gekommen. Jeden Tag zwei Stationen Inspirationslosigkeit wünsche ich ihm und folge ihm. Im Gewimmel der anderen Studenten verliere ich seinen Lockenkopf. Ich werde abgelenkt von anderen, noch fragwürdigeren Frisuren und Barttrachen. Ockhams Rasiermesser fällt mir ein. Mit so einem müsste man durch die Universität gehen und die Inspiration in die Köpfe lassen, indem man sie vom fragwürdigen Wulst zerzauster und verfilzter Haare befreit. Gar garstige Gedanken sind das, ich weiß! Aber Ockham, oh, er würde mir beipflichten!

Ich folge meinem schlechten Gewissen und nähere mich einem Stand der Grünen. Volksbegehren gegen Korruption! Ja, das klingt gut. Ich bin gegen Korruption, ich begehre! Ich begehre und unterschreibe. Am liebsten möchte ich gleich erlöst werden - nur eine Unterschrift genügt und mir sind meine garstigen Gedanken verziehen. Gegen Korruption! Wer kann da nicht ja sagen? Ein großes JA ankreuzen? Volksbegehren gegen Korruption, gegen Sittenverfall und Amoral! Ich möchte ein generelles Volksbegehren gegen "unfair". Gegen alles, was unfair ist, möchte ich begehren. Oder besser noch: Eine Volksabstimmung zum Thema: "Fair oder nicht fair?" Das wäre die ultima ratio der Politik. Wenn nichts mehr geht, fragen wir die Leute einfach mal, ob sie eigentlich wollen, dass es fair zugeht im Staate Österreich, oder ob eh alles blunzn ist.

Alles ist gut. Wir haben Wasser, steirische Äpfel, Mozartkugeln und die Donau. Wir fahren Geländewagen in Großstädten, trinken in der Adventszeit Glühwein bis zum Erbrechen und singen und frohlocken unterm Plastik-Christbaum. Vor allem aber haben wir den ORF und den freien Hochschulzugang, fesche Politiker und alte Schillingscheine in Matratzen versteckt. Wir brauchen also keine besonders inspirierten Studenten in U-Bahnen. Das macht alles nichts. Der Mensch in der Krise, wenn er das Designer-Notizbuch gezückt hat und ihm nichts einfällt: Den können wir uns gerade noch leisten! Es geht uns gut.

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