Dienstag, 13. Dezember 2011

Kopernikanische Wende

Auf der anderen Straßenseite wartet ein Mann mittleren Alters und zweifelhafter Natur an der Ampel. Er sieht aus wie jemand, der älter aussieht, als er ist. Vielleicht aber täusche ich mich und es handelt sich um einen Mann höheren Alters. Jedenfalls macht er auf mich einen etwas verwirrten Eindruck. Sein ungekämmtes, nach allen Richtungen hin abstehendes Haar trägt nicht wirklich dazu bei, ihm irgendeine Art von Vertrauen entgegen zu bringen; noch weniger tut dies sein etwas entrückter Blick. Darüber hinaus brabbelt er vor sich hin, spricht, als ob er jemanden rügen würde. Ich beruhige mich, indem ich mir einrede, der Mann spräche mit jemandem am Telefon und hat, wie so viele Zeitgenossen es haben, irgendwo ein Headset, ein Mikrofon an einem Kopfhörerkabel oder sonst irgendeine andere technische Vorrichtung, die ihm das Telefonieren erlaubt, ohne dass er dazu seine Hand benutzen müsste.

Vor ein paar Jahren schossen nämlich diese Freisprechvorrichtungen wie die Schwammerln aus dem Boden. Plötzlich sah man überall Menschen herumspazieren, die scheinbar mit sich selbst die angeregtesten Unterhaltungen führten. Es dauerte eine Weile, bis man sich an die irr vor sich hin sprechenden Leute gewöhnt hatte, doch irgendwann hielt man das für ganz normal. Radfahrer fuhren schimpfend an einem vorbei, in Supermärkten diskutierten einkaufende Damen die letzten Entwicklungen in ihren Freundeskreisen, während sie im Kühlregal die Ablaufdaten der angebotenen Produkte prüften und an Verkehrsampeln saßen einsame Autofahrer in ihren Fahrzeugen und diskutierten, teilweise wild gestikulierend, geräuschlos mit einem unsichtbaren Gegenüber.

Dabei kamen sie sich alle wahnsinnig pragmatisch vor und hatten plötzlich Hände frei, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Wenn, dann drückten und wischten sie ohnehin auf ihren Mobiltelefonen herum - die Freisprecheinrichtung hatte also nur den Sinn, dass man während des Telefonierens das Handy für andere Zwecke verwenden konnte. Manche trugen auch das Handy wie eine milde Gabe vor sich her, als wären sie einer der heiligen drei Könige und wollten dem Jesuskindlein zur Geburt ein iPhone schenken, um es von der Langeweile im Stall zu Bethlehem zu erlösen. Andere hielten sich das am Kopfhörerkabel befestigte Mikrofon derart umständlich vor den Mund, dass man sich darüber wunderte, ob nicht das einfache Ans-Ohr-Halten die elegantere und praktischere Lösung gewesen wäre. Die ganz wichtigen hatten ein Bluetooth-Headset und also nur einen kleinen Bügel am Ohr befestigt und wirkten damit sehr wallstreetig. Da man sich damit aber lächerlich macht, wenn man einem Bekannten ein Keksrezept ansagt, anstatt wichtige geschäftliche Dinge zu besprechen, ist das Bluetooth-Headset bald wieder aus dem Alltag verschwunden.

Überhaupt scheint mir, dass nun wieder mehr Leute sich trauen, das Handy ans Ohr zu halten. Man wusste ja lange nicht, wie sich das mit der sogenannten "Handystrahlung" genau verhielt. Eigentlich weiß man das auch jetzt noch nicht. Aber man ist draufgekommen, dass man es vielleicht doch aushält, während eines Gesprächs mit einem Freund oder einer Freundin nicht mit dem Smartphone spielen zu können. Außerdem war das ganze Kabelzeugs dann halt doch nicht so der Bringer: Jahrzehntelang arbeitete man daran, antennenlose Schnurlostelefone zu entwickeln, um sich dann erst recht wieder Schnüre in die Telefone zu stecken. Und: Mit einem Handy am Ohr kann man glaubwürdiger so tun, als telefoniere man mit jemandem, wenn man in Wirklichkeit nur dem Gespräch mit einer unangenehmen Person in der Nähe entgehen will. Man stelle sich einmal vor, jemand stünde einfach so da und spräche in das Nichts hinein, um von einer anderen anwesenden Person nicht behelligt zu werden. Das wäre schon sehr sonderbar.

Der Mann am anderen Ende der Straße jedenfalls spricht immer noch vor sich hin. Ich habe mich dafür entschieden, dass er zu alt für ein Headset ist und also gerade nicht telefoniert. Es handelt sich um einen guten, alten Irren, einen vor sich hin brabbelnden Verrückten, einen Gestörten! Eh arm, aber ich freue mich gerade so, dass es noch tatsächlich Menschen gibt, die mit sich selbst sprechen und auch tatsächlich einen an der Waffel haben und nicht bloß irrtümlich für solche gehalten werden und man dann draufkommt, dass es sich eigentlich um Telefonierende handelt. Als die Ampel grün wird und wir beide die Straße überqueren, hat der verrückte seine zweifelhafte Natur gänzlich verloren. Ich würde ihn am liebsten in die Arme schließen und ihm danken, dass es noch solche wie ihn gibt.

In Zukunft aber werde ich wieder vor das Problem gestellt werden, mich für eine Interpretation entscheiden zu müssen, wenn ich vor sich hin sprechende Menschen sehe. Irre oder nicht? Telefonierer oder Wahnsinniger? Und ich werde mich wieder zu täuschen beginnen und Gesunde für Kranke halten oder umgekehrt. Denn schließlich, so sagte mal ein Königsberger Philosoph, richten sich die Objekte nach der Erkenntnis, und nicht die Erkenntnis nach den Objekten. Diese kopernikanische Wende habe ich nun auch für den Alltag geltend machen können. Darüber freue ich mich, denn von nun an wird meine Welt wieder von mehr Irren bevölkert werden. Und die sind so erfrischend anders!

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