Donnerstag, 26. Januar 2012

Beschreitung der Sporgasse

Die Grazer Sporgasse hat eine recht ungemütliche Neigung bzw. Steigung, je nachdem, von welcher Seite man kommt. Geht man sie hinauf, ist sie gerade so steil, dass man bei geschwindem Gehen außer Atem kommt. Geht man sie hinunter, ist sie gerade so abschüssig, dass man in dieses mühselige Bergab-Schlapfen gerät, wie man es von müden Wanderern kennt, die lust- und kraftlos vom Berg zurück kommen. Insgesamt und überhaupt ist die Sporgasse, zumindest was ihr Abschreiten betrifft, ein Graus – egal von welcher Seite man kommt.

Diesmal schlapfe ich die Sporgasse hinunter und höre schon von weitem das kratzige Geschrammel des Blues-Gitarristen mit dem schwarzen Hut – jeder Grazer kennt ihn. Obwohl mich sein Handwerk nicht immer ganz überzeugt, finde ich ihn immer noch besser als die zahnlose Frau, welche – man verzeihe mir ein Vorurteil ob meiner Uninformiertheit – vermutlich aus Rumänien stammt, und sich nicht nur in osteuropäischen Volksweisen ergeht, sondern hie und da selbst einen Blues versucht. Das ist zwar von jener gemütlichen Absonderlichkeit, die sich, so scheint mir, gerade in Graz an vielen Ecken erleben lässt, und die den Charakter solcher mittleren Städte ausmacht: noch nicht ganz urban, aber auf einem langen und beschwerlichen Weg dorthin, bereit, alles hinzunehmen, was einer gewissen „Buntheit“ zuträglich ist, mit der man sich, von der Provinz eitel abhebend, schmücken kann; künstlerisch ist das Spiel der Dame jedoch mindestens fragwürdig. Ein wenig erinnert sie mich an die weißrussische Frau, die mit einer Glühbirne Slide-Gitarre spielt.



Neben diesen Grazer Blues-Größen sieht man in der Sporgasse auch oft Stadt-Damen in Pelzen. Gerade wankt eine solche aus einer Boutique heraus. Sie wankt nicht etwa, weil sie betrunken ist, sondern weil solche Damen immerzu wanken – gerade in der steilen Sporgasse. Die Stadt-Damen trotzen nämlich dem Alter und bestehen weiterhin darauf, offensichtliche körperliche Verschleißerscheinungen stur ignorierend, sich in möglichst eleganten Stöckelschuhen zu zeigen. Den überaus unglücklichen und teilweise absurden Szenen, die sich deswegen auf Kopfsteinpflastern und bei Straßenbahneinstiegen abspielen, wäre ja einiges an Humor abzugewinnen, wenn sie nicht traurige Testamente des Altersstarrsinns wären. Angestrengt müssen diese älteren Damen immerzu auf ihre Füße starren und aufpassen, wo sie hinsteigen. So kann es vorkommen, dass die Sporgasse zu manchen Zeiten von wankenden, gebückten Damen in Kamelhaarmanteln geradezu übervölkert ist, die mühevoll von ihrer Innenstadtwohnung Richtung Kaffeehaus stolpern. Sie treffen sich alle in den hinteren Räumen des Cafès Sacher (denn das Erzherzog Johann gibt es ja nicht mehr), und in diesen mit rotem Samt ausgekleideten Zimmern schimpfen sie dann über Ausländer, die Jugend, die Stadtregierung und darüber, dass das Brot schon wieder teurer geworden ist.

Es kommt mir ein Mann entgegen, der den Blick eines besorgten Glaziologen trägt. Er scheint vor sich hin zu murmeln, bleibt plötzlich stehen, dreht sich um und marschiert wieder Richtung Hauptplatz. Nach etwa zehn Metern bleibt er wieder stehen, dreht sich erneut um und geht wieder in meine Richtung. Diesmal sieht er noch besorgter aus. Jemand wie er, denke ich, weiß Zeichen zu deuten. Dieser Mann liest am Morgen die Zeitung und stellt dann fest, dass er Grund zur Sorge hat – nein, dass überhaupt Grund zur Sorge besteht. Also nicht nur für ihn, sondern für alle und jeden. Dann fährt er in die Arbeit und begutachtet dort Messdaten von Gletschern (oder was auch immer Glaziologen sonst machen). Erneut muss er feststellen, dass Grund zur Sorge besteht. Er macht aber daraus keine Panik, sondern kummert bloß ein wenig vor sich hin und in sich hinein – jedoch nicht zu viel, denn depressiv ist der Mann auch nicht. Er ist aber ernst und weiß, dass Grund zur Sorge besteht. Vielleicht ist es das, was ihn jetzt in der Sporgasse wirr und überaus besorgt dauernd seine Richtung ändern lässt. Fast hätte mich seine Besorgnis angesteckt, ich habe meinen Blick aber rechtzeitig abgewandt und gehe schnell weiter.

Spätestens als ich am Hauptplatz ankomme, kommt die Besorgnis, der ich gerade noch entkommen war, ganz von alleine auf mich zu. Ich möchte gar nicht davon reden, dass sie mich beschliche. Nein, sie kommt auf mich zu, packt mich am Arm, dreht ihn mir auf den Rücken und führt mich schnurstracks die Murgasse entlang Richtung Hauptbrücke und erst dort lässt sie mich wieder los, verabschiedet sich freundlich von mir, kehrt wieder um und geht auf den Hautplatz zurück, wo sie dann andere Leute befallen wird. Nicht umsonst geht man, vom Karmeliterplatz aus gesehen, auf den Hautplatz „hinunter“ - geradewegs in die Hölle sozusagen. Unbarmherzig treibt einen die steil abfallende Sporgasse auf den Hautplatz hinunter. Und nur mühsam lässt sich vom Hautplatz her die relative Ruhe des Karmeliterplatzes erreichen. Es wird einem nichts geschenkt in Graz, könnte man sagen. Die Sporgasse steht dafür Pate – und ihre Beschreitung (von der einen Richtung oder der anderen) ist kein Honigschlecken!

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